ALP-2020-10 Teil 2: Jurapark Aargau/Mittelland
Herbstliche Facetten aus dem Mittelland und der Zentralschweiz feat. Engelberg (Fortsetzung)
(1) Stuttgart 6:17 h || 8:25 h Singen 9:02 h || 9:41 h Waldshut – Zoll Koblenz – Leuggern – Mandach – Grünegg (550 m) – Hottwil – Bürersteig (550 m) – Mönthal – Ampfernhöhe (579 m) – Elfingen – Bözen – via Jungi Räbe/Bahnhofstraße – Zeihen – Krützlipass/Chillholz (649 m) – Thalheim – via Hofmatt/Rischelen – Staffelegg Parkplatz (660 m) – Staffelegg (621 m) – Aarau – Suhr – Gränichen – Teufenthal – Unterkulm – Böhler (612 m) – Schöftland – Schlossrued – Kirchrued – Schmiedrued – Bohler – Rickenbach (Nord) – Wetzwil – Buttenberg, Heiliger Wendelin (796 m)
93 km | 1810 Hm
Kleiner Streifzug durch eine alte Liebe – Jurapark Aargau
Dem Jura kann ich nicht begegnen ohne auch an die intensiven Erlebnisse in diesem manchmal immer noch vergessenen Höhenzug zu denken. Die Höhepunkte des Juras liegen sicherlich weiter südwestlich, auch in Frankreich, aber doch sind schon die äußersten Nordostzipfel des Juras eine liebliche Ouvertüre für ein jede Radreise. Eine (gleichwohl herbstliche) Schweizerische Jurapässetour beendete ich mal samt dem nordöstlichen Zipfel in Waldshut (Jura du Nord (Suisse)). Ein anderes Mal querte ich kurz das Staffelegg, um ebenfalls in die Urschweiz um Morgarten und Schwyz zu gelangen – allerdings zu österlicher Jahreszeit.
Kaum habe ich die Verkehrsachsen am Hochrhein verlassen, erwärmt sich mein Herz in diesen kleinen Dörfern wie Hettenschwil oder Mandach, mit den leicht geschwungenen Hügeln und den beschaulichen Bauernhäusern. Der Bürersteig mit weit gezeichneten Kurven fordert erstmals die Wadeln. Den Kühlturm am Hochrhein sehe ich nicht zum letzten Mal, noch zwei Tage später habe ich das Sichtfeld dahin noch nicht verlassen. Jura bedeutet ja eigentlich Zeit haben, Zeit nehmen, Zeit sein lassen – überhaupt der Umgang mit Zeit. Der Jura wurde nicht zufällig eine Hochburg der Uhrenindustrie – die Menschen dort müssen also wissen, was Zeit bedeutet, was sie wert ist.
Ein lukullisches Versprechen kündigt die „Genussstraße“ an. Sie verbindet derzeit 15 Restaurants, 18 Landwirte und Verarbeiter von Regionalprodukten, 9 Weinbaubetriebe sowie 4 Spezialitäten-Dorfläden im Jurapark Aargau. Indes muss ich mich auf den landschaftlichen Genuss beschränken. Auf der eher bescheidenen Ampfernhöhe treffe ich einen 78-jährigen Rennradler, eher 20 Jahre jünger aussehend. In seiner Familie ist keiner unter 80 Jahre, einer noch fit mit Hundert, sterben liegt nicht in seinen Genen. Alter ist mehr ein gesellschaftlicher Stempel – diese nicht selten verlogene Arroganz, mit der lebenserfahrene Menschen aus der Arbeitswelt ausgemustert werden.
