ALP-2024-TiSA-07
Nationalpark & Kaffeegeschichten – Über das Val di Fiemme in die Belluneser Dolomiten
Ist die Epircher Laner Alm noch fest in Südtiroler Hand, wirkt das Reiterjoch selbst schon italienischsprachig, da nunmehr die Grenze zum Trentino überschritten wird und die Hauptzufahrt ohnehin aus Süden besteht. Meine Trentino-Passage endet jedoch schon wieder wenig später am Passo San Pellegrino, wo die Grenze zum Veneto und der Provinz Belluno überschritten wird.
Die Belluneser Dolomiten bezeichnen folglich im weiteren Sinne alle Dolomitenteile in der Belluneser Provinz. Im engeren Sinne sind aber oft auch nur die südlichen Belluneser Dolomiten gemeint, deren Kern in dem Parco nazionale delle Dolomiti Bellunesi liegt. Diese südlichen Belluneser Alpen sind durchschnittlich niedriger als die nördlichen und unterscheiden sich daher auch optisch recht stark, da es mehr Kuppenberge als alpine Grate, Türme und Gipfel gibt. Andererseits gibt es auch wieder überraschende Ähnlichkeiten etwa in Form von spitzen Zinnengipfeln.
Es ist vielleicht überraschend, dass der einzige Nationalpark der Dolomiten eine eher unbekanntere Teilregion umfasst, während die weltbekannten Dolomitenberge wie Rosengarten, Sellastock, Drei Zinnen oder Marmolata bestenfalls in Naturparkzonen liegen. Gleichzeitig erstreckt sich das UNESCO Welterbe Dolomiten auf alle Dolomitengebiete, sogar über die enge AVE-Definition hinaus bis in die Karnischen Alpen und Brenta-Dolomiten.
Es ließe sich die Passstraße vom Reiterjoch durchrasen bis Tesero, doch nehme ich noch einen Querpass mit, der sonst kaum in eine Tour passt. Entsprechend einsam wirkt der Passo di Pramadiccio, der nur von der Ostseite eine Auffahrt bildet, da er im Westen fast ohne Gefälle auf die Lavazè-Passstraße trifft. So gelange ich schon zum dritten Mal in meiner Alpenradhistorie in das pittoreske Cavalese im Val di Fiemme (Fleimstal). Hier befinde ich mich kurz außerhalb der eigentlichen Dolomiten, da die Fleimstaler Alpen in der strengen Dolomiteninterpretation nicht mehr dazugezählt werden.
Auf der Panoramastraße gelangte ich bald in die Dunkelheit und zum Tage passend auch in den Dauerregen, der die ganze Nacht über anhalten sollte. So brach ich die Etappe in Predazzo zugunsten einer Pizzaspeise ab und begab mich auswärts von Predazzo unter den Schutz eines Neubaus an den Sprungschanzen für die Olympischen Spiel 2026. Die Modernisierung der Anlage, die sich bereits als WM- und Weltcup-Anlage bewähren konnte, verschlang mit 41 Mio. Euro bisher schon fast das Fünffache der prognostizierten Kosten – Ende samt ungeklärter Betriebskosten offen. Wohl meine teuerste Dachgebung, unter der ich jemals geschlafen habe – trotzdem nur nackter Steinplattenboden ohne geöffnete Sanitäranlagen.
[So 16.6.] Predazzo – Moena – Ronchi – Passo di San Pellegrino (1918 m) – Falcade – Caviola – Fregona – Forzela l’Agazon/Forcella Lagazzon (1310 m) – Sachet – Cenceghine Agordino – Agordo – Ponte Alto
62 km | 1210 Hm
Nach einer ersten idyllischen Radwegroute am morgensonnig glitzernden Bergfluss entlang stieß ich in Forzo auf die Pasticceria Reinhard für ein Frühstück. Gleich eine ganze Busladung drängte in das sodann überfüllte Café, derweil den meisten die Außenterrasse noch zu kalt war. Die Einkehr kann ich dringlich empfehlen, bei der Auswahl der Leckereien tut sich einejder schwer. Der Renner war das Pistaziencroissant, dessen Cremefüllung deliziös ausbalanciert ist, aromatisch pistazig und fern von penetranter Süße.
