ALP-2024-TiSA-02
Schneegipfel und Gletscherwelten in den Inntal-Seitentälern
Das erste Nebental des Inns bringt mich zugleich zum ersten Exkurs in die Ötztaler Alpen, die ich im Laufe der Tour stückweise umrunden sollte, wenn auch nicht in einer geschlossenen Runde. Nach den Vinschgau-Tälern, die teilweise in den Ötztaler Alpen liegen und ich nächsten Kapitel abhandeln werde, kehrte ich gegen Ende der Reise nochmal in die Ötztaler Alpen zurück, dann auf der Ostflanke des Gebirgszugs. Gleichwohl erschließe ich zwei westliche Seitentäler des Inns in der Samnaungruppe, gewissermaßen eher Exoten im radtouristischen Geschehen.
Die erste Barriere in das recht abgeschlossene Kaunertal bilden zwei Tunnels, die eine erdrutschgefährdete Kluse durchstoßen. Obwohl ich noch recht weit unten im Kaunertal verbleibe, wird die Nacht recht kalt.
[Mo 27.5.] Platz/Kaunertal – Feichten – Gepatsch-Stausee – Gepatschhaus – Talstation Ochsenalmbahn – Weißsee – Bergstation Ochsenalmbahn/Bergrestaurant Weißseeferner/Kaunertaler Gletscherstraße (2750 m) – Prutz – Ried – Ladiser Straße
78 km | 1865 Hm
Wer sich noch versorgen möchte, sollte das in Feichten tun, wo es einen letzten Einkaufsladen und einige Gasthöfe gibt. Die Mautstation folgt erst ein weiteres Stück aufwärts. Bis zur Staumauer fühlte ich mich von der imposanten Bergwelt geradezu erdrückt. In steilen Berglagen rissen Bagger steile Felswände ein, nur Zentimeter neben dem Sturzkante in die Tiefe. Ein Job, für den man wohl gute Nerven braucht. Die Fenster der Berghorizonte öffnen sich mehr und mehr am Gepatsch-Stausee, der noch jahreszeitbedingt einen niedrigen Seespiegel hat.
Erreicht man die Kehre jenseits vom Gepatschhaus in einer Zwischenmulde, beginnt der Gletscherpark Kaunertal. Geschliffene, rötliche Felskanten, Wulste und Gletschertöpfe zeugen von Kräften der Eismassen, die noch um 1850 bis hier heranreichten. Das Eis diente damals den Talbewohnern zur Kühlung von Nahrungsmittel. Neben Infotafeln vermitteln Skulpturen eine gleichwohl humorvolle wie sagenhafte Urwelt.
Ich erreiche bereits über 500 Hm vor Ende die Altschneegrenze. Von der Seite zog die kalte Luft über die Schneefelder zur Straße rüber. Ohnehin hatte sich die Wolkendecke verdunkelt, aus dem bald stechender Eisregen ins Gesicht nagelte. Übersturzt musste ich auf der Straße sitzend alle verfügbare Wetterkleidung anlegen – fast drohte die Auffahrt zu scheitern. Doch verzog sich die schlimmste Regenfront ähnlich schnell wie sie gekommen war, wenngleich es winterlich kalt blieb.
Im Gletscherrestaurant an einem der höchsten Straßenpunkte Europas fiel ich dem Nepp zum Opfer. Eigentlich hatte ich genügend Proviant an Bord und finden sich auch trockene Picknickräume im Gebäude, soweit auch das Restaurant geöffnet ist. Da ich mich aber nach etwas Warmen sehnte, suchte ich das fast entleerte SB-Restaurant auf, nur noch eine halbe Stunde bis Betriebsschluss. Ich bekomme eine Gulaschsuppe für satte 10 € ohne Brötchen, das kostet einen Euro extra, obwohl lädrig wie von vorgestern – nicht mal als Entenfutter würde ich es reichen wollen. Von der Gulaschsuppe bekam ich später leichten Durchfall. Ich rate dringend davon ab, das Bergrestaurant zu besuchen.
Ich versichere mich abends in Ried noch auf Speisekarten, dass die Kaunertaler Gipfelpreise auch solche sind, dass es in Tirol auch noch geerdete Preise trotz der Inflation gibt, die in Österreich heftiger ausfiel als in vielen anderen europäischen Länder – auch stärker als in Deutschland. Da hätte ich doch mit der Einkehr bis ried warten sollen, zumal die Abfahrt deutlich flotter verlief als ich erwartet hatte.