Die vielleicht schönste Entdeckung der Jurapassage ist schlecht ausgeschildert. Hat man Oberzeihen erreicht, wähne ich mich fast in einer Sackgasse, einem verwunschenen Weltenende, das noch keiner als solches ausgerufen hat. Ein Brunnen plätschert das herbstliche Kastanienlied. Nach einer steileren Waldpassage mit recht kurzem Pistenintermezzo öffnen sich typische Nordjurahügel oben am Krützlipass (verbreiteter ist „Chillholz“, auch „Kilholz“) und mit weiter Sicht ins Mittelland jenseits der Aare. Die Alpenkette verschwimmt in der diesigen Sicht des Tages. Eine Piste führt noch weiter zur Ruine Schenkenberg, die man hier aber nicht sieht, sondern erst auf der Strecke von Thalheim zum Staffelegg bzw. dem noch darüber liegenden Staffelegg-Parkplatz. Der Hauptstraße ist der gegenüberliegende asphaltierte Fahrweg vorzuziehen, der die schönere Sicht auf Weinberge und Burg ermöglicht.
Stadt der malerischen Giebel – Tor ins Mittelland
Aaraus Blumenschau begeht der Betrachter als Hans-Guck-in-die-Luft. Die weiten Dachvorsprünge malen bunte Giebelzelte – nebst den großzügigen floralen Motiven auch mit szenischen Geschichten, die geschnitzte Skulpturen in den Dachbalken ergänzen. Tore, Nischen, Winkel, Schönes, Modisches, Spezialitäten, Cafés und Gasthäuser locken zum Flanieren und Rasten in der Stadt, die mit dem beschirmten Willkommenswinken die Gassen und Plätze zu wohnlichen Gewölbezimmern gestalten. Man muss aufpassen, nicht zu stolpern. Nur das Aareufer wirkt ein wenig spröde, zumal die alte Kettenbrücke nicht wiederaufgebaut wurde.
Das folgende Wynental streckt sich lange flach bis Unterkulm, wo ich zum Böhlerpass abzweige. Der Aufstieg windet sich gemäßigt über eine weite Triangelkurve. Schöftland lasse ich als Ort aus, nehme gleich die Auffahrt Rickenbach in Angriff, da sich langsam schon Dämmerlicht und Abendkälte ausbreitet. Die Abfolge der Orte ist recht simpel: In Schlossrued gibts ein Schloss, in Kirchrued gibts eine Kirche und in Schmiedrued? – ich muss überlegen. Ich tippe auf Schmiedekunst. Doch Hinweise dazu finde ich nicht. Vielleicht ist das Schmiedehandwerk nicht mehr rentabel und es war einmal ein Schmiedeort. Der Ort hat aber einen bekannten Sohn, einen Meister für einen besonderen Geschmack. das gehört aber zum nächsten Tag.
Mittlerweile in Dunkelheit, erreiche ich schon etwas mürbe den Ortsanfang von Rickenbach, das sich hinter dem breiten Buttenberg versteckt, und um den sich der Abzweig nach Wetzwil zieht. Die recherchierten Lorbeeren für das Wirtshaus Wetzwil bestätigt der lecker zubereitete Rehpfeffer mit Spätzle, vielen Gemüsen und glasierten Maronen. Allerdings bekomme ich nur noch mit etwas Glück einen Platz in dem beliebten das Lokal. Für das Nachtlager muss ich zuoberst auf den Buttenberg, der zwar von der Rickenbachseite gut anfahrbar ist, zur Wetzwiler Seite über eine kurze ausgewaschene Wegerampe aber etwas mühevoll.
(2) Buttenberg – Wetzwil – Sursee – Mauensee – Ettliswil – via Naturlehrweg/Rot – Wasserschloss Wyher – via Moos/Feld – Grosswangen-Huben – Ostergau – Willisau – Breite – via Nollentalstraße Ende/Tierheim-Hof (~720 m) – Wassermatt – Oberhüsli – Inner-Birchbühl (~810 m) – Buchwald – Rüediswil – Hofstatt – Grunholz/Kanzel (910 m) – Eriswil
50 km | 825 Hm
Verschwommenes Seenland mit Märchenschloss
Schon den Kühen auf dem Buttenberg fehlt die Begeisterung über den verregneten Morgen. Das Land getaucht in Nieselgischt, nur verschwommen erahne ich die Umrisse des Hallwilersees zur Rickenbacher Seite des Buttenbergs. Noch weniger ist vom Sempachersee zur Westseite zu erblicken. Das könnte auch am nur mäßigen Gefälle der Strecke liegen. Was man sehen könnte, bleibt aber spekulativ.