Nicht weniger kulinarisch zeigt sich Moena. Speck, Schinken und Käse gesellen sich neben traditionelles Kunsthandwerk. Das pittoreske Ortsbild verdeckt die stete Bedrohung durch den Bergfluss, der zuletzt 2018 den Ort regelrecht verwüstete. Im Kampf mit dem Berg zeigt sich der Passo San Pellegrino zwar gnädig moderat mit eher nur kurzen Steigungsspitzen, jedoch spielt das anfänglich gute Wetter des Morgens nicht weiter mit. Auf der Passhöhe ist Kälte, Wind und eine drohende Regenfront der düstere Kontrast zum optimistischen Werbebanner des „San Pellegrino Summer“ – nur wo ist dieser? – Vielleicht im Tal?
Die Zentren für Holzschnitzkunst setzen sich mit Falcade fort. Auf dem kleinen Sonntagsmarkt auf der Festwiese fand sich eher nur Allerlei, weniger die originellen Werke der Auslagen in den Läden. Die Wolken hingen weiterhin düster nebst kurzer Schauer über dem Tal, aber ich sah doch Chancen, den nahezu unbekannten Forzela l’Agazon noch zu schaffen. Zwar bietet der Pass nur begrenzte Aussichten, arbeitet sich aber mit stillem Charme und einem mystischen Quellplateau ins Gedächtnis. Steil und auf schlechtem Belag fand ich mich schnell wieder zurück in der Talsohle, eng zwischen den steilen Bergflanken eingeschlossen. Eigentlich leuchtet im Valle Agordina der Fluss in hellem Blau, doch die finsteren Wolken führten nahtlos in die düstere Nacht über, die alle Farbakzente des wilden Tals verschluckte. Da wollte ich den Tag noch ein wenig mit Pizza und Wein in Agordo aufheitern.
[Mo 17.6.] Ponte Alto – Rivamonte Agordino – Forcella Franche (991 m) – Tiser – via Canal del Mis – Lago del Mis – Pascoli – Ponte Mas – Bolago – Tisoi – Bolzano Bellunese – Vezzano – Belluno – Levego – Santa Caterins – Ponte nelle Alpi – Soverzene
61 km | 865 Hm
Der Tag leitete ein kurze Phase von unverblümten Sommergefühlen ein, wenn auch die Großwetterlage sich noch nicht entscheidend geändert hatte. Die Route führte nun mitten durch den Nationalpark der Belluneser Dolomiten, ein Tremolo an Zipfel- und Zinnenbergen, tief eingeschnitten von der Canal del Mis, einer wilden Schluchten, die auch in den französischen Alpen liegen könnte. Aus Belluno kommend, bleiben die meisten Beuscher bereits am Lago del Mis hängen, wo es dezente Freizeitplätze gibt, sodass die Schlucht zumindest außerhalb der absoluten Hochsaison nahezu einsam bleibt.
In Ponte Mas hat man schon die Ebene erreicht, doch Belluno liegt noch um eine Ecke rum. So kann man auch etwas anders anfahren. Eine Hügelroute führt nochmal an die Flanke der Belluneser Dolomiten heran, passiert kleine Dörfern, die auf einem Terrassensattel liegen. Belluno verströmt dann das Flair einer historisch bedeutenden Stadt, von dezenter Eleganz, ein eher stiller Treffpunkt in Gassen und auf Plätzen, mit feinen Lokalitäten unscheinbar hinter mittelalterlichen Mauern – auch eine Stadt mit charakterstarken Menschen, die einst eine Hochburg der Resistenzia-Bewegung gegen den Faschismus formierte.
Die Ausfahrten der Stadt sind für Radler nicht übersichtlich ausgeschildert, sodass ich mich bald zum falschen Piave-Ufer wiederfinde. Der reguläre Radweg nach Ponte nelle Alpi befindet sich auf der Nordflanke oberhalb, während am Südufer die Route sich umwegig verlängert. Dort endet der Radweg bereits nach einem Drittel der Strecke und in der Dunkelheit ist die Straßenpassage nicht so gemütlich. Ponte nelle Alpi ist sowas wie das Gewerbezentrum für Belluno und die Region insgesamt – eine Ansammlung von Möbel- und Autohäusern, von Supermärkten und allerlei mehr Geschäften für Handwerk und Konsumenten.
