Menaggio am Comer See, Uferpromenade mit Seeblick
Alpen,  Lombardei,  Oberbayern,  Südtirol-Trentino,  Tirol,  Touren,  Venetien

ALP-2004-1
Comer See – Gardasee – Brenner – Oberbayern: Vom Frühling ins Schneegestöber

8 Tage ░ 21.-28. März 2004

  • 931 km
  • 116 km/d

Die Tour mit ausschließlich Gasthofübernachtungen führte von Como entlang drei der Oberitalienischen Seen (Como, Iseo, Garda), durch die Alpenstadt des Jahres 2004, Trento, das Eisack- und Inntal und eher flache Teile Oberbayerns bis in die untere Lechregion. Mit Aprica und Brenner ging es über zwei niedrige Alpenpässe. Der Kampf galt aber bald mehr den Elementen im eingebrochenen Vorfrühling: Schnee, Sturm und Kälte.

(1)Stuttgart || per Bahn NZ 23.31-7.00 || Como – Menaggio – Sorico – Sondrio – Passo dell’Aprica (1176m) – Èdolo – Malonno158 km
(2)Malonno – Breno – Boàrio Terme – Pisogne – Iseo – Brescia – Desenzano140 km
(3)Desenzano – Peschiara di Garda – Malcesine062 km
(4)Malcesine – Arco – Trento – Bozen – Atzwang132 km
(5)Atzwang – Brixen – Sterzing – Brenner (1374m) – Gries082 km
(6)Gries – Innsbruck – Hall – Schwaz – Wörgl105 km
(7)Wörgl – Kufstein – Brannenburg – Bad Feilnbach – Miesbach – Brunnthal – München-Sölln122 km
(8)München-Sölln – Wolfratshausen – Ambach – Seeshaupt – Weilheim – Landsberg – Türkheim || per Bahn || Stuttgart130 km

Touridee

Wenn es historisch korrekt sein soll: Es war schon nach den Iden des Märzes 2004, da ich den Resturlaub antreten sollte. Wo könnte da ein besseres Terrain sein, als den Vorfrühling südlich des Alpenkamms zu begrüßen. Die Oberitalienischen Seen sind so etwas wie die Frühlingsbotenregion des Alpenraums. Bevorzugt in Nord-Süd-Richtung strecken sich die Täler mit den großen Seen der Sonne entgegen, die noch milde Strahlen sendet. Lediglich im Adda-Tal des Veltlins würde ich eine Ost-West-Achse zwischen Bergen beradeln – und dieses Tal ist sehr breit, dass ich auch dort Sonne erwarten konnte.

Sonne und warme Luftmassen versprachen eine liebliche vorösterliche Ouvertüre für die schnell entschlossene Tour. Auf dem Weg zum Nachtzug besetzten die toskanisch geprägten Schwaben zahlreiche Straßencafés. Kurzärmelig flog ich durch die laue Luft der Dunkelheit, laut das Gewimmel der Stadtmenschen.

Mit den oberitalienischen Seen verbinde ich frühe Kindheitstage, da ich einst im Schoße der Familie mal am Lage Magiore im Urlaub weilte. Die Palmenriviera der Seeufer und die bunten Blumeninseln hatten sich ins Gedächtnis gebrannt – natürlich auch der exklusive Jetset mit Lamborghinis, nicht selten Steuerexilanten aus Deutschland in der Schweiz. Diese röhrenden Asphalthirsche machten aber schon lange keinen Eindruck mehr auf mich – denn der Pedalgeist hatte mich seit einigen Jahren vollständig eingefangen.

Anreise mit Schlafentzug

Hätte es nicht diese vielen Träume in meinem Kopf gegeben, wäre ich an der Nacht zerbrochen. Unablässig bewanderten Zollbeamte mein Abteil, in dem ein Emigrant – seinem Teint zufolge wohl aus dem Balkan – ohne gültige Ausweispapiere saß. Erst in Chiasso hatte das Aufwecken mit ständigem Licht-an-Licht-aus-Knipsen ein Ende, als sie den Mann in Gewahrsam nahmen. Die wenigen Kilometer noch allein im Abteil konnten da die wahre Schlafruhe nicht mehr zurückbringen. Ein schlechtes Omen oder doch nur ein kurzer böser Traum?