Sursee, daselbst nur Stadt und nicht See, aber vermutlich der frühere Name vom Sempachersee und am Abfluss der Suhre gelegen, versprüht selbst im Regen noch seinen Charme. Die Altstadtkulisse ist weder pompös noch kitschig, sondern fügt sich zu einem vielschichtigen, pittoresken Stadtbild, von der Theatergasse über das Rathaus bis hin zu idyllischen Winkeln beim alten Waschhaus. Der anliegende Diebenturm erinnert aber auch an Abgründiges, war zeitweise Gefängnis und im 16. und 17. Jahrhundert Ort von schändlichen Hexenprozessen. Interessant ist hier doch, dass Stefan Jäggi in einem wissenschaftlichen Beitrag zum „Luzerner Verfahren wegen Zauberei und Hexerei bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts“ (Zeitschrift für Geschichte 52/2002) feststellt, dass in keinem der Hexenprozesse in der Luzernregion die geistliche Obrigkeit an den Urteilen mitgewirkt hat, sondern es ausschließlich Sache der weltlichen Luzerner Gerichtsobrigkeit war. Dieser Gott-Teufel-Gegensatz ist also auch nur ein Klischee, hinter dem sich recht profane irdisch-menschliche Missgunst und Denunziation versteckt. Hat nicht das Corona-Virus mancherorten diese Abgründe wieder nach oben gespült?
Immer wieder tropft Nässe auf meine Objektive. Die Handschuhe sind trotz der Regenhüllen feucht geworden. Noch bis Mauensee trage ich Regenhose und die Überschuhe sind gegen das durch die Klickies eindringende Wasser weitgehend machtlos. Zum Trocknen gibt es kaum Gelegenheit, denn in Willisau überschüttet die nächste Regenfront für mehr als eine Stunde das Land. Auch wenn ausgesessen und gar ein paar Sonnenstrahlen das Willisauer Bergland noch erhellen sollten, sorgt eine süffige Regenabfahrt für den garstigen Abschluss des Tages.
Vom in die Neustadt von Sursee ausgelagerten Markt nehme ich noch aus der Region stammendes Maronenjoghurt mit. Ich liebe das Maronenaroma. Und die Schweiz liebt die Marone. Mehr aber prägen Walnussbäume das Mittelland. Und Schlösser. Am in Privatbesitz befindlichen Schloss Mauensee wollen die Herbstfarben kaum leuchten. Das macht nicht nur der triste Regenschleier. Viele Herbstblätter bleiben heuer recht farbarm, fallen auf braunen oder blassgelben Hintergrund mit schwarzen Flecken ab. Entweder liegt es an den Baumarten oder an dem Verlauf des Herbstes. Andere Bäume halten noch erstaunlich viel grünes Laub. Manche Herbstreise erlebte ich um die Zeit in den Alpen schon bunter.
Ein kleines Biotop, das Naturlehrgebiet Buchwald bei Ettiswil, leuchtet hingegen mit bunten Beeren, Regentropfen verwandeln sich zu kleinen Preziosen von Prismen. Aus dieser Umgebung heraus erwacht ein kleines Märchenschloss, das Wasserschloss Wyher. Nicht besser ist der Ort geeignet für Hochzeiten, wie auch an diesem Tag – offenbar eine Doppelhochzeit zweier Männerpaare.
Durch beschauliches Bauernland führt die Strecke hinüber zu einem weiteren Naturschutzgebiet, dem Ostergau. Kleinere Seen und Teiche bilden einen verschwiegenen Vorhof zur Stadt Willisau, die eine kleine urbane Insel in dieser dünn besiedelten Landidylle bildet.
Der Landgeruch dringt indes bis in die Stadt durch eine gerade laufende Kuhprämierung. Wie mir ein Biobauer am nächsten Tag erklärt, sollten solche Wettbewerbe abgeschafft werden, weil die Tiere für Stunden gezwungen sind pralle Euter auszuhalten. Wird die angefallene Milch nicht gemolken, bereitet es den Tieren Schmerzen.
