ALP-2024-TiSA-03
Ötzi, Burgen, Wein, Erdbeeren und eine Bergsteigerlegende – die Vinschgau-Täler
Der Vinschgau (Val Venosta) bezeichnet das obere Etschtal und seine Nebentäler, bis es vom Burggrafenamt, der Region um Meran abgelöst wird. Es wird dabei nach Norden von den Ötztaler Alpen begrenzt, nach Süden von den Ortler-Alpen, die nun neu als erster Teil der Südalpen hinzustoßen. Gleichwohl bleiben Ausflüge in die Ötztaler Alpen als gespiegelter Gegenpart auf meiner Touragenda.
Alpenhauptkammquerung auf die Alpensüdseite – Italien, Südtirol, Vinschgau also – aber heuer keine Wettergrenze. Dunkle Wolken verdichteten sich über dem Reschensee. Der berühmte Kirchturm im See stand tatsächlich im Wasser, obwohl der See weitgehend wegen einer Baustelle für eine neue Straßentrasse abgelassen war. Dazu hatte man einen improvisierten Damm rundum dem Turm aufgeschüttet. Wohl darf diese Touristenattraktion keine Pause machen. Ein Förster erklärte mir am nächsten Tag, dass der Turm aus bautechnischen Gründen im Wasser stehen muss, da er sonst zusammenbrechen könnte.
Kalt und ungemütlich – das passt eigentlich nicht zum Langtauferer Tal, das unmittelbar in Graun in die Ötztaler Alpen hineinführt. Die Strecke ist leicht zu fahren, in welligen Schüben, aber ohne ernste Steigungsspitzen. Das Tal mit seiner lieblichen Aura möchte sonnengetränkt erstrahlen, um seine Vorzüge zu zeigen. Heute war aber bald Land unter. Ich erreichte im Regen ein Dach einer Seilbahnstation, die aber mehr Garage ist. Schlafmatte trostlos zwischen Jeeps und einer hochglanzpolierten Harley. Ausflucht sinnlos, zelten sinnlos – Hauptsache trocken. Der Pächter des Schuppens und wohl Betreiber der Bahn im Winter ist auch Almbesitzer kam mit einem SUV, fuhr mit einem Jeep weiter zur Alm, kam morgens zurück, stieg in den SUV – und sagte kein Wort.
[Do 30.5.] Kappl/Maseben Talstation – Melag/Langtauferer Tal (1915 m) – via Piste – Melager Alm (1970 m) – Melag – Graun – Staumauer Reschensee/Innerkaschon – via Altdorfstraße/Via Paese Vecchio – Rojen – Schöneben (2105 m) – via Piste – Innerkaschon – St. Valentin – Haidersee – Burgeis – Mals
58 km | 995 Hm
In letzten Dorf Melag starten Wanderer gerne zu Almen der Umgebung, die Gipfelkulisse strahlte weißlich hell, der Bergbach unten glitzerte weithin über die atmenden Almwiesen hinweg, deren Kräuter und Gräser sich die Kühe zum Frühstück bedienten. Ich hätte auch Lust auf Frühstück, verschmähte aber zunächst das Bistro am Dorfrand. Zur Melager Alm ist es auf guter Piste und bei wenig Höhenunterschied nicht wirklich weit. Der Ausflug war lohnend, indes war die Melager Alm aber gerade wegen Umbauten geschlossen. Also zurück zu Evis Hittl mit Bruschetta und Cappuccino. Eine Ulmerin hat sich hier heimisch gemacht und betreibt diese Gastwirtschaft schon seit längerer Zeit.
Dem Aprilsommer typisch war auch an diesem Tag die Wechselhaftigkeit. Der Sonnenglanzmorgen ist bereits am Reschensee einkassiert. Die Baustelle im Reschensee reicht fast bis zur Seemitte, wo Erdreich ausgehoben wird, das für die neue Straßentrasse verwertet wird. Der Radweg ist hier gesperrt und man muss sich auf enger Spur mit dem dichten Autoverkehr arrangieren. Über 50 % der Kennzeichen sind Deutsche oder Niederländer.
