Giro d’Italia 2006-6: Die großen Meeresbuchten im Schatten des Vesuvs [Telese Terme – Acciaroli]
Mafiöse Müllberge, Traum unter Zitronen, Mega-Keramik und eine Fußballschlacht
(20) Telese Terme – Maddaloni – Somma – Pompeji – Vico Equense – Sorrento
105 km | 620 Hm
Die Müllberge im Spiegel der Camorra
Um die neapolitanische Ebene zur Amalfi-Küste hin zu queren, gibt es kaum eine überzeugende Route. Hat man in Telese Terme noch ein paar erholsame Refugien, so beginnt in Maddaloni eine verstädterte Ebene mit stickigem Verkehr und dem allfälligem neapolitanischne Müllproblem. Wie mir ein deutscher Wirt in einer Bar erläutert, habe sich das Verkehrsproblem in den letzten Jahren schon deutlich verbessert. Es habe zahlreiche Inevstitionen in Autobahn und Umfahrungen gegeben, sodass innerstädtische Staus abgeschmolzen sind. Ich selbst entsinne mich noch des Jahres 1980, als wir mit Schulklasse Pompeji und Neapel besichtigten und der Busfahrer an der Einfahrt mit Schlagloch-übersäten Sandbuckelpisten in die Metropole verzweifelte. Kaum weniger günstig habe ich meinen Besuch mit eigenem Auto aus dem Jahre 1987 in Erinnerung.
„Das Müllproblem bekommen sie aber nicht in Griff“, meint der junge deutsche Aussteiger und erläutert mir das Korruptionsystem der Camorra. Die Camorra reißen sich die Müllentsorgung unter die Nägel und lassen dann die Müllberge wachsen, um ihr Erpressungspotenzial zu erhöhen. So wird mal in einigen Stadtteilen aufgeräumt, während woanders die Müllberge auf den Straßen verwehen. Wenn Müll nicht abgeholt wird, verbrennen viele Bewohner diesen selber, was zu einer erheblichen Luftverschmutzung führt. Das ist bereits weit außerhalb wie in Cusano zu merken, wo rauchige Luft die Täler füllt, obwohl man sich noch in einer ländlichen Bergregion befindet.
Überraschend ist aber auch hier, wie schnell man eine Oase findet – und sind es nur wenige Meter neben einer Truck-lastigen Staubstraße. Da pausiere ich in einem Hintergarten eines Cafés unweit Pompejis und fühle tiefe Erholung, der Lärm stark gedämpft und die Luft fast wie gereinigt. Es ist eben die Sonne des Südens, die hier manches erträglicher macht. Der Vesuv weckt die Erinnerungen an die letzten Tage von Pompeji, die Edward Bulwer in seinem Roman zu einem Leben in der Antike so eindrücklich erwachen lässt. Es weiten sich die Gedanken an alte Schulzietne, an die mehrfachen Besuche durch die Ruinen, deren Bewohner Höllenqualen erlebten, bevor die meisten dahinstarben. Diese Sonne des Südens, sie vergisst so schnell die Tragik. Die stete Wiedergeburt unter dem Vulkan lebt vom Augenblick. Eine kleine Oase lässt sich überall bauen. Auch wenn es nur Momente der Ruhe und freien Atmens sind.
Die Postkarte-Idylle wartet gleich um die Ecke
Verblüfft bin ich erneut schon einige Ecken weiter, wenn jenseits von Castellamare di Stabia die Küstenstraße mit traumhaften Blicke auf Felsküste das von Golf von Neapel umgarnt. Die Orte mit edlen Villen müssen sich weder rußigem Verkehrschaos erwehren, noch haben sie ein Müllproblem. Ob hier die reichen Bewohner einen mächtigen Einfluss auf die Kommunen haben oder einfach die Camorra besser bezahlt wird, vermag ich nicht zu sagen. Tatsächlich hat Bürgerfrust und Protest schon manche italienische Kommune zu Sauberstätten gemacht – sogar im tiefen Mezzogiorno. Ohnehin gilt das Nord-Südgefälle für viele Landstriche nicht in optischer Sicht. Manches fehlende Gewerbe hat auch Natur bewahrt. Ein Dilemma von Wohlstand. Oder wie er definiert ist. Die Probleme des Mezzogiorno kumulieren in den großen Agglomerationen und der Herrschaftsbereiche der mafiösen Clans, die aber längst nicht überall ihre Hand im Spiel haben oder auch nicht mehr.
Der Camping in Sorrento (15,50 €) ist eine verzückende Oase. Unter Zitronenbäumen fällt der Blick über das Meer zum imposanten Vesuv – fern aller lauten Geräusche, ein Idyll mit Meerrauschen, von Felsen umschlossen. Auf Treppen streift man rustikale Geländer, fast schon ein Balanceakt über dem Abgrund. Es ist wie es ist – es ist zum Träumen. Träumen unter gelben Zitronen.
