ALP-2021-TdS-16
Die entschleunigte Westtangente des Berner Oberlands mit Stockental, Simmental und Gastlosen
Gastlich im Gastlosental
Der Regen bleibt zögerlich und ich kann zur Passhöhe dann doch schnell aufsteigen. Da gibts wieder kostenlose Toiletten trotz Gasthof daneben und auch wieder freundliche Menschen. Der Campingplatz auf der Passhöhe ist gut besucht, weil ein Festival ansteht. Nichts Spezielles, wie mir jemand erzählt, einfach ein Festival mit Spaß, Spiel, Speis und Trank. Noch vor dem Ortskern von Jaun zweigt die Gastlosentour ab. Ganz ohne Gäste ist das Tal nicht wie der Name nahelegen könnte, allerdings sind es eher wenige. Ein bisschen Weltenende schwingt schon mit, gewiss auch wieder ein schönes. Der Name „Gastlosen“ bezieht sich auf die markante Berggruppe, die man eigentlich am besten auf der Abfahrt vom Jaunpass sieht. Nicht ganz unzutreffend bezeichnet man die Bergkette auch als Saanenländer Dolomiten.
Das Tal zum Mittelbergpass gewinnt bei mir dann einen Favoritenstatus, zumindest unter dem Pässetriangel Euschel, Gurnigel, Jaun und Mittelberg. Wildromantisch entwickelt sich aus der Almweide ein bewaldetes Tal mit dichtem Wuchs, nahe am rauschenden Bergbach, mit abrechenden Lehmwänden, über die Kaskaden gleiten und sprudeln. Noch bevor man zum Dorfkern von Abländschen – schon wieder so ein komischer Name – abzweigen kann, empfängt mich das noch im frischen Holz funkelnde Restaurant „Zitbödeli“. Auch hier gibt es übrigens freundliche Menschen, die mir helfen wollen, wo ich das Zelt aufstellen könnte. Mitten in der Einöde gibt es sogar eine öffentlich zugängliche Toilette. Gastlosen ist gastfreundlich.
(Mi, 28.7.) Abländschen (Tal) – Abländschen (Dorf) – Mittelbergpass (1632 m) – via Grischbachtal – Unterbort (Saanen) – Schönried – Saanenmöser (1273 m) – Zweisimmen – Mannried – Grubenwald – Meiebergalp/Gestelenpass (1851 m) – Narrenbach – via Diemtigtal – Wasserbrügg – Wampflen – Horboden – Diemtigen-Oey – Wimmis
70 km | 1715 Hm
Zum Dorfkern lohnt sich der Abzweig von der Passstraße kaum. Eigentlich gibt es keinen solchen Dorfkern, ein paar Häuser, eine kleine Dorfkirche und noch ein Berghotel, das sich „Zur Sau“ nennt. Geworben wird mit „abländschen im Nichts“, einem Willkommen am Ende der Welt. Ob hinter dem Hotel oder der Kirche – dahinter gibts nichts außer Bergwelt und Natur. Das Hotel offeriert entsprechend Angebote zum Nichtstun, zum Ein-bisschen-was-tun und Aktiv-Angebote ohne „Ghetz und Gjufel“. Ganz billig ist das Understatement aber nicht. Um den Namen des Hotels erklärt zu bekommen, gibts ein Buch für 50 SFr, ein Einzelzimmer im günstigsten Fall ab 140 SFr, jedes niedrigschwellige Faulenzangebot kostet natürlich extra. Aus einer Perle des Nichts Geld zu machen ist auch eine Kunst. Die Habgier macht eben auch nicht vor dem Paradies halt.
Nunmehr setzen sich mehr Wiesen mit Bergblumen in Szene, weitere Angebote von lokalen Bauernprodukten, gekühlte Getränke stehen im Brunnen – clever und nachhaltig. Die Passhöhe ist unauffällig, zu einer bewirteten Berghütte muss man noch weiter aufwärts wandern. Die Talfahrt kann es mit der Nordseite durchaus aufnehmen, noch berauschender ist der Flug am Bergbach entlang, die Felskante nahe zur Fahrbahn. Im unteren Bereich gibt es einen kleinen Gegenanstieg, weil der Bergbach nach Rougemont ausfließt, nach Saanen man hingegen das Tal verlässt.