[Di 28.5.] Ladiser Straße – Ladis – Fiss – Serfaus (1427 m) – Stadlwies – Tschupbach – Lafairs – Pfunds – Viaclaudiasee/Kajetansbrücke – Spiss – Compatsch – Samnaun (1835 m)
46 km | 1600 Hm
Den Schlafplatz hatte ich etwas verwegen knapp an der Straße gefunden, aber immerhin mit Aussicht ins unten liegende Inntal. Nach Serfaus, genauer nach Fiss bereits zuvor, führen zwei Straßen. Die längere Variante über Ladis ist die weit schönere, was nicht nur an der Burg Laudeck liegt, die in Ladis wachend über dem Inntal thront. Obwohl sogar älter als Schloss Sigmundsried im Tal, stand sie in der Bedeutung doch im Schatten der Herrschaft in Ried, diente lange Zeit nur als Waffenlager für Schloss Sigmundsried.
Das Highlight dieses ersten Ausflugs in die Samnaungruppe liegt auf der hügeligen Passage zwischen Ladis und Fiss. Eine ansprechende Almlandschaft erfreut das Auge mit blumenreich leuchtenden Bergwiesen, von zahlreichen traditionellen Heuhütten durchsetzt. Der Talkessel weitet sich zur Gegenseite Richtung Fiss aus, dahinter die Kulisse schneebedeckter Gipfel der Samnaungruppe. Fiss selbst hat seine privilegierte Terrassenlage leider etwas mit skitouristischer Infrastruktur und entsprechend störender Architektur verunstaltet.
Wahlweise Radroute oder Straße überführen die Panoramaroute zum nächsten Skiort Serfaus, der noch etwas eigentümlicher erscheint. Ein wilder Mix an Architekturstilen oszilliert zwischen Alpenhausidyll, Kurtempelmilieu und Avantgardemobilar. Ich mag nicht gezählt haben, aber der Ort besteht fast ausschließlich aus 4-Sterne-Hotels und entsprechenden Restaurants oder Skibars. Diese befinden sich fast kollektiv noch im Winterschlaf, eine Sommeröffnung kündigen die meisten Betriebe erst für den 21. Juni an. Der Skirubel scheint trotz Klimawandel immer noch gut zu rollen, sodass man sich solch lange Betriebspausen erlauben kann. Indes wird die Zeit gerade genutzt für Baumaßnahmen – im Luxussegment muss immerzu nachgerüstet werden.
Die folgende Abfahrt zurück ins Inntal gehört zu den jüngsten Asphaltbändern in dieser Bergwelt, sodass die durchgehende Befahrung von Serfaus von Nord nach Süd mit Velo noch vielen Radlern unbekannt sein dürfte. Die schmale und steile Straße über Stadlwies, bisher nur zu einer Kapelle St. Georgen auf halber Höhe führend, hat eine durchgehende Asphaltierung bis Tschupbach erhalten, wo wieder die VCA zur Weiterfahrt wartet. Für Autos besteht ein allgemeines Fahrverbot und ist nur Berechtigten erlaubt, der untere Teil entsprechend auch in beide Richtungen beschrankt.
Pfunds erreiche ich schließlich über die geschmeidig-liebliche, leicht wellige VCA. Die Auffahrt nach Samnaun ist nicht nur dem Papier nach ein Stück anspruchsvoller als Serfaus. Ungeachtet dessen ist die Strecke zunächst weniger aufregend, verschwindet weitgehend in einem Nadelwald mit nur wenig Ausblick ins Inntal und die gegenüberliegende, aufsteigende Reschenstraße. Mit Spiss erreicht man nicht nur einen Zwischenhochpunkt mit folgender Abfahrt in die Talsohle (Compatsch, Spissermühle), sondern auch die letzte Tiroler Ortschaft.
Samnaun ist ein Kuriosum, weil es zur Schweiz gehört, lange Zeit aber nur über die Straße aus Tirol erreichbar war. Besonders ist dabei, dass die romanische Sprache des Ortes mittlerweile ausgestorben ist und ein Tiroler Dialekt vorherrscht, der dem Altbairischen entspricht. Wenn man so will, ist Samnaun eigentlich nicht Schweiz, sondern Tirol. Die Mehrheit der Autokennzeichen lauten auf Landeck – sofern nicht ausländische Touristen die Einkaufsmeile stürmen. Eigentlich nur ein Almweiler, sehnte sich die Talschaft nach besseren Zollbedingungen, da das Leben sehr teuer war. Somit erhielt Samnaun ein Statut zur Zollfreiheit, das auch nach dem Schweizer Straßenanschluss 1912 aufrecht erhalten wurde. Die Zollfreiheit wurde zum Geschäftsmodell und der Ort wirbt heute mit 50 Shops in der Bergwelt. Über die Nachhaltigkeit dieses Modells darf man auch angesichts der dort aufkreuzenden Blechkarossen große Fragezeichen setzen.
