ALP-2024-TiSA-08
Die Südtiroler Dolomiten, Klappe die zweite: Erinnerungsorte und Zeitgedanken mit den Zillertaler Alpen in der Premium-Nebenrolle
Mit dem Campolongo überschreite ich erneut die Grenze nach Südtirol, während der erste Tag noch im Veneto beginnt. Zu beiden Seiten hält sich indes die ladinische Kultur in Sprache, Handwerk und festlichen Traditionen, was durch den Massenauflauf internationaler Touristen etwas überdeckt wird. Diese nächste Dolomitenrunde fällt im Detail recht klein aus, stattdessen dringe ich in nördliche Täler der Zillertaler Alpen vor, die gewiss weiterhin kulturell Südtirol zugewandt sind und insofern die Geomorphologie und Alpensystematik eher verwirrt. Ein weiterer Exkurs in die Nordalpen also, aber weiterhin auf der Alpensüdseite, wie das zuvor schon für das obere Etschtal galt. Für den Abschluss und den Weg nach Osttirol sowie ein anfänglicher Abstecher zu den Plattener Erdpyramiden tangiere ich zumindest schon mal die Rieserferner-Gruppe, welche noch ins Folgekapitel hineinreicht.
[Fr 21.6.] Pian di Salesei – Salesei di Sopra – Livinallongo del Col di Lana – Renaz – Arabba – Passo Campolongo (1875 m) – Corvara – Stern (La Villa) – (Alta) Badia – (St. Martin) – Zwischenwasser – St. Vigil in Enneberg – Furkelsattel (1789 m)
61 km | 1465 Hm
Es sollte auch einer der wärmsten Tage der Tour werden, obwohl ab Mitte des Tages nur noch düster. Was war geschehen? Saharastaub hatte sich über weite Teile Europas gelegt – sogar über die Berge in die Alpentäler hinein. So war auch meine Fahrt über den Campolongo-Pass recht eingetrübt, nur wenig Glanz von den stolzen Dolomitenwelten. Stattdessen drehte die Porschefraktion mit Kennzeichen des Zuffenhausener Großraums ihre Motoren auf – spätrömischen Karosseriedekadenz, immer noch als Kavaliersdelikt verharmlost und nicht sanktioniert.
Von dem düsteren Tageslicht lässt sich das Hotspottreiben der städtisch wuselnden Skiorte vom Alta Badia nicht abschrecken. Dem Event der alljährlich stattfindenden autogesperrten Sellaradrunde des nächsten Tages griff ich mit dem Kauf von Weste und Mütze vor, ohne dass ich daran teilnehmen sollte, weil mein Tourverlauf das nicht vorsah. Mit St. Vigil in Enneberg erreiche ich eine ladinische Hochburg, finde auch ein Gespräch mit einer Stickerin, die Produkte aus einem Pool von weiteren Traditionshandwerkern verkauft. So die weitere Auffahrt in der Düsternis etwas verblasste, erreichte ich die fast ausgestorbene Passhöhe vom Furkelsattel, die Wolken nun schwärzer und drohender und schließlich in der Nacht voll entladend.
[Sa 22.6.] Furkelsattel – Geiselsberg – Mitterolang – Niederolang – via Radweg MV/Pustertal – Neuhaus (Unterwielenbach) – Percha – Oberwielenbach – Erdpyramiden Platten (1566 m) – Oberwielenbach – Luns – Bruneck – Stegen – via Pustertaler Sonnenstraße – Pfalzen – Issing
51 km | 955 Hm
Ich hatte eine Kronplatz-Beradlung schon am Vorabend ausgeschlagen, zu steil schien mir die bereits unten beginnende Schotterpiste – kaum zu glauben, dass ich da hochkommen würde. Ich hatte eigentlich auf eine Asphaltanfahrt für die untere Hälfte gehofft. Umso schöner konnte ich die unerwartete Zeitersparnis in Genussmomente des Morgens tauschen, an dem sich die dichten Wolkenschwaden nur zögerlich und schichtweise über den Bergwiesen auflösten.
Ein kleines Stück Pustertal-Radweg präsentierte sich äußerst geländewellig, bevor ich zur Straße bei Percha zurückkehrte. Ist die Anfahrt im ersten Teil mühsam steil und etwas öde, erweisen sich die Plattener Erdpyramiden als sehr sehenswert und können mit den Rittner Erdsäulen sehr wohl konkurrieren.
