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Sgraffiti-Perlen, Bähnliromantik, Modern Art und glaziale Urwelt: Vom Albulatal durchs Oberengadin zu den Bernina-Alpen
Das Oberengadin – nicht ganz eisfreie Ansichten mit Überraschungen
Der Gast ist nicht immer König
In Oberengadin teilt der Inn mit seinem blauen Band die schlauchartige breite Hochebene. Fluss wie Straße zeichnen eine gerade Linie wie vom Lineal gezogen. Für mein Ziel eines Ortes mit Radwerkstatt, die ich gewiss erst am nächsten Morgen besuchen kann, eignen sich scheinbar alle Orte. Die Professionalität steigt allerdings in fortführender Kette: In La Punt Chamues gibts einen Radverleiher mit Werkstattservice, in Beever hat es einen sehr kleinen Radladen mit arg beschränktem Sortiment, in Samedan wartet ein städtisch anmutender Für-alles-Radladen in der Fußgängerzone und in Celerina weist der Radladen am westlichen Ortsrand die wohl größte Ladenfläche mit einem weit gespreizten Sortiment für verschiedene Velotypen aus.
Grand Tour of Switzerland ist eine noch junge, erst 2015 lancierte Ferienstraße durch die Schweiz nach dem Vorbild Route 66, die wesentliche Sehenswürdigkeiten des Alpenlandes verbinden und Individualtouristen mit Auto oder Motorrad vermehrt anlocken soll. Kennzeichen sind u. a. eine einheitliche Ausschilderung, ein gut augebautes Ladenetz für E-Fahrzeug und Fotohotspots, die durch gerahmte Ausblicke auf die Top-Sehenswürdigkeiten aufmerksam machen sollen. Die Straße führt auch in sensible Hochgebirgsregionen bis hin zu bereits überlaufenen Hotspots. Das Projekt ist durchaus umstritten und scheint nicht mehr in die heutige Zeit zu passen. Ungeachtet dessen werden die Fotohotspots weiter ausgebaut, derer es zurzeit um die 50 Stück gibt. Als Inspirationsquelle könnte die Route aber auch Radlern dienen.
Ich versuche trotz fehlender größerer Gänge noch Strecke zu fahren. Während in La Punt Chamues-ch (ein Doppelort zu beiden Seiten des Inns) einige einladende Esslokalitäten locken, scheint Beever ganz verschlafen. Dann wirbt doch noch westlich eine neue Lodge in modernem Holzbaustil als fahrradfreundliche Herberge mit Restaurant. Zwar sind noch zahlreiche Plätze frei, doch der Kellner nötigt mich zu warten. Der Chef müsse entscheiden, ob ich noch einen Platz bekommen könne. Nach mehrfachem Hin-und-Her und über 20 Minuten des Wartens weist mich der Kellner ab. Es sei zu viel Betrieb. Keiner der Gäste des „radfreundlichen“ Betriebs scheint Radfahrer zu sein. Der echte Radler muss gehen. Das Marketing passt nicht zum Serviceverhalten. Schlechte Noten für den Bluff.
So muss ich mich weiter bis ins größere Samedan durchschlagen. Eigentlich keine schlechte Wahl, aber doch eher ungünstig für die Nacht. Ich steige weit hoch hinauf hinter dem Ort, um in der steilen Berglage eine Nische für das Zelt zu finden. In die Innaue möchte ich schon wegen der Feuchte nicht, trotz Campingplatz nahebei. Im Zentrum finde ich mit dem Hotel/Restaurant „Central“ eine gemütliche Gaststätte mit selbstgemachter Pasta. Die servierten Ravioli Valtellina werden aber der versprochenen Qualität nur bedingt gerecht – zu teigig bei wenig Füllung, fade abgeschmeckt und recht sparsam auf dem Teller dekoriert, mit einem Glas Rotwein gute 30 SFR, nicht unbedingt ein Schnäppchen für fleischlose Vorspeisenkost als Hauptgang – nicht einmal in der Schweiz. Etwas mehr Mühe für den Gast wäre nicht verkehrt.
