ALP-2024-TiSA-15
Urwüchsige Täler, karstige Hochweiden, Pilzsteine und Maronen – die Naturparkregion Lessinia
In die Monti Lessini (oder schlicht Lessinia) in den südwestlichen Vizentiner Alpen schneiden sich zahlreiche Nord-Süd-Täler hinein, die in die norditalienische Tiefebene zwischen Vicenza und Verona münden. Sind die südlichen Talbereiche und Höhenrücken zuweilen recht dicht besiedelt, so ist die Naturparkregion im Nordwesten mit größerem Hochplateau teils geradezu einsam verlassen. Dem hohen Grad an Verkarstung sind Höhlen und besondere Steinformen geschuldet, Wasserfälle und Quellreichtum lassen weiter unten das versickerte Quellgut formschön heraussprudeln. An der Westflanke besteht eine scharfe Abbruchkante zum Etschtal, wo sich einige lange und steile Anstiege bewältigen lassen, die ich aber nicht beradelt habe. Stattdessen bin ich mit einer zweiten Querachse West-Ost quasi wieder zum Ausgangspunkt in Schio zurückgeradelt mit entsprechend vielen Pässen und Höhengraten im Auf-und-Ab, das sich so zwangsläufig aus der Topografie ergibt.
Schio hatte ich als nüchterne Geschäftsstadt in Erinnerung, dabei hatte ich wohl einige schöne Seiten der Stadt übersehen. Die Villenkultur, aus Vicenza und durch den Baumeister Palladio bekannt, hat auch hier einige noble Spuren hinterlassen, die Einkaufszone verfügt über edle Geschäfte und Kreativläden – so auch ein Papierladen mit kunstvollen Kartenwerken. Die Ausfahrt nach Leguzzano ist etwas heikel, da die kleine Straße unmittelbar neben einer veloverbotenen Hauptader mit Tunnelforstsetzung verläuft, bevor sie in das Bergland abzweigt. Das ist auf einer Karte kaum auseinanderzuhalten und die Ausschilderung vor Ort dürftig.
Leguzzano liegt eigentlich abseits in steilen Obst- und Walnusshängen, sodass man dort kaum Leute erwarten würde. Da irritierte mich der stetige Verkehr auf der engen wie sehr steilen Anfahrtsrampe. Es war eine Ausnahme, da dort ein Fest veranstaltet wurde, wohl mit einer Sommerdisco. Da war mein Ziel, noch weiter zu flüchten, möglichst die Gegenseite des Hangs zu erreichen. Schöne Plätze warten überall, aber ein Schlafplatz direkt an einer Quelle – das hatte ich noch nicht.
[Sa 27.7.] Sorgente delle Acque – Crosaretta (Monte di Malo) – Mondini di Sopra – Località Cima (695 m) – Contrada Massignani – Valdagno – Figigola di Sopra – Urbani di Sopra – Passo Santa Caterina (796 m) – Campanella – Altissimo – Molino di Altissimo – Gromenida – Bolca – Venchi – Max. Venchi/Sprea (905 m) – Sprea
42 km | 1460 Hm
Schon der erste Passübergang überführte den sommerfrischen Morgen in einen hitzewallenden Tag. Geradezu dürstete ich immer wieder den vielen Brunnen und Quellen entgegen. Im nächsten Tal breitet sich Valdagno (Stadt- wie Talname) als bedeutender Industrieort aus, dessen Wirtschaftsgeschichte wesentlich auf Gaetano Marzotto zurückgeht, der die Textilfabrik der Stadt zu großer Blüte führte. Die Nachfolger des Firmenclans wurden teils bekannte Rennfahrer. Heute ist der Textilkonzern an mehreren bekannten Modelabels wie Hugo Boss und Valentino beteiligt.
Im Zentrum herrschte gerade großer Trubel wegen eines Berglaufs. Ein gut gekleideter Inder, der bereits Jahrzehnte in Valdagno weilt, lud mich spontan zum Kaffee ein. Ich vermute, dass er sich etwas einsam fühlte. Ich fragte, ob er sich glücklich in Italien und der Stadt fühlt. „Glücklich wird man überall, wenn man gute Arbeit hat, wenn nicht, kann man auch im schönsten Ort unglücklich werden“, bedeutete er mir seine Lebensweisheit. Ich fühle mich ertappt, dass mein Glück dieser Radtour nicht nachhaltig sein wird. Vielleicht bin ich deswegen lieber unterwegs als zuhause.
Der nächste Pass zehrte stark an meinen Kraftreserven, die Hitze nahezu unerträglich. Auf halber Höhe pflegt sich auf der Gegenseite das Bergdorf Altissimo lieblich ins Val Chiampo. Erfrischend rauscht der Fluss durch die Talsohle, doch ist nur schwer ein Zugang zum kühlenden Nass zu finden.