Harte Ringe, Modern Jazz, liebliches Bergland
Willisau präsentiert seine Altstadtmeile zwischen zwei Stadttoren mit einer Flaggenparade, die das düstere Licht festlich aufhellen. Auch hier liegen manche malerischen Giebel über dem Betrachter, die Geschäfte schmücken sich mit kunstvollen Zunftzeichen. Es ist heute Sonderschautag der Fahrradläden mit besonderen Rabattangeboten. Aber ich habe ja ein „glückliches“ Velo.
In den Konditoreien locken die Willisauer Ringli meine Geschmackserinnerungen. Als härteste Kekse der Welt bezeichnet, aromatisiert mit Orange, Zitrone und einer geheimen Wahl von Gewürzen, sorgt das ausgehärtete Honig/Zucker-Teiggemisch für eine leicht herb-krokantige Süße am Gaumen, während die Zähne den Nussknacker üben müssen. Übrigens ein garantiert rüttelfester Proviant für Radreisende. Die mal mehr hell-, mal mehr dunkelbraunen Ringe glänzen unter einer manchmal milchigen Zuckerlasur. Nach der Rezeptlegende tüftelte der ursprünglich aus Schmiedrued (vgl. Vortag) stammende Bäcker Heinrich Maurer in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Willisau mit einem Ringli-Hausgebäck seiner Zweitfrau Martha Peyer und verlieh dem Gebäck seinen Namen, der zwar nie patentiert wurde, aber regional geschützt ist.
Die zweite WiIllisauer Institution meiner Erinnerung ist das Jazzfestival, das weltweite Anerkennung für die Präsentation von Modern Jazz genießt und von dem Grafiker Niklaus Troxler gegründet wurde. Ich verfolgte es immer ausgiebig im Schweizer Radio DRS, kam aber nie dazu, das Festival zu besuchen – im Gegensatz zu Bern und Montreux. Spuren des Festivals, das regulär im Spätsommer stattfindet, kann ich aber nicht finden. Die Absage des Festivals in diesem Jahr wegen der nicht erfüllbaren Corona-Auflagen hat sicherlich das Musikgedächtnis der Stadt geschwächt. Kultur schmückt, aber sie bleibt ein Spielball im Kampf um die Prioritäten des Lebens. Corona hat die Werteskala der Gesellschaften nochmal verdeutlicht – Kultur gilt im Zweifel nichts. Vielleicht hätte ich beim Besuch des Instrumentenmuseums mehr Hintergründe erfahren, wenngleich die Sammlung historische Instrumente fokussiert. Doch wollte ich alsbald die Regenpause nutzen um weiterzuziehen. Radnomaden sind ja auch immer etwas kulturlos in ihrer Rastlosikeit und den schnöden Bedürfnissen an Hunger, Durst und Wetter. Zu oft zur falschen Zeit am richtigen Ort.
Noch ein Museum wartet als Kuriosum etwas außerhalb. Ein Flaschenmuseum wendet sich an Flaschensammler, die ein jeder hier über eine Klappe spenden kann. Im Nollental folge ich dem Haupttal bis zum unerwarteten Ende der Straße an einem Tierheim. Ich hatte den rechten Abzweig verpasst, weil die von mir notierten Wegepunkte nicht ausgeschildert sind. Schließlich wähle ich eine Überfahrt über Inner-Birchbühl, mit einer sehr steilen Rampe zur Auffahrtsseite und eine schottrige Piste zur anderen hinunter. Den eigentlich angestrebten Übergang via Bösegg lasse ich dabei nördlich liegen, wenngleich auf dieser Zufallsroute das Willisauer Bergland sehr hübsch in eine goldene Szenerie taucht. Also doch noch leuchtende Herbstfarben!