Bekannte und weniger bekannte Spezialitäten aus Graubünden: Spezialbiere aus Pontresina, Bündner Trockenfleisch (mit Ravioli), Capuns (mit Spätzleteig und Schinken oder Trockenfleisch gefüllte und mit Käse überbackene Mangoldblätter in Brühe-Milch-Sud), Totenbeinli (Nussstängeli, ursprünglich aus Graubünden, heute Schweiz-weit bekannt), Engadinertorte (nicht mit Engadiner Nusstorte zu verwechseln, hier Minivariante neben Mürbekuchen), Bergkäse und Joghurt aus Klosters und Davos
(v.l.n.r, v.o.n.u.)
Di 21.7. Samedan (1705 m) – Celerina – via Waldpiste – Choma Sur (1821 m) – Lej da Staz (1809 m, Stazersee) – Choma Sur – via Waldpiste – Pontresina (1775, Bahnhof) – Abzweig Morteratsch/Camping – Station Morteratsch – via Piste – Vadret da Morteratsch (2010 m) – Station Morteratsch – Abzweig Morteratsch/Camping (1889 m) – Bernina-Pass (2330 m) – Dogana (2054 m) – Forcola di Livigno (2315 m) – Livigno/Lago di Livigno (Santa Maria, 1805 m)
66 km | 1210 Hm
Das Velo-Wunder von Samedan
Auch wenn ich etwas verlegen war ob der Platzsuche für mein Zelt, gebetet hatte ich eigentlich nicht. Der Morgen ist fast wie erwartet: Nebel beschirmt die Innaue und Samedan lugt nur zaghaft aus der Zuckerwatte hervor. Feucht ist es auch hier oben, aber die Sonne kommt früher als unten. Fern der Horizont des Oberengadins, Bergketten mit Schneegipfeln.
Eigentlich habe ich Glück, der Radladen in Samedan öffnete bereits um acht Uhr, früher als die Konkurrenz in Celerina. Radhändler wollen wohl verkaufen, doch Corona lockte auch mehr Radler aus der Reserve, die noch Reparaturgurken in der Garage haben. Und gleich der erste Kunde will schon wieder so eine zähe, wenig gewinnbringende Reparatur. Auch noch Schaltung! „Fahren sie nach Celerina, da wird Ihnen geholfen. Ich habe keine Zeit“, entgegnet mir der Radhändler mit leicht verschmitztem Ton.
„Na gut, das liegt auch noch auf der Route, und es klingt so, als wäre da ein Profi in Celerina“, denke ich mir und radle weiter auf dem Lineal.
Mal kurz einen Schaltversuch. Nanu, da springt die Kette auf den mittleren Zahnkranz. Und auf den Großen? – Jepp, auch – Huiii! Hoiaaa! Hurraaa! – Nochmal und nochmal und nochmal und Hurras und… – Wer hat jetzt in der Nacht am Rad geschraubt? Die Nacht war saukalt, unter 4 °C. Da schütteln sich doch selbst die Heinzelmännchen. Verzieht sich da der Schaltzug so, dass er sich selbst repariert? Oder wirkte das Öl vom Bergüner Sportverkäufer erst mit Verzögerung? – Oder ist doch hier irgendwas im Gange, das von höheren Mächten bestimmt wird?
Ich entscheide mich für außerirdische Wunderheilung, bleibe aber misstrauisch. Deswegen steuere ich doch noch „Alpine Bike“ an, obwohl ich bis zur Ladenöffnung etwas warten muss. Auch hier bin ich als erster Kunde eher eine Last. Der Laden wird von einem Ehepaar geführt, das Telefon klingelt fortwährend. Ob man mir hier geholfen hätte? Ich versuche mit der Händlerin zu erörtern, was die Ursache meiner Schaltprobleme sein könnte. Naja, es geht ja wieder, also hat sie wenig Interesse. Verächtlich kommentiert sie den Hinweis ihres Kollegen in Samedan entgegen. „Zu faul sei der“, und deutete an, dass im Falle des Falles wohl keine Kapazitäten frei gewesen wären. Auch hier dürfte aber der Mann der Mechaniker sein. Der steht bald unten vor dem Laden hat gleich eine Armada von Radlern um sich, die alle defekte Räder haben. Da wollte ich mit meiner außerirdischen Wunderheilung nicht weiter stören.