Das nächste Seitental – wiederum zur anderen Seite des Reschensees, könnte man direkter vom Nordufer anfahren. In meiner Variante fuhr ich zunächst vom Staudamm ein Stück zurück nach Norden. Dabei muss man etwas aufpassen, die richtige Strecke einzuschlagen, denn es gibt gleich drei Varianten. Während der offizielle Radweg ufernah unten verläuft und die dritte, steilere Strecke meiner Rückroute entspricht, zweigt mittig eine halbhohe Route ab. Dabei kreuzt man etwa zur Mitte einen Downhill-Trail, der in Schöneben startet und überwiegend von Kamikazefahrern abgerockt wird, die zuvor mit der Seilbahn aufgefahren sind. Die zunächst recht schattige Fahrt durch Wald gewinnt erst nach dem Abzweig ins Rojen-Tal an hübscher Almwiesenromantik.
Der Asphalt der weithin steilen Rampe nach Schöneben endet auf dieser so benannten Höhe mit Seilbahnstationen, Restaurant und sogar Reparatursäule für Radler. Jenseits der Öffnungszeiten der Bergbahn war hier nichts mehr los, sonst tummeln sich vor allem die Downhiller hier. Die Forstpiste hinunter (nicht Downhillstrecke!) ist radelbar, aber mit unterschiedlichen Untergründen und daher auch etwas mit Vorsicht anzugehen, später wieder Asphalt Richtung Staudamm/St. Valentin.
Jenseits vom Haidersee war das Land eingetaucht in einen düsteren Regenschleier. Die Wassersäule stieg und stieg. Ich kehrte pudelnass im Forsterbräu in Mals ein und labte mich an Dreierlei an Knödel und einem besonders köstlichen, leicht angewärmten Krautsalat, für den ich den Wirt ausdrücklich lobte. Eigentlich mag ich Krautsalat gar nicht – aber der war einfach klasse. Der Starkregen erlaubte mir keine wirkliche Wahl für mein Nachtlager. Es wurde ein Ort, der sicherlich nur wenig Neider wecken dürfte.
[Fr 31.5.] Mals – Tartsch – Matsch – Glieshof/Matscher Tal (1821 m) – Tartsch – Schluderns
40 km | 1055 Hm
Auch am Morgen regnete es in Abständen weiter. Zunächst war an eine Weiterfahrt nicht zu denken. Die Zeit vertrieb ich mir im Café, im Supermarkt und unter einem Dach an einem Friedhof – bis schon Nachmittag war. Mutig fuhr ich bei immer noch einstelligen Temperaturwerten in das Matscher Tal ein, zunächst durch Weinberge, dann ein lang gestrecktes Almwiesental mit nur einem, aber dem namensgebenden Bergdorf. In den höheren Etagen war Neuschnee gefallen, über den tiefe Wolken rauchten. Das Straßenende durch viel Lärchengrün erreicht, beheimatet eine offensichtlich beliebte Anlage mit feinerem Hotel und Ferienwohnungen sowie einer Kapelle. Luxuszimmer und Sauna – das wär’s doch eigentlich?
Für die Abfahrt legte ich alle verfügbaren Zwiebelschalen übereinander. Mich drängte es ganz in die Talsohle des Etschtals, wo es tatsächlich wärmer wurde, aber die anliegende Pizzeria ihre Küche wegen Personalmangel und Schlechtwetter gleich eine ganze Stunde früher geschlossen hatte. Also doch wieder Abendbrot aus der Tasche – immerhin im Weinberg mit Burgblick.
[Sa 1.6.] Schluderns – Vinschgauer Höhenstraße/Panof (1580 m) – Alliz – Schlanders – Morter – Freizeitzentrum Trattla – Ganda – Biathlonzentrum Martelltal
50 km | 1735 Hm
Das durchwachsende Wetter drückte die Stimmung des aussichtsreichen Vergnügens der Panoramaroute schon ein wenig. Der Blick auf die geordneten Plantagenfelder und die kanalisierte Etsch sind allerdings auch kein Traumland, schon eher die majestätischen Gipfelhorizonte der Ortlergruppe. Über die Vinschgauer Höhenstraße gelangt man oberhalb der Talsohle verwinkelt und unrhythmisch samt Hochpunkt bis nach Schlanders.
