Miguel, das Radschrauber-Original aus Luchon
Die Einfahrt ist ein Kiesboden. Er glänzt etwas unwirklich. Kies? – Ein braun gebrannter, quirliger wie schrulliger, leicht rückengekrümmter Mann lässt seine Blicke scharf über den Kies schweifen. Dann stößt er mit Hand wie ein Falke in den Boden und fischt ein Steinchen heraus, betrachtet es genau – schmeißt es weg und sucht ein zweites. Das hält er fest, ein leichtes Lächeln fällt in seine Mimik. Nein – es ist kein Steinchen, es ist eine Schraube. Der Kies – es sind keine Steinchen – es sind Schrauben und Muttern, Belegplättchen oder auch mal ein Federchen. Es ist ein Schrottplatz – besser: ein Werkstattkasten. Nur open air.
Ich bin im Casa de Miguel. Es war halt die erste Radwerkstatt zur nordwestlichen Einfahrt nach Bagnères-de-Luchon, die ich fand. In St-Beat riet mir Kellner, nach Bagnères zu fahren – die beste Wahl umliegend. Ich weiß nicht, ob er Miguel meinte. Aber es kann eigentlich nur so sein. Meine Felge drohte zu platzen. Abgerieben zur breiten Rille, dann angeschwollen und jetzt langsam die Felgenwand sich vom Felgenbett ablösend – so rollte ich bei Miguel ein, ohne die Hinterradbremse zu betätigen.
Miguel wandte sich mir zu und fragte in Französisch, was denn mein Problem sei. Ich zeigte auf die Felge und versuchte, ihn zu etwas Englisch zu bewegen. Er wunderte sich etwas um mein Besorgnis und meinte, nur einen Reifen tauschen zu müssen. Quasi Pippifax. – War er denn blind? Habe ich Pech, ein Dilettant, der sich an meinem Rad versucht? Es warteten ja noch zahlreiche Pyrenäenpässe.
Dann murmelte er in einem Mischmasch aus Französisch und schlechtem Englisch so etwas wie „sieht nicht gut aus“. Doch gleich blitzten seine funkelnden Augen auf, so als hätte er eine „Heureka“-Erfindung gemacht. Sportlich bewegte er sein hagere Gestalt in den Laden. Dieser bestand eigentlich aus zwei Etagen, denn die Decke war komplett behangen von Rädern, Felgen, Reifen Trikots und mehr. Es gab auch Schrott, aber mehr funklend neue Teile. Unten standen die Komplettfahrräder, in sich verkeilt, sodass es wohl dauern musste, wollte man ein gewünschtes herausgreifen. Dazwischen Kartons mit Neuware aller Art. Es war gut, dass Miguel nicht groß war, konnte er sich daher recht flott unter dem Radsammelsurium bewegen.
Mit zielsicherem Griff pflückte er eine Felge herunter und klopfe mit einem Schraubendreher auf die Felge. „Die ist gut – mit Keramik, nicht wie meine“, gab er mir warnend wie belehrend zu verstehen. Immerhin, 26-Zoll-Felgen sind im Rennradland Frankreich nicht immer vorhanden. Ich grübelte leicht, als ich die Felge in der Hand versuchte zu wiegen. Sie war doch recht schwer. Noch einmal betonte Miguel die Stabilität der Felge. Ich willigte ein. Und Miguel begann sein Handwerk.
Es war ja nur eine Felge. Also aus- und einspeichen. Ich dachte, es wird mir die Reisekasse plündern. Aber das ist Schicksal. Hauptsache, es rollt danach wieder. Flink löst Miguel Speiche um Speiche. Doch dann kommt ein Kunde. Also muss Miguel die Arbeit unterbrechen. Er deutet mir an, dass er bald an der Felge weiterarbeitet. Er legt mir Ringbücher mit in Plastikhüllen eingepflegten Fotos vor. Auch sind Texte dazu zu lesen. Es handelt sich um Radprofis. Profis, mit den er zusammengearbeitet hat, wie er beginnt zu erzählen. Er scheint eine große Zeit hinter sich zu haben. Auch er war Rennfahrer. Stolz nennt er die Namen, erwartet, dass ich sie kenne. Ich nicke, ohne die Namen wirklich zu kennen. Einer der Radprofis scheint mir was zu sagen, habe ihn bald aber vergessen. Noch immer pflegt er Kontakte zu Radrennfahrern, ist offenbar geschätzter Mechaniker der Szene.