Nicht unbedingt einfacher, aber schattiger windet sich die Straße Richtung Bolca, das eigentlich schon eine Passhöhe ist. Der Ort hat Renommee durch ein Fossilienmuseum, auch mit Funden aus den Höhlen, derer sich viel über die Monti Lessini verteilen. Schleichend und wellig schiebt sich die Straße hinauf über ein Hochplateau, nunmehr weit die Blicke und offen das Gelände unter der hereinbrechenden Nacht. Der Tag endete für mich an einem Balkonort, wo ich im einzigen geöffneten Restaurant noch eine Flasche Bier zum Mitnehmen ergattern konnte.
[So 28.7.] Sprea – Ca‘ del Diavolo – Badia Calavena – Bettola – San Mauro di Saline (800 m) – San Rocco di Piegara – Paravanto – Madonna del Vajo – via Strada della Pissarotta – Abzweig SP15 – Carcereri – Cerro Veronese (740 m) – Carcereri – Prati – Corrubio – Lugo – Bellori – Ponte Basagenoci – Barozze – Fosse
62 km | 1550 Hm
Die Westflanke von Sprea öffnete sich mir am herrlichen Morgen als sattgrünes, liebliches Tal mit Weiden, Wiesen, und Wald, typisch mittelgebirgig wie es auch im Odenwald aussehen könnte. Nach einem Cappuccino in Badia Calavena im Val d’Illasi begab ich mich zum nächsten Höhengrat. Ist die Anfahrt zunächst noch verkehrsarm, stieß ich in Bettola auf starken Sonntagsverkehr. Wo gibt es denn Freibier?
Eine von mehreren denkbaren Antworten fand ich im kleinen San Mauro di Saline, einer Metropole der regional bedeutenden Maronenproduktion. Auf der örtlichen Piazza fand ein lokaler Kunsthandwerksmarkt statt. Die spiralgewickelten Blumengestecke einer Frau, die sie nebenberuflich sich ausdenkt, fanden meinen besonderen Applaus und Platz in meinem Souvenirdepot. Ein paar professionelle Künstler stellten größere Schnitzwerke vor. Der Publikumshit war aber eher Eis und Aperol Spritz aus der Gastrohütte.
Um in das urwaldähnliche Pissarotta-Tal mit Schlingpflanzen und steilen Felswänden zu gelangen, stieß ich auf eine gesperrte Straße bei Paravanto. Zwar sind Teile der Straße von Pflanzen bereits aufgerissen, doch kommt man ganz gut runter und ganz allein. Wenig besucht ist auch die Pissarotta-Straße, als Radroute ausgewiesen. Ein stechender Kontrast dazu das trubelige Cerro Veronese auf dem Höhenrücken. Auch dort fand wohl ein Kunstmarkt statt, auf dem gerade die letzten Händler ihre Stände zusammenpackten.
Die nächste Auffahrt nach Fosse ist langgezogen, aber weniger steil. Da sich mehrere Straßen nach Fosse splitten, verteilt sich der Verkehr entsprechend und die SP14 ist eher weniger frequentiert. Die Strecke wird unten begleitet von einigen Felswundern nahe der Strecke. An der Ponte Basagenoci kann man über einen schmalen Steig einen urtümlichen Moos- und Kaskadenwald bewandern. Fährt man wenig weiter, hebt sich etwas fern von der Straße eine gigantische Felsbrücke, die Ponte di Veja. Die hat eigentlich auch ein Straßenzufahrt, aber von der ganz entgegengesetzten Seite. Ich musste mich da mit dem fernen, schon recht eingedüsterten Blick zufrieden geben.
Fosse ist etwas seltsam auf dem Höhenrücken verteilt und eigentlich eine Passhöhe, auch wenn sich dafür kein Name finden lässt. Einige Lokalitäten schlossen für italienische Verhältnisse recht früh, nur mit Mühe konnte ich zwei jungen unwilligen Gastwirtinnen noch ein warmes Panini abringen. Ich hätte nur wenig weiterfahren sollen, da war noch ein Lokal mit mehr Publikumszuspruch offen. Indes zog ein wildes Unwetter auf und ich konnte mich nur noch unter das Vordach der örtlichen Kirche retten. „Vergelt’s Gott!“ sagte mal wieder der Agnostiker in mir.