Gefährliche Rinder sind ein friedliches Publikum
Auf die Straße zum Saanenmöser trifft man bereits oberhalb der Talsohle, der renommierte Luxus- und Festivalort Gstaad bleibt schon etwas entfernt zurück. Die Saanenmöserstraße ist eher eine Pflichtübung mit recht starkem Verkehr, erlaubt aber ein ziemlich schnelles Vorankommen. Da ich noch auf einen amerikanischen Bikepacker stoße, lasse ich mich zu noch mehr Tempo verleiten. Ich hatte längst vergessen, dass ich eigentlich die alte Saanenmöser Straße fahren wollte, die wohl einige Zeit mehr erfordert hätte. In Zweisimmen dann verpflichtender Verpflegungsstopp am Supermarkt und ich verabschiede mich vom Amerikaner.
Dem nächsten Berg fiebere ich mit ein paar Unbekannten entgegen. Schon die unterste Anfahrt zum Gestelenpass ist mangels klarer Ausschilderung etwas schwierig zu finden. Der reguläre Abzweig befindet sich allerdings in Grubenwald, ein Dorf weiter als Mannried, wo ich bereits den Anstieg suche. Nunmehr hatte sich die vorübergehende Eintrübung verzogen und die Abendsonne tränkt die Auffahrt in eine sommerwarme Wohlfühloase. Der motorisierte Verkehr muss für die Strecke eine Maut entrichten – das Interesse ist aber erfreulich gering. So sind es wohl nur eine Handvoll Anlieger und auch nicht mehr Radler, denen ich begegne. Die Aussicht ins Simmental wird mal von Waldpassagen bisweilen unterbrochen, später wendet sich der Pass ganz ab in das hinterliegende Bergland.
Die Unbekannte bezüglich des Belags erweist sich als geringes, vernachlässigbares Übel. Die Schotterpassagen sind kurz und von fast asphaltgleicher Geschmeidigkeit. Anders stellen sich die Steigungen auf, die bevorzugt im zweistelligen Bereich liegen und wohl auch mal die 15 % überschreiten. Die liebliche Almlandschaft löst aber ein jauchzendes Verzücken aus und lässt manchen Schweißtropfen schnell vergessen. Tückisch erreicht man den Schlussbogen bei einem Bauernhof über eine tiefe Talmulde, sodass nochmals zusätzliche Höhenmeter entstehen. Der Bauernhof warnt ausdrücklich vor gefährlichen Rindern, die allerdings ob des sich quälenden Radlers eher grübelnd und mitleidig das Spalier bilden. Zur Besonderheit des Namens sei gesagt, dass der alternative Passname Meieberg bzw. Meiebergalm ohne „n“ geschrieben, was zuweilen falsch geschrieben wird.
Gasthäuser ohne Sättigungsfaktor
Den Seebergsee kann man von der Passstraße nicht sehen, es gibt aber eine umwegige Zufahrt. Diesen schlage ich allerdings aus, da sich bereits erstes Dämmerlicht in die Talschlucht des Narrenbachs legt. Hier verzückt mich eine schluchtartige, schroffe Felsenwelt, die ich nur halsverrenkend bis in die Gipfelspitzen betrachten kann. Anders als zur sonnigen, bergbachfreien Auffahrtsseite, kühlt hier der Schattenwurf die Strecke zusätzlich zum rauschenden Bergbach. So treiben die gesteigerten Endorphine schnell hinunter zu den dann abflachenden Almwiesen. Alsbald vereint sich das Tal mit dem breiteren Diemtigtal, das nach Süden eine Sackgasse mit Bergbahnen und Hotels bildet.
Wenig später bin ich zurück im Simmental. Der rational kalkulierende Radler wird sich fragen, warum man vom Simmental ins Simmental solche wadenbrechenden Umwege fährt. Die Antwort ist schlicht: Es hat sich gelohnt, der Gestelenpass verdient eine gehobene Wertung in meiner Tour de Suisse und wohl noch einen halben Stern mehr als der Mittelbergpass. Zweifellos habe ich mir ein energetisch angemessenes Abendbrot verdient, stolpere aber kaum über Gasthofangebote. Schlage ich in Oey noch eine geöffnete Gaststätte aus, finde ich im größeren Wimmis nur geschlossene Küchenpforten. Der nahe lebensfreudige Thuner See und sogar etwas abseits von der Simmentalroute lassen potenzielle Gäste hier schnell vorbeifahren – mehr Wohnstatt für Pendler. Einzig im Gasthof Löwen treffen sich noch Stammtischgäste zur geselligen Trinkrunde. Ich bekomme immerhin ein Bier und darf mit freundlicher Genehmigung der Wirtin meine eigenen Proviantboxen plündern. Man muss sich heutzutage sogar auf Gaststättenbesuche mit vollen Vesperbeuteln vorbereiten.
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