Bruneck ist für mich eine Reminiszenz an meine Schulzeit, hatten wir seinerzeit eine Kronplatz-Klassenfahrt mit Skikurs gemacht. Die Stadt konnte ich aber nicht wiedererkennen, zu wenig hatte ich da Bilder aus meiner Jugend abgespeichert, spielte sich das pubertäre Schülerleben ohnehin mehr in Kneipen und Discos ab. Das Hotel lag damals auch weit außerhalb in Niederrasen schon im Antholzer Tal und die freien Zeiten knapp gestellt, weil es abends durchaus weiter Matheunterricht gab. Die Stadt heute wirkt lebenswert bis edel, ähnlich wie Bozen oder Brixen mit viel alltäglicher Fahrradkultur. Erneut hatte mich schlechtes Wetter eingeholt, als ich eingekauft und die Stadt verlassen hatte. Es war schon ein Risiko, überhaupt noch einen unbekannten Berg anzugehen. So richtig weit kam ich dann auch nicht mehr, als die Nacht sich tränenreich übers Land ergoss.
[So 23.6.] Issing – Mühlen – Pichlern – Sattelpunkt Pustertaler Sonnenstraße (1278 m) – Terenten – Niedervintl – Weitental – via Weidacher Straße/Stollweg – via Kegelbergstraße – Kiener Scharte/Alm (1741 m) – Meransen – Mühlbach – Nauders – Ahner Kreuz/Berghof
54 km | 1915 Hm
Noch mehr als im oberen Etschtal begleiten das Pustertal mehrere Höhenstraßen an den Südhängen der Nordalpen. Davon trägt nur eine den logischen Namen „Pustertaler Höhenstraße“, die sich aber weit östlicher in Osttirol über der Drau befindet. Hier am Rande der Zillertaler Alpen bemustert die Pustertaler Sonnenstraße das Hochplateau von Terenten, dessen flacher Sattel fast unbemerkt verstreicht. Indes hat die Straße Mühe, ihrem Namen gerecht zu werden – die Wolkenlücken des Tages verdienen allenfalls das Attribut homöopathisch, schon allein das Wasser der Nacht konnte gar nicht an einem Tag verdampfen.
Das Pfunderer Tal hätte ich vielleicht weiter ausfahren sollen, machte es doch einen einladenden Eindruck, nachdem ich bereits von der Auffahrt zur Kiener Scharte besser in das Tal einsehen konnte. Oben wieder gejagt von der nächsten Regenfront, drängt mich selbst der Almwirt zur Weiterfahrt statt einen Kaffeegast zu gewinnen. Dann verlor sich die Regenfront doch irgendwie, ohne aber die Düsternis aufzuhellen.
Ganz gegensätzlich zur Ostseite besteht die Westflanke aus offenen Bergweiden mit recht gut besiedelten Dörfern. Mühlbach in der Talsenke der Rienz umwirbt den Radlergast gern in einem heimeligen Kleinod. Ich gedenke aber weiter pausenfrei die trockene Zeit zu nutzen. Am edlen Ahner Berghof fand ich nur eine Bank in kühler Luft für das Picknick. Die Stellfläche für das Zelt muss ich hier eher in Quadratzentimetern als in Quadratmetern vermessen. Keine Frage, ein Platz mit Aussicht immerhin.
[Mo 24.6.] Ahner Kreuz/Berghof – Zumis/Rodeneck (1725 m) – Tulperhof – Lüsen – via Lüsen-Tal – Abzweig Coller Straße – Würzjoch (1987 m) – Pé de Börz (1862 m) – Untermoi – Welschellen – Runch – Pescosta – Tintal – Wieser – Onach – Montana – St. Lorenzen – Bruneck – St. Lorenzen
64 km | 1805 Hm
In Zumis, eher Parkplatz als romantische Berghöhe, bringen Autos und Bus bereits am frühen Morgen große Kolonnen von Wanderern auf den Weg zur nächsten Alm. Angesichts des Andrangs verzichtete ich auf eine Exkursion dorthin, obwohl die Piste recht vielversprechend ausschaute. Jenseits vom Parkplatz hat man fast ungebrochen Aussicht, zunächst als Höhenroute mit Gegenanstieg, später in der kühnen Falllinie nach Lüsen hinunter.
Mangels geöffneter Geschäfte gesellte ich mich zu klassischen Mittagsgästen im Gasthof – ein Kaiserschmarren irrte schon länger durch mein unerfülltes Gaumengedächtnis. Die Wirtin erwartete Gewitter und warnte mich den Berg aufzufahren. Na, mit so viel Angst wäre ich auf der Tour nicht weit gekommen. Der Mut zur Lücke war auch diesmal gefragt. Tatsächlich hatte die Prognose der Gastwirtin eine kurze Halbwertszeit. Trübe ja, aber kein Regen, am Würzjoch sogar dezent heiter.