Automaten mit Regionalprodukten wie Käse, Joghurt, Fleisch und mehr sind in der Schweiz mittlerweile sehr verbreitet. In manchen Orten ersetzen sie Dorfläden, deren Betrieb in einem Hochlohnland nicht mehr rentabel scheint. In Corona-Zeiten gewinnen die Automaten noch mehr Gewicht. Doch kann die anonymisierte Warenwelt den Dorfplausch ersetzen, ein tägliches miteinander, die ungeplante Kommunikation? Auch billiger werden die Lebensmittel nicht – die Roboter verlangen ihren eigenen Betriebspreis, verlagern die Rendite vom Hof zum Programmierer und halten auch kein Leben lang. Wie ersetzlich ist der Mensch? Wie ersetzlich darf er werden?
Vom Bauernautomaten in Rüdiswil ist es nicht weit bis Hofstatt, wo die Überfahrt nach Eriswil wartet. Während die Regenfront das Land zunehmend ertränkt, zeichnen im Westen einzelstehende Bäume auf einem Grat ein Charakterbild der Horizonte im Napfbergland. Es ist bereits die Panoramaschablone für den nächsten Morgenritt. In Eriswil hat nur einer von drei Gasthöfen geöffnet, für Corona-Regeln eigentlich zu voll. Doch quälen mich andere Sorgen – Hunger, nasse Kleidung und ein geeignetes Nachtlager. Das Gespräch am Stammtisch des Gasthofs Alpen mit den Einheimischen stockt – Sprache und Kultur sind eben sehr eigen und regional begrenzt, ich bleibe ein Fremder. Das geduldige Warten zahlt sich dennoch aus, weil der Regen am späten Abend aufhört und gar meine Wärmeschild-Legging getrocknet ist. Die Pizza Carpaccio darf ich als gut und ordentlich bewerten.
(3) Eriswil – Fritzeflue (929 m) – Wasen – Sparenegg (1054 m) – Lüderenalp (1144 m) – Bärau – Langnau – Schüpbach – Eggiwil – Röthenbach – Süderen – Schallenbergpass (1167 m) – Schangnau – Marbach – Wiggen – Escholtzmatt – Schwändeln
82 km | 1410 Hm
Entschleunigte Horizontverschiebungen
Jeder Blick ist ähnlich und doch ein eigener Moment, eine neue Sicht. Das ist die Essenz über Fritzeflue (auch „Fritzenfluh“) und Lüderenalp, zwei radlerische Höhepunkte im Napfgebiet. Der Blick fällt hier nicht selten auf die wellenförmigen Horizonte, auf denen einzelnen Bäumen Ehren- oder Wachplätze verliehen sind. Im Tal sammeln sich mal die aufsteigenden Wolken des frühen Morgens, dann weiten sich grüne Weiden im milden Sonnenlicht. Gülden schimmert das herbstliche Blattwerk, verdichtet sich zu poetisch gestimmter Malerei.
Die Natur erfand ohnehin wohl einst die Kunst, der Mensch versucht sich nur an Plagiaten. Schwungvoll winden sich die Kurven zu Tal. Im Süden der Lüderenalp zwängt sich die Straße eng in den Berg, schleicht lustvoll durch unterschiedliche Vegetation – mal im Schatten, mal im Lichte. Weiter unten zieren blumenreich beschmückte Bauernhäuser die Berghänge und erinnern an Schwarzwaldromantik.
Almtypische Landschaften prägen jeweils mehr die Südseiten von Lüderenalp und Fritzeflue. Auf der Nordseite des Fritzeflue schaut man am Waldrand von einem Aussichtsrestaurant weit hin bis zum Hochrhein, erkennbar am dampfenden Kühlturm des Leibstädter Atomkraftwerks. Die Einkehr auf der Lüderenalp blickt hingegen nach Süden, hat aber offensichtlich geschlossen. Beide Übergänge haben je eine Besonderheit. Am Fritzeflue wechselt man die Seiten durch einen kurzen Scheiteltunnel. Die Südrampe der Lüderenalp ist hingegen wegen einiger Engstellen nur blockweise für Autos zu befahren, zu den Verkehrszeiten des Postbusses per ausgewiesener Schilder in Gegenrichtung gesperrt. Radler dürfen aber jederzeit durch, gewiss unter Beachtung gehobener Vorsicht. Manche Kurve ist unübersichtlich, der Belag auch mal holprig. Die offizielle, autofreie Radroute verläuft zur westlichen Talseite, ist aber zumindest im oberen Teil nicht asphaltiert.