[Mo 29.7.] Fosse – Martellengo – Tommasi – teils via Piste – Col di Pealda Bassa/Passo Monte Cornetto (1471 m) – Sega di Ala – Passo delle Fittanze della Sega (1399 m) – Bivio/Passo del Pidocchio (1565 m) – Bocchetta della Vallina (1487 m) – Sale – Campagna (Erbezzo) – Masselli – Sella della Croce (1147 m) – Bosco Chiasanuova – Grietz – Passo del Branchetto (1591 m) – San Giorgio – Località Conca dei Parpari – Camposilvano
54 km | 1550 Hm
Als Passhöhe gefahren, würde man von Fosse zur anderen Seite ins Etschtal hinunterstürzen. Die Straße ist aufgrund der Steilheit und Enge für eine Veloabfahrt offiziell verboten. Ich hatte das aber auch gar nicht vor, sondern suchte den weiteren Anstieg Richtung Monte Cornetto, ein Berg mit monumentalen Kriegsdenkmal, der die umgebende Hochebene beherrscht. Nur für einen kleinen Teil muss man den Asphalt zugunsten einer gut fahrbaren Piste verlassen.
Nach Sega di Ala stürzt ein schmales Sträßchen tief hinunter, wo ein paar Lokale und sogar ein Campingplatz auf Gäste warten. Von dort fährt es sich recht leicht in einem weiten Bogen zum Passo delle Fittanze della Sega, wo sich die Einkehr in das Almbistro mit weiter Aussicht lohnt.
Typisch für die fortführende Höhenroute wie auch schon die Umgebung bei Sega di Ala sind eigenwillige Pilzfelsen, die an geschichtete Baumpilze erinnern oder aber auch an einen Stapel von Zeitungen oder Pfannkuchen. Es sind karstige Felsformation, die durch Erosion entstanden sind.
Einen Höhepunkt dieser Felsformationen findet man auch weiter südöstlich bei Camposilvano mit dem Valle delle Sfingi (Sphinxsteine), wo ich am Abend die Etappe beenden sollte. Dazwischen liegen noch mehre Auf- und Abstiege mit dem charmanten Ort Bosco Chiasanuova mit empfehlenswertem Spezialitätenladen und einer weiteren Plateauauffahrt über den Passo del Branchetto.
[Di 30.7.] Camposilvano – Velo Veronese – Scrivazzi – Bernardi – Vanti – Campeggio Stella Alpina – Roncari – Passo Gioiche/Joike (1148/1153 m) – Campiglieri – Rancani – Durlo – Bruni – Ferrazza – Crespadoro – Marana – Bertoldi – Passo del Zovo (765 m) – Maso – Maglio di Sopra – Marzotto – Novale – Rosati – Passo Zovo (631 m)
60 km | 1420 Hm
Mir war am Vorband ein dickes Insekt auf meine Netzhaut geflogen, was einen harten Schlag tat. Am Morgen stellte ich fest, dass das Auge Blut unterlaufen war. Da ich unsicher war, ob es ohne Behandlung zu bleibenden Schäden kommen könnte, versuchte ich mir Rat in einer Apotheke zu holen. In Velo Veronese bildete sich nach Öffnung gleich eine lange Schlange an Kunden, während ein Paar offenbar die Apotheke eher als Plauderecke betrachtete, sodass ich nach einer Kaffeepause erstmal weiterfuhr. Später in Crespadoro erwarb ich Augentropfen, obwohl mit der Apothekerin nicht fachkundig weiterhelfen konnte. Ob die Tropfen geholfen haben, kann ich letztlich nicht sagen, das Auge regenerierte jedenfalls nach einer gewissen Zeit, Schmerzen hatte ich ohnehin nicht.
Die Strecke kennzeichnet ein enges Auf-und-Ab von schmalen Straßen, in den Talsohlen schweigen alte Mühlenruinen. Die Grotta dell’Orso, noch eher in der Nähe von Velo Veronese, spiegelt erneut die karstige Struktur der Region wider. Ein besonders verwegenes Sträßchen windet sich steil von Bernardi nach Roncari hinauf. Nunmehr öffnen formschöne Kuppenberge die liebliche Hügellandschaft.
Zwei Wasserfälle haben sich beim Passo del Zovo in die Felsnische gefressen. Als Zovo-Pass sind in der Region gleiche mehrere Pässe bezeichnet, sodass man anschließende Orte angeben muss um Verwechslungen zu vermeiden. Folgend wurde die Landschaft vertrauter, weil ähnlich zur Anfahrt in die Monti Lessini vor drei Tagen – der Kreis war geschlossen. Die urbane Besiedlung und Industrialisierung im Valdagno (ebenso Tal- wie Stadtname) setzt sich auch weiter oben fort, so ich dort Novale bereits in den Abendstunden querte. Da ich keine Rastmöglichkeit an der Straße erkennen konnte, schwang ich mich noch auf durch die Nacht bis zum nächsten Zovo-Pass, der recht flott wie leicht erreicht ward.