Die Ebene gequert, wartete schon das Martelltal, welches ich bisher nur einmal im untersten Teil beradelt hatte. Gleich etwa dort an meinem ehemaligen Umkehrpunkt beginnt der Nationalpark Stilfserjoch. Ungeachtet des Schutzgebietes haben sich viele Bewohner angesiedelt und betreiben agroindustrielle Plantagen. Die Landwirtschaft legt den Fokus auf Erdbeerfelder, die bis in die alpine Subzone reichen – bis zum Biathlonzentrum auf 1700 m Höhe. Diese spezielle Erdbeerzüchtung kann nicht verhindern, dass ihr Anbau sehr viel Plastikfolie benötigt, Bodenerosion befördert, eine längere Feldpflege bedeutet, umfangreichen Agrarverkehr verursacht und sehr teuer ist, ohne dass dadurch bessere Erdbeeren wachsen, als das problemlos in den Tiefebenen möglich ist. So kostete eine Schokolade mit Martelltal-Erdbeere schlichte 9,70 € in einem Bauernladen bei der Burg Juval. Das ist kein Genussmoment mehr für Bergfreunde, sondern ein Produkt für Jetset-Touristen und Geld-Yuppies.
[So 2.6.] Biathlonzentrum Martelltal – Zufrittsee – Martelltal Straßenende/Parkplatz (2088 m) – Morter – Latsch – Kastellbell – Tschars – Staben – Hof am Wasser – Abzweigung Karthaus/Touristinfo
55 km | 1130 Hm
Das Martelltal ist recht schmal und deswegen mit seltenen Ausblicken auf die Bergwelt. Offener tritt der schneebedeckte Gipfelhorizont am Zufrittsee hervor, das Wasser von Sedimenten milchig grün bis blau schimmernd. Von nun an wechseln unterschiedliche, wilde Bergbachszenerien mit Felsbrüchen und Kehren – wie fast das gesamte Tal bei hohen Steigungswerten.
Etwas enttäuschend stand ich dann am Straßenende mit Parkplatz und Kiosk, der noch nicht geöffnet war, einem Hotel, das irgendwie geschlossen schien und nur enge Sichtspaliere auf die Schneegipfel der Ortler-Alpen. Eine Pistenweiterfahrt zur Zufallhütte wäre eigentlich das erfüllende Topping, erschien mir aber zu rustikal, das Wetter auch unsicher und der Zugang zur Plimaschlucht war zumindest auf einem Fahrweg durch eine Baustelle versperrt.
An der Etsch zurück wurde es endlich etwas wärmer. Dort wühlt sich die VCA direkt an Etsch entlang, eine neugebaute Trasse, von Picknickplätzen belgeitet und einige Lokale, die sich gezielt an die zahlreichen Radler mit ihren Angeboten richten.
Das Schnalstal ist fast abgeschnitten vom Etschtal und die alte Straße durch eine enge Schluchtpassage dem Verfall preisgegeben. Auch der Radler muss also durch den Tunnel, was angesichts des starken Verkehrs nicht ganz so gemütlich ist. Zunächst ist nicht klar, wo die Menschen alle hinfahren möchten, aber es ist die Summe der Dörfer, Höfe und Weiler, die sich im Tal bis recht weit nach oben schieben und mehr Pendler als echte Bergbauern beherbergen.
[Mo 3.6.] Abzweigung Karthaus/Touristinfo – Unser Frauen – Vernagt – Kurzras/Schnalstal (2011 m) – Parkplatz Burg Juval/Hofladen – Burg Juval – Oberjuval (~1280 m, nicht ganz aufgefahren) – Via Juval/Weinbergrastplatz
52 km | 1425 Hm
Der Regen der Nacht erwischte mein Zelt, aber es darf ja auch mal nass werden. Die Auffahrt zieht sich hinauf über Unser Frauen mit Ötzimuseum und bekannt für viele Schafe. Kurzras am Straßenende ist leider ein Missgriff von skitouristischer Bauwut. Die Sommersaison war noch nicht eröffnet, Hotels geschlossen, ein Lokal offen, die Bergbahnen alle außer Betrieb. Vielmehr ratterten Baumaschinen für eine fortgeführte Verschandelung.
Zurück im Etschtal finde ich den Vinschgauer Bauernladen unmittelbar bei der Juval-Auffahrt vor. Neben Café mit auch kleinen Gerichten gibt es einige Südtiroler Spezialitäten zu Luxuspreisen. Schon genannte Erdbeerschokolade wie auch Weine nicht unter 15 Euro, Grappas, Essige, Öle, Marmeladen, Honige usw. – alles zu Jetsetpreisen. Mit Bauernladen hat das leider nichts mehr zu tun. Die Kolonnenfahrer der Reschenstraße halten hier an und kaufen Gourmetkörbe für 150 Euro und mehr. „Kostet ja nichts“ meinte der Roland-Garros-Yuppie mit Sportwagen vor mir, als die Produkte eingescannt waren und sich auf nur 167 Euro addierten. Prompt gabs noch einen Schinken- und Wurstzuschlag, um sich der 200er-Grenze zu nähern. Ich kam gleich danach dran mit drei Äpfeln zum Rabattpreis und 164 g Mamenbert im Fichte-Wacholdermantel (3,81 €), den Rest musste ich den Geld-Yuppies der Porsche-&-Ferrari-Community kampflos überlassen.
