ALP-2020-RA-2
Sgraffiti-Perlen, Bähnliromantik, Modern Art und glaziale Urwelt: Vom Albulatal durchs Oberengadin zu den Bernina-Alpen
Inhalt
- Das Albulatal – Symbiose von Natur, Architektur und Technik
- Das Oberengadin – nicht ganz eisfreie Ansichten mit Überraschungen
Das Albulatal – Symbiose von Natur, Architektur und Technik
Rätselhafte Schaltungsarithmetik ohne Diagnose
Noch mehr als am Vortag brennt im Tal in Thusis eine Hitze, die mich nahe an den Schmelzpunkt bringt. So trödele ich etwas mit Eis und Bad im Rhein, etliche Reiseradler kreuzen den Weg, die die Via Mala, Splügen- oder den San Bernardino Pass anstreben bzw. passiert haben. Noch im Tal in Sils im Domleschg versagt meine Schaltung erneut. Da ohnehin Sonntag ist, hoffe ich auf Hilfe am nächsten Tag an der Passstrecke oder im Zweifel im sportlichen Oberengadin.
Nach kürzerem Anstieg besteht das Albulatal zwischen Thusis und Tiefencastel aus längeren Flachpassagen, gar abfallenden Teilen. Schluchtteile bleiben oft unsichtbar, da von der Straße abgeschirmt. Auf Flüsterasphalt fliegt das Rad fast dahin. Phasenweise halte ich den Schalthebel gedrückt, um wenigstens den mittleren Kranz zu nutzen. Die gereizte Hand verbietet das aber dauerhaft. Nach dem wuseligen Thusis träumt Tiefencastel nur noch als verschlafenes Bergörtchen an der Verzweigung von Albula- und Julierpass dahin. Ich berate mich mit dem Campingwart über Radläden. Er meint, die beste Möglichkeit wäre Lenzerheide, wozu ich aber meine Tour ändern müsste, obwohl ja später noch Zwischenziel. Bergün ginge auch, da gäbe es einen Sportladen mit Rädern. Das passt ja, obwohl die Shops in Lenzerheide professioneller sein sollten.
Die vorläufig weitere Schaltodyssee sei vorweggenommen: Der Sportladenbetreiber in Bergün erklärte sich für nur wenig befähigt, die Schaltung zu reparieren. Er verdächtigte ein Hakeln an der Laufführung des Schaltzugs. Nochmal neu gespannt und mit einer Portion Öl soll das Problem gelöst sein – zumindest für eine Stunde, in der das Rad allerdings weitgehend zur Mittagsrast stand. Ich beschloss, erstmal den Pass mit dem weiterhin defekten Umwerfer zu bewältigen und Radläden im Oberengadin aufzusuchen. Glück hatte ich dann, aber nicht durch einen Radmechaniker, sondern durch ein Wunder.
Noch weiß ich aber nichts von einer Wunderheilung. Ich bleibe zunächst Hoffnungsträger. Im Albulatal hatte ich mit dem Soliser Viadukt die erste historische Bahnbrücke der Reise passiert, zugleich schon das zweithöchste Viadukt der Rhätischen Bahn. Auf der Flussterrasse in Tiefencastel genieße ich sodann den rauschenden Albula mit Bähnliromantik und klassischer Schweizer Küche: Gemüsesuppe, Schweinerückensteak mit Morchelschaumsauce und Gemüse, Spätzle, ein Eis, ein Bier. Die Machart ist etwas vom Zeitgeist abgekoppelt. Für die Nacht bleibe ich für erstaunlich schlichte 15 SFR auf dem Camping, das Ambiente familiär, die Sanitäranlagen recht einfach in einer Baracke.
Ich bin hier nicht der einzige Radreisende, auch das bestätigte sich am Folgetag. Der Albula hat viele Radfreunde – Rennradler, Bikepacker, E-Biker. Mit Vollgepäck falle ich auf der Reise immer wieder auf – das scheint ein Auslaufmodell, zumindest bei Radlern ohne Motor und in den Bergen. Die Moden altern schnell, die einst hofierte Entschleunigung wird heute wieder beschleunigt und zunehmend mehr vermarktet. Doch die Nacht in den Bergen hat immer noch seine hörbare Stille. Nicht alles ist käuflich. Welch Glück!
Mo 20.7. Tiefencastel (851 m) – Surava – Alvaneu Bad – Filisur – Bergün – Preda – Lai da Palpuogna – Albulapass (2321 m) – La Punt Chamues-ch (1686 m) – Beever – Samedan (1765 m, Funtanella)
53 km | 1595 Hm
Sgraffito – malerische kratzige Wohnperspektiven
Mit Filisur erreiche ich auch das nördliche Galerietor zu einem sichtbar prägendem Stück Engadiner Kultur und einiger Nebentäler wie z. B. Albula, Val Müstair oder Bergell. Es ist das auf seine Weise charakteristische Engadinerhaus, dessen vorstechendes Merkmal neben den dicken Mauern mit ungeraden Linien die Sgraffito-Motive der Fassaden sind. Durch Kratzen und Abtrag von Flächen und Linien entstehen auf mehrfach angeordneten Putzschichten unterschiedlicher Farbe geometrische Muster, fantasiereiche Motivbilder oder kaligrafische Schriftzeichen. Dieser Architektur habe ich ein Sonderthema gewidmet, das ein pittoreskes Feuerwerk zu den Dörfern im und ums Engadin entfacht: Das Engadinerhaus – mehr als eine kunstvolle Heimstatt.