Der Fahrradboom schlägt um sich. Schon der erste Radhändler in Mels hatte es mir gesagt, Radboom durch Corona auch in der Schweiz extrem, obwohl schon zuvor Veloland. Die Frau hier meint, es sei die Hölle. Nun gut, ich war jetzt ja ein Kunde weniger, also ein Stück weniger Hölle. Ich zeige mich solidarisch und kaufe mir sehr angenehme Radhandschuhe. Sie sind recht teuer und sicherlich hätte ich sie in Deutschland günstiger bekommen. Aber es zählt der Moment des Gefallens. Ein bisschen muss ich mich ja für das Wunder belohnen, vielleicht war ich unbewusst daran beteiligt. Und für meine lädierte Hand sollte jedes Wohlgefühl mir recht sein.
Warmbadetag bei mondänen Moorgeistern
Wohlgefühl? Vielleicht im Moor? – Der Himmel verdüstert sich schnell. Ich schlage den Radweg Richtung Pontresina ein. Zum Glück halten mich die Blicke zur burgähnlichen Kirche San Gian auf. Daher bemerke ich eine Rad- und Gehwegbrücke, die von der etwas langweiligen Pontresina-Radwegtrasse neben der Straße wegführt. Das Ziel mit See klingt vielversprechend, Pontresina so auf kleinem Umweg auch zu erreichen.
Der Stazer See ist ein Kleinod in unmittelbarer Schlagweite von St. Moritz. Die Zufahrt führt über einen kleinen Waldsattel mit für saure Moorböden typischer Vegetation wie Kiefern, Blaubeeren und Wollgras. Allseits einfache Pisten für Wanderer und Radler bringen nicht wenige Besucher zu dem Moorsee mit Badestellen und Ausflugslokal. Obwohl absehbar, dass der Tag kein Strahletag werden wird, sind schon erste Badende am freien Strandbad und zwei weiteren Stegen, die es zum Einstieg neben den Naturzonen gibt. Das Wasser ist für die Höhe des Sees erstaunlich warm – eben ein Moorsee. Da will ich auch mal kurz eintauchen. Herrlich!
Vias d’Art – oder doch lieber Engadinertorte?
Die 300 Jahre alte Punt Ota, Wappenbrücke Pontresinas, führt an einem Bikepark vorbei hinüber zur internationalen Einkaufsmeile des Ortes, wo sich Modernes mit traditionellen Engadinerhäusern mischt. Überraschendes zeigt sich beim genauen Hinschauen mit Publikationen zur Schönheit, wie das Motto zur Vias d’Art/Kunstwege Pontresina 2020 lautet. Zum fünften Mal findet die Open-Air-Kultur statt, doch noch nie war sie so vorausschauend und passend dem Zeitgeschehen angemessen.
Kunstwege/Vias d’Art Pontresina 2020: 24 Objekte von 14 Künstlerinnen und Künstlern aus Graubünden und der Romandie kann der Besucher auf 1,6 km auf Corona-konforme Weise begutachten bzw. sich auf kontroverse Ansichten über Schönheit einlassen. Ob „Gletscherspiegel“, „1000 Mäuse“, der blaue Himmel von Pontresina, das Anagramm vom Hotel Post als „Last Poet“ oder das Insektenhotel „Hotel Drama“ (Bild) als Ausdruck einer widersprüchlichen Beziehung zwischen Natur und Tourismus reflektieren Ort und Region mal in ihrer historischen, mal in neuen, auch ungewohnten diskursiven Kontexten.
Ohne Widersprüche bleiben die Geschmacksknospen beim Genuss der Spezialitäten aus Kochendörfers Bäckerei und Konditorei, die heute bereits in vierter Generation geführt wird. Das ist die Pionieradresse für die Engadiner Torte (nicht zu verwechseln mit Engadiner bzw. Bündner Nusstorte!) und jünger noch, die Steinbocktorte, beides saftige, mit Schnaps getränkte Mürbeteige, die von feiner Crèmeschicht liebkost werden und einen krokantigen Kontrast mit dem abschließenden Florentinerdeckel eingehen. Erstere basiert auf Mandelbasiszutaten, dem Steinbock ist die Haselnussvariante zugedacht. Die Rückkehr des Steinbocks bis ins Dorf hinein inspirierte die Kochendörfers zu einer neuen Kreation.