Gemessen an meinen Wadenleistungen hätte ich natürlich nur die größten Präsentkörbe verdient gehabt. Die Auffahrt zur Burg Juval führt durch Weinberge mit weiter Aussicht und lässt sich noch bis Oberjuval verlängern. Für die Steigungsprozente braucht man mindestens eine Räumung der Käse- und Schinkentheke des Bauernladens. Ohne ist sehr hart, aber eine solche Veloreise ist ja kein Wunschkonzert. Reinhold Messners Burg Juval – gleichzeitig Museum und Wohnstatt des Bergsteigers mit Himalaya-Faible – macht samt anliegender Bauernfamilie eher einen beschaulichen Eindruck nebst der geschäftstüchtigen Werbung für seine weiteren MMMs. Gewiss war ich außerhalb der Öffnungszeiten vor Ort, wenngleich mich die buddhistischen Insignien und die recht üppigen Eintrittspreise nicht wirklich anlocken mögen. Ein Gespräch mit dem alpinen Geschichtenerzähler wäre mir hingegen recht willkommen gewesen.
[Di 4.6.] Via Juval/Weinbergrastplatz – Naturns – Partschins – Partschinser Wasserfall/Birkenwald (~ 950 m) – Partschins – Oberplars – Algund – Dorf – Gratsch – Abzweig Tappeiner Promenade – Schloss Thurnstein – San Pietro – Schloss Tirol (612 m) – Dorf Tirol – Meran – Tscherms
50 km | 1000 Hm
Der Tag begann ein wenig wie der Abend geendet war, mit traumhafter Aussicht und bisher für meine Reise ungewohnt höchst sommerlichen Temperaturen. Schon am Vorabend konnte man sich an knappen Hotpants und heißen Röcke am Hofladen sattsehen. Den Ärger machte aber zunächst der Verkehr auf der Reschenstraße. Diese führt mitten durch Rabland und ich wurde übel angehupt und von Autofahrern beschimpft, weil ich auf der Straße fuhr (kein Radweg, VCA unten am Fluss eignet sich nicht als Zufahrt zu meinem nächsten Ziel, Anschluss an Geschäfte nur ab Straße). Etwas aufgewühlt, suchte ich meinem Frust bei der Touristinfo Luft zu machen, die aber davon nichts wissen wollte. Es gäbe ja unten einen Radweg an der Etsch und zudem möchte sie nur schöne Wanderwege und Natur verkaufen, für Straßen sei die Gemeindeverwaltung zuständig. Tja, das Schöne im Verkehrsinfarkt verkaufen ist wohl nicht ganz konsistent. Meine Punktewertung für Südtirol fiel um eine weitere Stufe.
War die Auffahrt nach Oberjuval ein Teufelsritt, so haben wir es zum Partschinser Wasserfall mit einer Satanshölle in der glühendsten Feuerklasse auf Nagelbrettbasis zu tun. Steigungswerte mit 25 % und wohl noch etwas mehr verkürzten meine durchgehenden Fahrintervalle auf Zollstocklänge bis zur nächsten Atempause. Selbst das Fußvolk ächzte und stöhnte, lag mehr in der Horizontalen, als dass man vom aufrechten Gang sprechen könnte. Einige kehrten wieder um und ärgerten sich, nicht den Bus-Shuttle gewählt zu haben. Wie ich es geschafft hatte, ist noch nicht ganz überliefert, wenngleich ich zwei letzte Kurven zum Gasthof mit Aussichtsplattform durch falsche Ausschilderung verfehlt hatte und daher am Heldenorden etwas abschleifen muss. Stattdessen stieg ich zum Wasserfallblick von unten über einen Treppenweg auf. Der mächtige Strahl zerstäubt weithin feinen Nieselregen, während das fallende Wasser laut donnernd seine Kraft betont.