[Di 18.6.] Soverzene – via Radweg MV – Longarone – Castellavazzo – Ospitale di Cadore – Perarole di Cadore – Via Cavallera – Sottocastello di Cadore – Pieve di Cadore – Tai di Cadore – Venas di Cadore – Vodo di Cadore – Verzweigung Rifugio Talamini (Forcella Chiandolada)/Malga Ciauta – Vodo di Cadore – Venas di Cadore – Masarié
61 km | 1170 Hm
Eigentlich schien die Staudammbrücke nach Soverzene gesperrt zu sein, jedoch fand ich eine Durchfahrt, da auch nachts nicht gebaut wurde. So kam ich noch bis zum Ortsende in Soverzene mit einem liebevoll gestalteten Rastplatz am Radweg MV. So bemüht um Frühstück und Zelt zusammenzupacken, trat am Morgen mir leise eine ältere Frau entgegen, die aus dem gegenüberliegenden Haus gekommen war. Da hielt also eine zierliche Mama ein geblümtes Tablett in den Händen, Omas Kaffeetasse und Kännchen für mindestens drei Tassen. Was soll ich da sagen, so gerührt von der liebevollen Geste – nicht mal wird sie Radlerin gewesen sein, noch konnte ich ein Gespräch führen, da sie doch nur Italienisch sprach. Hatte ich alles zusammengepackt und wollte das Tablett zur Tür bringen, war sie mir schon zuvorgekommen.
So schenkte sich ein zweiter Tag Sommer mir schon zwangsläufig her. Der Radweg hier auch fast vorbildlich gemacht – fast nur deswegen, weil er im Gegensatz zur ohnehin kaum befahrenen Straße sich in eine Furt absenkte, die von Wasser überspült wird, was ggf. auch klitschig und damit gefährlich werden könnte. Der Übergang zur Straße ist nicht weit und bleibt auch alte Straße bis Pieve di Cadore. Die neue Straße nach Cortina verläuft hingegen abseits teils durch Tunnels, später auch zur anderen Talseite.
Der Abstecher nach Longarone wäre nicht zwingend gewesen – ich wollte aber mal Nachschauen, obwohl der Ort etwas aus der Reihe nüchtern funktional wirkt – so gar kein Bella Italia – warum nur so modernistisch in den Bergen? Doch ist das Folge einer traurigen Geschichte, einer großen Katastrophe, aber auch ein Warnzeichen für sensible Bergwelten, die sich – falsch behandelt –, grausam entladen können. Am 9. Oktober 1963 verursachte ein Erdrutsch am Vajont-Stausee im gegenüberliegenden Tal, kaum einsehbar wegen der engen Kluse, eine riesige Flutwelle, die zwar nicht die Staumauer brechen ließ, aber über die Mauer hinwegschwappte. Kaum vorstellbar, wie ich da stehe, scheinbar weit über dem Piave-Tal, vernichtete die Flutwelle den gesamten Orten und riss dabei über 2000 Menschen in den Tod, genau wurde die Zahl nie ermittelt. Mehrere Stahlskulpturen und die neue Kirche sind Denkmale an diese opferreiche Katastrophe eines historisch wohlhabenden Ortes, der so sein ursprüngliches Gesicht verlor. Mittlerweile hat sich Longarone einen Namen als Messeort für Speiseeis gemacht.
Ich sollte noch später am Vajont-Stausee vorbeikommen und verweise schon auf das Kapitel über die Karnischen Alpen. Bereits der wenig höher gelegene Nachbarort Castellavazzo konnte sich der Katastrophe entziehen, so die alten Häuser dort noch erhalten sind. Fortan begleitet die Route den Fluss unten entlang, steigt dann erst für Pieve di Cadore aus dem Tal auf. Man kann Höhenmeter und Umweg sparen, wenn man Pieve auslässt und der reinen Radroute folgt. Soviel Nostalgie musste aber sein, hatte ich doch vor knapp 20 Jahren hier einmal übernachtet – in dieser Stadt des Renaissance-Malers Tizian.