Das Spiel der Spiele: Die Römer schlagen die Germanen
Nicht ganz ruhig aber bleibt es heute – ehr das Gegenteil. Im Camping-Restaurant sind mehr Stühle aufgestellt als für ein Diner möglich sind. Die Gäste drängen sich und starren in nur eine Richtung – die zum Fernseher. Zwei Fraktionen haben sich gebildet – Deutsche und Italiener. Die Stimmung ist emotional aufgeladen und es könnte schon Finale sein. Fröhliche Ausgelassenheit oder nerviger Lärm – es ist die Sicht des Betrachters. Die Küche ist geschlossen. Volle Gläser reichen. Später steigt ein Feuerwerk.
Ein Essen muss ich also außerhalb suchen. Nur wenige Restaurants sind heute abend betriebsbereit. Fußball ist überall. Dort, wo ich doch noch gute Fischspeisen finde, wird natürlich auch TV geschaut. Zu Ende spricht mir der Wirt sein Beileid aus. Deutschland hat verloren. Aber ich doch nicht! Das versteht der Wirt nicht. Sie sind hier alle fußballverrückt und patriotisch. Ein Nicht-Patriot ohne Fußballgene – ist das möglich? In Italien: NEIN!
(21) Sorrento (Ruhetag)
0 km | 0 Hm
Unweit des Campings hat das Meer Steinbögen und Höhlen geschaffen, ein Naturbad in der Bucht, von einem Felskessel umschlossen – das Bagni San Giovanni. So launig die Natur gewerkelt hat, so kunstvoll wird in Sorrent das Keramik-Handwerk gepflegt. Sorrent steht hier nicht allein, sondern Keramikkunst verteilt sich weit über die Amalfiküste hin bis zur Hochburg Vietri zur anderen Seite. In den vielen Läden mit originellen und filigran gearbeiteten Skulpturen und Motiven mischt sich aber weit mehr Keramikkunst aus Italien, so aus Capodimonte in Latium, aus dessen Produktion ich zwei Vögel erwerbe.
Zu den lokalen Spezialitäten zählen augenfällig Produkte aller Art aus Limonen. Sorrento gibt sich in vielen Winkeln idyllisch zu seiner Umgebung, doch wirkt Architektur und Leben auch ein mondän. Italien kann nie ohne Kultur sein – Hochkultur, so wie ein verschwiegener Kreuzgang mit Kunstausstellung eine besondere Oase bildet, in der abends klassische Festivalkonzerte stattfinden. In der Stadt finde ich wieder gutes Essen, der Fußballtrubel auch ohne Italiener auf dem Spielfeld immer noch groß. Der Vortag musste schließlich noch nachgefeiert werden. Aus dem Gewühl heraus schüttelt mir ein Italiener die Hand, erkennt mich auch ohne Radtaschen als Reiseradler und lobt die Radkonstruktion. Die Italiener sind eben auch radverrückt, nicht nur fußballverückt.
(22) Sorrento – Passo ? (470 m) – Positano – Amalfi – Vietri – Salerno – Spineta Nuova – Paestum – Agrópoli – Santa Maria di Castellabate – Acciaroli
153 km | 1310 Hm
Europas schillerndste Küstenstraße
Zu den Traumstraßen der Welt gezählt, darf die Amalfiküste diesen Titel sicherlich zu recht tragen. Ist der erste Anstieg noch schwierig, schlängelt sich die eigentliche Amalfiküste recht gekonnt am Fels entlang, um nur ab und an moderat abzufallen oder aufzusteigen. Indes sind die Orte so steil in die Küste gehauen, dass sie ohne Anstrengung nicht zugänglich sind – idealerweise über Treppen zu begehen. Letztlich bleibt der größte Reiz in dem Ausblick, der sich eben durch die gewundene Strecke immer wieder von allen Seiten ergibt. So sind auch die zahlreiche unzugänglichen Villen Teil des Gesamtbildes. In den engen Gassen der Orte werden die Ausblicke häufig verschluckt.
Auch wenn Stehlampen, Krüge und Riesenvasen kaum geeignete Ballast-Souvenirs für reisende Radler sein können, so lohnt doch ein Gang durch die Keramik-Boutiquen in Vietri. Der Einfallsreichtum an Formen, Farben und Funktionen für Keramikinterieur ist kaum beschreiblich und habe ich noch nirgendwo so vielfältig gesehen.
Das Becken von Salerno muss urban durchquert werden, als bedeutende Hafenstadt ein wenig romantischer Verkehrsknotenpunkt und Nadelöhr auf dem Weg von oder zur Amalfiküste. Bis Agrópoli reicht die Flachstrecke, welche dann fast unerwartet häufige Auf und Abs abgelösen. Der Clubcamping in Acciaroli überzeugt mit guten sanitären Anlagen und schönem eigenen Strand, Essen ist in der Okay-Klasse.