[Mi 29.5.] Samnaun – Compatsch – via Alte Samnauner Straße – Vinadi – Umleitung VCA über Schotterweg am Inn – Martina – Norbertshöhe (1461 m) – Nauders – Anfahrt Stableshof/abgebrochen – Reschenpass (1507 m) – Graun – Pedross – Kappl/Maseben Talstation
54 km | 1085 Hm
Indes ist die Hotel- und Shoppingmeile dieser Sackgasse in eine faszinierende Bergarena eingebunden. Wenn auch dem Skitourismus zugewandt, sind die störenden Elemente jenseits des Ortes geringer als erwartet. Der Stilmix der Architektur ist auch hier etwas wild, mal protzig, mal kitschig, mal gediegen. Nach der kalten Nacht am Gefrierpunkt wärme ich mich etwas durch Ladenbesuche auf. Das Angebot ist wie für Zolloasen typisch ziemlich redundant und für Normalsterbliche weitgehend verzichtbar. Trotz Rent-a-bike sind radspezifische Artikel und Mode Mangelware – typisch für Skiorte mit Bike-Abenteuer-Werbung im Sommer.
Zwar ist Samnaun Sackgasse, jedoch nur auf der abschließenden Bergbachpassage von/bis Compatsch. Dort führt die Schweizer Zufahrtsstraße recht verwegen durch Tunnel und rutschige Felsabhänge zurück ins Inntal, aber nunmehr südlicher als Pfunds nach Vinadi. Gleich schon bei der Auffahrt auf die Engadiner Hauptstraße weist ein Einheimischer eine Radfamilie auf eine Umleitung hin. Wenig später ist dann tatsächlich ein Veloverbot ausgeschildert, obwohl Autos durchfahren dürfen. Der Radler könnte die Bauarbeiten stören, nur die Autos nicht? Die Umleitung führt über eine teils bedenkliche Piste direkt unten am Inn entlang, bei stärken Regenfällen dürfte sie geflutet sein.
In Martina kann man nochmal Pause machen, ein kleines Lokal ist vorhanden ebenso wie Toiletten. Vom faktischen Sammelpunkt für VCA-Reisende führt die Straße zur Norbertshöhe durch eher aussichtsarmen Wald mit einigen Serpentinen. Hatte ich doch meine erste Reschenpasstour über die originäre Reschenstraße über Altfinstermünz absolviert und dort mehr wilde Felsenwelt in Erinnerung, ist die Norbertshöhe doch recht profan. Erst die Passhöhe macht mit dem lieblichen Blick in die Talmulde von Nauders wieder mehr Lust und Laune.
In Nauders ist es mittags immer noch wechselhaft heiter und ich versuche mich zunächst an einer Auffahrt zum Stableshof. Die noch ortsinterne Rampe lässt alle Muskeldrähte in den Waden glühen. Als ich die erste weite Aussicht erhasche, erscheint mir die Quälerei etwas überflüssig. Die Strecke dürfte wenig neue Landschaft preisgeben, denn es ist kein Seitental, nur eine Höhenroute am Hang hinauf. Auch die Wolkendecke zieht ungemütlich zu und ich entscheide daher den Abbruch des Anstiegs und schnellere Weiterfahrt auf der VCA zum Reschensee.
An der Radroute hat man sich etwas Mühe gegeben, Kunstobjekte zu platzieren, da die Tour doch etwas langweilig ist, soweit man Nauders und das Schloss hinter sich hat und je mehr man sich dem Reschenpass nähert. Nahe dem Reschenpass schimpft ein Papier über das von Italienern besetzte Südtirol – die Tirolfrage mal wieder. Der Text klingt recht unversöhnlich und verbittert. Ein Aufruf, die Ungerechtigkeit der Welt mitzuteilen. Ist hiermit getan, aber nicht ohne zu bemerken, dass ich diese Sichtweise nicht teile und für rückwärtsgewandt halte. Es ist hier in jedem Fall Grenze und damit Zeit für ein neues Kapitel.