Die Lüsentalanfahrt zum Würzjoch ist die verkehrsärmste, per aktuellem Gemeindebeschluss sogar explizit für Motorradler gesperrt. Die künstlichen, regelmäßig gestaffelten Kaskaden des Bergbachs verraten bildhaft die heftige Steigung der Strecke. Vor dem Anblick der Gipfelkulisse breitet sich beim Kofeljoch ein bergblumengeflutetes Hochplateau aus. Ein wahres Farbenfest als Krönung für eine insgesamt berauschende Auffahrt.
Auch das Würzjoch weckte Erinnerungen in mir, war ich dort 2007 im Berggasthof nach Gewitter gestrandet und erlebte ein Weihnachtswintermärchen am nächsten Morgen. Dieser jetzige Alpensommer war eigentlich weit schlechter als der von 2007, aber hier kam die bekannte Ausnahme von der Regel ins Spiel. So blieb auch die verlängerte und hübsche Höhenhangroute bis ins Tal in St. Lorenzen ohne Wettereinbruch. Dort irrte ich noch etwas hin und her, um mit einer Fastfood-Mahlzeit abzuschließen.
[Di 25.6.] St. Lorenzen – Bruneck – Dietenheim – Aufhofen – Tesselberg-Piste abgebrochen (~1060 m) – Gais – Uttenheim – via Radweg – Mühlen in Taufers – via Schattenbergstraße – Mühlwald – Abzweig Gornerberg/Auerstöckle
35 km | 700 Hm
Ein gemütliches Frühstück – dafür ist das entschleunigte St. Lorentzen ein guter Ort an einem Sonnemorgen, der nicht lange halten wird. Bruneck besuchte ich nochmal und widmete mich diesmal etwas den dort einst lebenden Dichtern. In den Buchläden gibt es etwas von dem unbequemen Denker und Dichter Norbert C. Kaser, der romantische Dichter Hermann von Gilm zu Rosenegg, der auch politische Streitschriften verfasste, ist hingegen bereits vergessen im heutigen Bücherregal.
Ein Buch hätte ich schon bald brauchen können, erste Regenpause an einem Hof. Ich versuchte mich an einer Piste nach Tesselberg, die ich zum Glück aufgeben musste. Wäre ich zur Straße vorgestoßen, wäre diese gesperrt gewesen, wie ich erst später erfuhr. Das breite Tauferer Tal durchpflügen je eine geschäftige Straße zu beiden Uferseiten, entschleunigt darf der Radler meist einen eigenen Weg entlang sumpfiger Schilfgürtel und flacher, Weiden befahren.
Namensgebend geht es von Mühlen nach Mühlwald durchs Mühlwalder Tal – also ein Mühlenland mit noch einigen erhaltenen Mühlen aus der Vergangenheit. Den ersten steilen Anstieg auf der Hauptstraße kann man fast verkehrsfrei über die Schattenbergstraße umgehen – allerdings um den Preis, dass es noch weit steiler ist, um die 20 % muss man veranschlagen. Da auch Kreuzweg mit lokaler Holschnitzkunst, kann man sich gleich wie auf dem Büßerweg fühlen oder um Abbitte beten.
Mühlwald entfaltet mit dem Stausee ein Postkartenbild, allerdings mal wieder von tiefen Wolken bedroht. So muss ich taktieren, die Gelegenheiten mit einem Dach schon etwas früher nutzen, da der nächste Dauerregen in der Nacht sich recht deutlich abzeichnete.
[Mi 26.6.] Abzweig Gornerberg/Auerstöckle – Lappach – Neves-Stausee (1860 m) – Untermaueralm – Neves-Alm (1872 m) – Mühlen in Taufers – Sand in Taufers – Luttach – St. Johann im Ahrntal – Steinhaus – (St. Jakob) – St. Peter
47 km | 880 Hm
In Lappach hätte ich gerne das Museum zu Gletschern und Wasser besucht, scheitert aber wie so oft an mageren Öffnungszeiten kleiner Museen. Etwas verwirrt war ich über einen Tross von Menschen, der sich entfernt wellenartig die Straße hinaufschob. Als ich am Stausee ankam, erfuhr ich, dass es sich um eine hessische Schulklasse bei einem Ausflug innerhalb einer Klassenfahrt handelte.