Mit Bergün ist schon gleich die zweite Perle der Engadinerhäuser erreicht. Der Ort bildet einen Kristallisationspunkt für Wanderer und Radler im Albulatal, gibt es doch hier die beste Versorgungsmöglichkeit auf der Strecke. Wohl kaum ein Radler hat sich hier nicht nehmen lassen, für eine Kurzweil an einen Brunnen zu sitzen.
Weltmeister des Bahntrassenbaus
Wieder ein Sprung zurück. Mit der Verzweigung zu Julier, Albula, Lenzerheide und Davos (wenig weiter in Alvaneu Bad) trennen sich in Tiefencastel – heute auch Teil der politischen Gemeinde Albula – nicht nur diese Verkehrswege. Es folgen weitere wichtige, auch historische Schnittstellen der Verkehrsachsen. Diente die Lenzerheide-Julier-Achse – früher noch direkter und frequentierter über den Septimerpass – bis in die Römerzeit zurück als wichtige, wenngleich beschwerliche Verkehrsachse zwischen Rheintal und Norditalien, so stehen Albula- und Landwassertal vor allem für bedeutende neuzeitliche Verkehrswege – als Autostrasse, aber noch mehr für die Eisenbahn, wenngleich sie schon früh mehr eine touristische Funktionen erfüllte als eine zentrale Bedeutung für den Transport von Waren zu gewinnen.
In Filisur werden Albulabahn und die Landwassertrasse nach Davos getrennt. Noch vereint fahren die Züge über das berühmteste Bahnviadukt der Rhätischen Bahn, das Landwasserviadukt. Ausgerechnet versäumte ich den Exkurs zu diesem Bogenviadukt, da mich das Malheur meiner Schaltung dazu drängte, den Radladen in Bergün noch vor der Mittagspause zu erreichen.
Bergün ist der Basisort für eine der aufregendsten Bahntrassen der Welt, der Albulabahn. Es entfaltet sich fortan ein Labyrinth von Viadukten, Kehr- und Spiraltunnels. Dabei wechseln die Züge mehrfach die Talseite, während sie zwischenzeitlich immer wieder im Berg verschwinden. Das Bauwerk stammt aus der Jahrhundertwende um 1900, Kehr- und Spiraltunnels wurden aber schon zuvor an Gotthard und Brenner gebaut. Erfunden hat es aber – wer wohl? – genau, ein Schweizer, der Ingenieur Achilles Thommen. Neben dosierten Steigungen, die die Züge im Berg fahren, um auf kurzer Distanz eine große Höhe zu gewinnen, galt es weitere Tücken zu beachten. So drohen die Tunnels im Winter zu vereisen und bis heute hat man dazu Türen eingerichtet, die sich bei Durchfahrt des Zuges öffnen und dahinter wieder schließen.
An bevorzugten Schauplätzen postieren sich schon mal Besucher, die den Picknicktisch aufstellen und auf die fahrenden Züge warten, um fast kitschige Fotos in der meist lärchenbewachsenen Alpinbahnwelt zu machen. Die Rhätische Bahn gehört heute mit der Albula- und Berninatrasse zum UNESCO-Welterbe. Auf einem Bahnerlebnisweg findet der Wanderer die besten Plätze zwar besser als der Radler von der Straße aus, aber gute Perspektiven gewinnt man auch dort und kann ggf. zu einigen Aussichtsplätzen gelangen, wenn man absattelt.
Ein unsichtbarer Kriegszustand im Berg
Der Albulapass wandelt sein Gesicht ziemlich drastisch, wenn er die Höhe von Preda gewonnen hat. Preda selbst ohne eigenen Dorfkern prägen die Werkanlagen für den Tunnelausbau, für den hier Beton angemischt wird. Noch vor Preda wachsen dramatische Felskulissen zu den Seiten und am Horizont empor. Manche Bergspitzen erinnern an vulkanische Kegelberge. Ist der Zug im Tunnel bei Preda verschwunden, taucht bald ein kleines idyllisches Intermezzo mit dem kleinen Stausee Palpuogna auf, der gerne in smaragdgrünen Farbtönen leuchtet.
Den See im Rücken, steigt die Straße bald in offenes Bergland auf, nur selten drängen Nadelbäume an die Strecke, wenn der Wasserfall mit der Albulaquelle bei einer Forschungsstation erreicht ist. Das Bergwiesengrün bildet nunmehr eine weite Mulde, die die Straße großräumig umfährt, um schließlich die baumlose Berghöhe zu erreichen. Dort bestimmen Geröllfelder mit großen Granitbrocken eine Mondlandschaft. In dieser Ödnis fanden die Militärs ideale Bedingungen für getarnte Bunkeranlagen, die die Schweizer sowohl mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg als auch den späteren Kalten Krieg schützen sollten. Bereits in den 1980er Jahren wurde die militärische Funktion eingestellt, heute kann man die Bunkeranlagen als nie wirklich gebrauchte Überbleibsel einer vergangenen Epoche besichtigen.
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