Kein prima Klima – wie rettet man glaziale Urwelten?
Die Ausblicke von der Berninapassstraße auf den Morteratschgletscher sind mir bereits recht vertraut. Das Ziel war diesmal näher ranzufahren. Noch bevor die Ausgucke erreicht sind, zweigt die Zufahrt zur Bahnstation und dem dort beginnenden Gletscherweg ab. Zwar endet die Straße bei der Bahnstation mit Hotel, Restaurant und Kiosk, doch der Weg zur Gletscherzunge ist gut mit Velo befahrbar. Mit dem Weg kann man auch in literarische Geschichten eintauchen, die Audiostelen bzw. App vermitteln, auch im Web als LiteraTOUR Morteratsch zu finden. Die Stelen halten ferner Informationen zum Gletscher, der Berggeschichte um Pontresina und den Bernina-Alpen bereit.
Indes bröckelt die glaziale Urwelt dahin, nicht zuletzt im Zeichen des Klimawandels. Der Rückzug der Gletscherzunge lässt für den Betrachter von nah mehr Geröll zurück als strahlendes Eisweiß. Zahlreiche Jahresmarken zur zeitweiligen Grenze der Gletscherzunge informieren über den Aderlass in mehr als 100 Jahren. Allein im Jahre 2015 verlor der Gletscher acht Meter Dicke.
Der Glaziologe Felix Keller initiierte vor fünf Jahren eine visionäre Rettungsaktion mit einem Beschneiungsprojekt. Mittlerweile hat er die nötigen Sponsorengeld von 4,5 Mio. Franken fast zusammen (davon verbraucht allein das Pilotprojekt 2,5 Mio. Franken), wartet aber noch auf eine Genehmigung für das kühne Vorhaben. Eine riesige künstliche Schneedecke im Mittelgletscher soll die Gletscherschmelze zunächst verlangsamen und sogar später stoppen können. Über den aktuellen Stand unterrichtete u. a. Sabrina Weiss in der NZZ: Wie ein Schweizer Forscher versucht, den Morteratschgletscher zu retten.
Warum weinst du, Gletscher?
Fritz Gillinger, Autor u. a. der Texte der Infostelen
Ist es die Traurigkeit des Abschieds, die dich übermannt?
Weil du doch ständig unterwegs bist?
Fort von dem kalten Ort, der dich nährt.
Unbeirrbar abwärts dorthin, wo du dich verwandelst.
Oder sind es Gletscherfreudentränen über das neue Leben, das du damit schaffst?
Der Klimawandel hat heute kleine Pause und ich muss die Besichtigungstour mit Gänsehaut fröstelnd überstürzt abbrechen, drohen doch die dunklen Wolken und erste Tropfen mit Donnergrollen mit einem schweren Gewitter über den Bergriesen des Morteratschs. Ich denke, ob es der Zorn des Gletschers sein könnte, der sich über das mörderische Menschentun wütend erregt, da diese Wesen auch noch heucheln, indem sie die sterbende Kulisse bewundern, nur unweit der Parkplätze mit ihren Abgaskisten, die die todbringenden Klimagase üppig verpusten?
So ernst meint es der Gletscher und seine Wolkenkrone dann doch nicht, mehr wanken seine Gefühle fortan hin und her, mal ein kleiner Schauer, dann wieder ein Rückzug, ein Sonnenstrahl, sogar ein Regenbogen. Auf der Tour zur Passhöhe spüre ich die Steigung stärker als ich sie in meiner Erinnerung abgelegt hatte. Anderseits empfinde sich das Schauspiel der Bergarena prächtiger als zurückgedacht. Ein Wiederleben ist auch immer ein Neuerleben. Mit der Passhöhe habe ich noch nicht den Tag beendet, aber doch das Kapitel. Es wartet Italien und eine neue Gebirgsgruppe, die Livigno-Alpen.
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