Endlich wieder ein größerer Supermarkt, dachte ich etwas zu freimütig und lud mir damit etwas viel Proviant ein. Ich wollte den Forcella Chiandolada, einen absoluten Noname-Pass bezwingen, von dem herbe Gerüchte zu lesen waren. In Vodo di Cadore fällt die Zufahrt unmittelbar in die Flussmulde ab, ebenso schnell wieder steil auf. Luftholen im Meterstakkato, 20 % Steigung sind hier eher Untergrenze. Ich sah meinen Chancen schwinden, für die Nacht noch aus dem steilen, unzugänglichen Waldgelände entrinnen zu können. So brach ich das Gewürge ab, plante spontan auf den mir bereits bekannten Passo Cibiana um. Ob ich mit etwas weniger Proviant die Strecke bewältig hätte, muss offenbleiben – zumindest bin ich einige ähnlich steile Rampen auf der Tour ja gefahren. Vielleicht war es auch einfach der falsche Tag dafür.
[Mi 19.6.] Masarié – Cibiana di Cadore – Passo Cibiana (1530 m)/Dèona – Forcella Dèona (2053 m) – Monte Rite/Messner Mountain Museum (2160 m) – Passo Cibiana – Fornesighe – Sp243/SP251 – Forno di Zoldo – SP251 zwischen Forno di Zoldo und Dont
38 km | 1250 Hm
Für den Passo Cibiana musste ich wieder zurückfahren, der Anstieg dann schon in die Dämmerung und Dunkelheit. So kam ich auch nur noch bis zum ersten Ort, die steilen Randzonen an der Strecke sonst unbrauchbar für eine Rast. Der Pass wollte mir auch weiter am Morgen schwerfallen, es ist gewiss kein lässiger Ersatz für den Chiandolada. Auf der Passhöhe versammelte sich eine auseinandergezogene Rennradgruppe. Jeder Ankömmling – Frauen wie Männer – wurde wie ein Star gefeiert. Ich gönnte mir eine längere Ruhepause in den versteckten Almwiesen, wo sich einige eher verlassene Ferienhäuser verteilen.
Unerwartet drängte sich mir ein neuer 2000er-Berg auf. Die Zufahrt zum Monte Rite mit einem Messner Mountain Museum wurde mittlerweile durchgehend asphaltiert, um die Fahrt mit dem Shuttlebus für die denkbaren Besucher zu erleichtern. Außer den Berechtigten für Rifugio und Museum ist KFZ-Befahrung untersagt. Für einen 360°-Rundumblick auf die Dolomitenhorizonte muss man sieben lang auseinandergezogene Kehre überwinden, teils durch Lärchenwald, immer wieder von erhebenden Ausblicken begleitet. Das MMM Dolomites befindet sich auf dem kleine Gipfelplateau in einer ehemaligen Weltkriegsfestung, himmelwärtigen verglast, den Eiskristallen der Gletscher nachempfunden. „Kunst statt Krieg“ lautet dann auch ein Motto zum Museumsinhalt, zu dem ich aber keinen Zugang bekommen konnte, da ich wieder mal den Ort erst nach Betriebsschluss erreichte.
[Do 20.6.] SP251 zwischen Forno di Zoldo und Dont – Dont – Fusine – Pecol – Forcella Staulanza (1773 m) – Santa Fosca – Selva di Cadore – Colle Santa Lucia (Belvedere, 1480 m) – Abzweig Colcuc, SR203 nach Cernadoi gesperrt – Selva di Cadore – Caprile – Digonera – Pian di Salesei
48 km | 1290 Hm
Erneut fand ich mich bei fortgeschrittener Dämmerung in der Talsohle wieder – eine Gegend, die auch als Wiege der italienischen Eiskultur gilt, zumindest was die erste Welle der emigrierten Eismacher nach Deutschland angeht. Nur kleine Dörfer begleiten die Strecke im recht engen Talschnitt zum Staulanza-Pass. Wieder hatten sich düstere Wolken mit nur kleinen Lücken verdichtet.
Der Weg über Colle Santa Lucia bietet ein beeindruckendes Panoramaerlebnis von einer kühn gebauten Plattform, endete für mich aber mit einer abgesperrten Straße, die meine geplante Durchfahrt nach Cernadoi verhinderte. So musste ich einen weiteren Umweg einbauen und über Caprile die alternative Auffahrt zur Gegenseite nach Livinallongo wählen. Der Vorteil der SP563 ist die verkehrsärmste Annäherung zur Sellarunde, was aber zu später und früher Stunde ohnehin kaum einen Unterschied macht.