Miguel hat wieder die Arbeit aufgenommen. Fachmännisch begutachtet er die Speichen, ersetzt ein oder zwei, prüft die Nippel. Dann beginnt er mit dem Einspeichen, konzentrierter wird sein Gesicht, er klemmt die Augen zuweilen zwischen die Speichen. Unerwartet unterbricht er wieder seine Arbeit, kommt auf mich zu. Ob ich ihm ein Pain au Chocolat beim Bäcker besorgen könne. Ich verstand erst nicht recht, war ich ja nicht beim Bäcker sondern im Radladen. „Pain au chocolat“, unterstrich er nochmal fest, „Boulangerie à troix cents metre.“ Ich versicherte mich nochmal – nur eins? Wird ein Radmechaniker davon satt? Ein ehemaliger Rennradfahrer? – Offensichtlich ja. Ich solle mir auch eins kaufen, für mich, er zahle es.
Ich besorgte das Pain au choclat – natürlich auch für mich (nein, nicht eins, dazu noch Kuchen und mehr), wehrte aber die Einladung ab und spendierte ihm das Pain au chocolat vice versa. Er biss hinein mit Wonne, die Glucksaugen glücklicher als zuvor, krempelt die Arme nochmal hoch als sei er zu neuen Kräften gelangt. Nicht lange dauert es, dass der nächste Kunde anklopfte. Ein junger Kerl scheint bereits etwas vereinbart zu haben. Miguel bespricht mit dem Jungsportler Details verschiedener Rennräder. Miguel vermisst die Größe und sucht zielgerichtet ein Rad. Es ist kein Kauf, nur eine Ausleihe. Die Wahl fällt auf ein Rennrad mit veralteten Klickpedalen. Miguel klopft und hätschelt den Jungen wie ein Vater, setzt ihm einen Helm auf, betätschelt ihn mit den Händen. Zum Schluss eilt er noch mit Wasserflasche zur Wasserstelle an der Straßenecke, füllt sie auf und steckt sie am Rahmen des Rads fest. Ein letzter Klaps und freie Fahrt.
Es gibt viel zu schmunzeln für mich, aber es dauert auch eine gehörig lange Zeit auf diese Art. Nahezu drei Stunden sind vorbei mit Ein- und Ausspeichen. Miguel arbeitet aber unbeirrlich. Das Kautzige ist seine Art, aber alles, was er tut, hat Hand und Fuß. Die letzte Justage der Bremsen nimmt er haargenau. Ich winke schon ab – es sei gut. Nein, immer justiert er wieder nach, bis der Lauf an den Bremsbelägen entlang exakt gleich und parallel verläuft. Er stellt die Schaltung neu ein – so gut hatte sie mir kein deutscher Radmechaniker bisher eingestellt. Der Col de Balés darf nun kommen.
Was bekommt ein solcher akribischer Könner seines Handwerks für die Arbeit? – Ich möchte eher schweigen, als die 15 Euro zu erwähnen (gewiss, auch 2011 war das sehr wenig) – für knapp drei Stunden Arbeit – okay, es waren netto vielleicht nur zwei. Leidenschaft zur Arbeit, die Bescheidenheit – und doch Könnerschaft. Das geht wohl nicht mehr lange so, in Deutschland schon lange nicht mehr. Da blieben die 58 Euro für die Felge ein doch nur kleines Loch in der Reisekasse. Und die Erinerung an eine große Persönlichkeit – wertvoll im Menschenhaufen wie jedes scheinbar nur dahingeworfene Schräubchen im Miguels Kieshof. Mit Freiheitsstatue. Für das Rad. Ein starkes Symbol.
Miguel scheint beliebt bis weit in Reiseradlerkreise. Schon einen Abend später treffe ich in Arreau ein deutsches Radlerpaar beim Abendessen, die Miguel gleichwohl kennen und schätzen lernten. Miguel aber ist mehr als ein Radmechaniker oder ein Ex-Rennfahrer. Miguel ist ein Original. Ob er denn noch schraubt und schalkig seine Kunden betreut? Ich würde gerne nochmal von ihm hören. – Miguel – Danke, großartig!