Der Neves-Stausee entpuppte sich als wahres Highlight. Man muss dazu aber vom Asphaltende weiter die Piste am See entlangfahren, mindestens bis zur Untermaueralm, besser noch zur Neves-Alm. Neben eindrücklicher Gipfelkulisse erfreuen Alpenrosenteppiche und weitere Bergblumen Auge und Seele, lukullisch überzeugt die Neves-Alm mit schmackhaften Knödeln, auch gibts Käse zum Mitnehmen. So der Regen zunächst mich an der Weiterfahrt hinderte, komme ich ins Gespräch mit einem Göttinger Paar, die etwas in Angst um Tochter mit Freund haben, weil diese eine höhere Alm erwanderten. Verzweiflung, kein Telefonnetz, keine Wetter-Apps, der Almwirt muss beruhigen – einfach Abwarten, das Gebirgswetter richtet sich nicht nach Wetterapps. Am Ende fanden alle wieder zusammen, nur die Philosophie des gelassenen Wartens bringt den nächsten Schritt voran. Deswegen liebt man ja auch die Berge fern der modernen Scheinwelten.
Die Abfahrt bleibt trocken und bringt mich ins Ahrntal, das längste Obertal vom Taufers, auch das dichtest besiedelte. Unzählige Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen halten den Verkehr in Trab, obwohl viele Häuser unbewohnt scheinen. Noch ist nicht Hochsaison und die Konkurrenz wohl auch ungesund hoch.
[Do 27.6.] St. Peter – Prettau – Kasern – Prastmann/Ahrntal-Straßenende (1627 m) – via Almpiste – Trinkstein/Adleralm (1670 m) – Sand in Taufers – Rein in Taufers (Parkplatz Knuttental, 1670 m) – via Piste – Knuttenalm (1920 m)
63 km | 1565 Hm
Für kurz nahm ich den stellweise vorhandenenen Radweg, stiller und näher am Fluss, nette Rastplätze im feuchten Schatten. Bald bleibt nur noch Straße, durchbricht eine enge Kluse, wo kühn ein Arbeiter ohne Kollegenabsicherung allein die Felssicherung stabilisiert. Ein Almweidental weitet sich, das früher Bergarbeiter beheimatete, über die Geschichte informiert eine Bergbaumuseum, die Häuser zeugen von bescheidenen Wohnverhältnisse der ehemaligen Bergleute. In der Abgeschiedenheit mit langen Heimabenden hat sich gelungene Stickerei und Holzschnitzkunst entwickelt. Zwei bemalte Holzeierbecher von einem Kreativschnitzer schafften es in mein Souvenirdepot.
Am Asphaltende schwärmten zahlreiche Wanderer und Radler ins fortlaufende Tal aus – gute Piste, geringe Steigung. Ich dachte mir, vielleicht haben die Leute gute Wetterprognosen gelesen, dass so viele in die Wanderstiefel gestiegen sind. Doch blieb es den Tag lang meist düster, wenn auch ohne Regen. Bis zur Adleralm geht es so daher mit verloren wirkender Kapelle, duldsamen Kühen, schnatterndem Gänseteich, artenreichen Alpenblumen und ausgebüxten Ziegen. Mit etwas Anstrengung würde man wohl noch weiterkommen, doch wollte ich nicht unnötig Kräfte vergeuden, die ich noch brauchen würde. Stattdessen Stärkung mit Südtiroler Kaiserschmarren – war besser als der in Lüsen.
Zurück in Sand in Taufers, wartet das Reintal als dritter Tauferer-Ursprung. Der Anstieg erinnert wieder mehr ans Mühlwalder Tal, eine heftige Asphaltrampe gleich zu Beginn. Erholen kann man sich kurz auf dem abgeschiedenen Plateau bei Rein in Taufers, wo sich besonders ruhebedürftige Gäste in paar Hotels und Ferienwohnungen teilen – wie auch die Göttinger Familie, die ich am Vortag kennenlernte.
Wenig nach Dorfende schließt der Asphalt ab, die Piste eigentlich gut, aber war aktuell aufgeweicht durch Matsch und Baustellen. Zur Knuttenalm wird ein neuer Wasserabfluss gelegt, wobei ich nur darüber spekulieren kann, ob es sich um eine Vorstufe einer Asphaltierung handeln könnte. Zumindest einige betonierte Gullys verstärkten diesen Eindruck. Näher zur Knuttenalm, nimmt die Steigung deutlich zu. Dort war Betriebsschluss, die Terrasse aber gut geeignet für meinen Tagesabschluss. Ich höre zwar Geräusche aus den Zimmern oben, wo sich mindestens Mutter und Kind befinden müssten, doch niemand lässt sich blicken.