Mit Langnau erreiche ich etwas irreführend das Emmental, weil eigentlich an der Ilfis gelegen, die aber wenig weiter westlich in die Emme mündet. Das Emmental bezeichnet aber auch die Nebentäler der (Großen) Emme. Die verkehrsreiche N10 ist nur ein kurzes Intervall, bis ich bei Schüpbach wieder ländlich geprägt der oberen Emme folge. Auf einer Radroute kann man die N10 auch umfahren, aber etwas umständlich mit Zusatzberg.
Weiter im Emmental, aber ab Eggiwil dem Röthenbach folgend, beschreibt die Landschaft eine dünn besiedelte Hochebene, die erst in Süderen mit dem Anstieg zum Schallenbergpass gebrochen wird. Hier wächst im Westen die Stockhornkette des Berner Oberlandes majestätisch hervor.
Gastfreundschaft im Entlebucher Bauernhaus
Mit Erreichen des Schallenbergpasses fällt ungetrübt der Blick nach Osten auf die exponierte Schrattenfluh, die schon im Emmental bei Eggiwil einen vorübergehenden Blickfang bildet. Das ist nun große alpine Bergwelt, die einen herben Kontrast zu dem sonst noch mittelländisch geprägten Bergland bildet. In der Topografie komplex, durchwandert die Schallenbergstraße bei Schangnau das obere Emmental, um alsbald über eine Kuppe in das Ilfistal zu wechseln. Zwischen Ilfis und Kleiner Emme verläuft bei Escholtzmatt nochmals eine ziemlich unscheinbare Wasserscheide. So wird das Entlebuch einerseits nach Westen über Ilfis und Große Emme entwässert, anderseits aber auch nach Osten über die Kleine Emme und Reuss. Beide Wasserwege führen letztlich zu Aare und Rhein. Das Ilfistal hatte ich ja für den Umweg über den Schallenbergpass bei Langnau verlassen.
Unter das tiefe Dauergrau des Nachmittags mischte sich bald die Dämmerung. Ich stieß dabei auf einen Rennradler, der sich für meine Tour interessierte und in einem Ortsteil von Escholtzmatt wohnt. Beat bietet mir spontan Kost und Logis bei seiner Familie in einem alten, aber modernisierten Bauernhaus an. Als Ökobauer betreibt er Viehwirtschaft im Nebenerwerb, erledigt zudem bürokratische Papierarbeiten für andere Bauern. Er berichtet, dass sich die Umstellung auf Biolandwirtschaft gelohnt hat. Er sei froh, diesen Schritt bereits vor ca. 20 Jahren gegangen zu sein. Sein Engagement gilt vor allem hochqualitativem Fleisch mehr Wertschätzung zu verleihen. Das gute Fleisch ist gleichzeitig an eine tierwohlgerechte Haltung gekoppelt. Ein Ort für glückliche Kühe also.
Dass hohe Qualitätspreise auch auf eine Akzeptanzgrenze in Gesellschaften mit sich verschärfendem Einkommensgefälle treffen, war ein Diskussionsthema. Die lebensmittelgerechten Fragen und fairen Bauernpreise können nicht von der sozialen Frage aller Menschen entkoppelt werden. Sonst droht dem guten Produkt das Schicksal der massenuntauglichen Eliteernährung und den Armen eine moralische Stigmatisierung für fehlendes Bewusstsein für Qualität und Nachhaltigkeit. Eine zukunftsweisende Nachhaltigkeit braucht die Masse, um zu wirken – glückselige Inseln gibt es hingegen schon lange. So kam ich noch zu angeregten Gesprächen in geselliger Familienrunde, dem Genuss von Raclette und einer trockenen Nacht im Bett, da draußen die einzige Regennacht meiner Reise sich bedenklich nahe der Schneefallgrenze austobte.