Duftende Postkartenidylle

Como am frühen Morgen, die Stadt gleich verlassen und getankt eine tiefe Nase voll sogleich am ersten Seeuferkontakt. Das Frühlingswetter hatte sich auch auf der Alpensüdseite verbreitet und die Temperaturen erreichten gar die 20-Gradmarke. Und die lieblichen Uferorte zur Westseite erfüllten all die Erwartungen von blumenreichen Promenaden, von leicht wogenden Schiffchen und Kähnen in pittoresken Häfen, Gärten und Villen protzten mit verführerischen Augenblicken und überschäumender Farbefülle. Bella Italia küsste mit warmen Munde meine Lippen. Sogar der Verkehr hielt sich zurück, den frühen Morgenstunden geschuldet – kein Italiener mag da die Augen von den späten Nächten aufschlagen.

Nach Norden wirkt die Region etwas weniger postkartenhaft, auch Besiedlung und Verkehr sind stärker ausgeprägt. Entlang der Adda kann ich das weiche, leicht dunstige Frühjahrslicht ganz genießen. Etwas schämte ich mich, meinen Hunger in einem McDonalds zu stillen. Das ist ja nicht unbedingt Postkarten-Italien. Am Fuße des Passo dell’Aprica grüßen noch Rebenhänge von den gegenüberliegenden Südhängen. Es war mir, als würde ich einen großen Schluck Frühjahr von besonderem Jahrgang trinken.

Mit jedem Meter wurde der Aufstieg kühler, auch bildete sich Schatten, der Berg nicht ganz offen. Auf dem Passo dell’Aprica – immerhin war die Tausendmetermarke überschritten – wuselten fast unwirklich Skifahrer über die Straße, Lifte brachten Vermummte von noch höheren Bergen umher. Die Passhöhe ist weniger Postkarte als funktionale Bedienung von Freizeitkonsum. Der Schnee war hier zur Seite zu hohen Bergen aufgeschüttet, doch taute er bereits deutlich weg. Es reichte aber noch, der darüber streifenden Luft mehr Kühle zu verleihen, als die Atmosphäre eigentlich vorgesehen hatte.

Zwei Brücken in Edolo mit 2 Autos auf erster Brücke
Doppelte Dopplung in Édolo (Bild von 2007)

Mamma-Pasta mit klasse Sugo in Malonno

Mit Edolo erreichte ich das wieder abendmilde Valcamonica. Die Zeit für eine Unterkunft war gekommen und ich fand in Malonno eine eher abgewirtschaftete Kaschemme. Dass sie „Eternita“ hieß, beruhigte indes doch – sie wird dann wohl kaum zusammenfallen, wenn der Name Programm ist. Urig knarzte das verkratzte Bettgestell, manches Teil drohte von der Wand abzufallen, das Waschbecken würde bei Hotelbewertern keine Gnade finden. Einmal mehr stand die Frage im Raum, wieviel Luxus braucht der Mensch wirklich. Denn ich war glücklich.

Das Glück addierte weitere Genusspunkte, als ich im Restaurant des Hauses unauffällig klingende Pasta mit Sugo bestellte. Bis heute liegt in meinem Gaumen dieser Geschmack von intensiv tomatigem Sugo, die Pasta von aromatischem Parmesan ummantelt, das herzhaft bereichernde Rosmarin. Es war jene Mamma-Pasta, die man heute in Italien immer seltener findet, aber die so einzigartig gemacht ist, dass sie im Gedächtnis bleibt. Das beste Sugo aller Zeiten, noch bis heute gerechnet – immerhin im Rückblick von 15 Jahren und nach den Besuchen zahlreicher Besserrestaurants an der Sternegrenze. Pasta, Tomate, Olivenöl, Parmesan und noch eine geheime Dosis von Kräutern – so einfach ist das Gute, wenn es mit Liebe, mit Erfahrung zubereitet wird. Malonno blieb so in meiner Erinnerung und später lernte ich dort auch eine einzigartige Kastanienbäckerei kennen. Man muss nicht nach Venedig reisen, um die Liebe zu Italien zu entdecken. Man muss nicht im Michelin-Führer Sterne recherchieren, um kostbar zu kosten. Und man muss nicht nach Rom fliegen, um das Ewige zu finden.

Malonno, oh Wonne des Genusses, in Eternita!

Akustischer Terrorismus

Einige Passagen im unteren Valcamonica waren stark autobetont, Nebenstraßen teilweise schwer zu finden oder gar nicht vorhanden. Am Nordende des Ostufers muss man eine Tunnelpassage akzeptieren, in der LKWs oder Motorräder eine unangenehme Dröhnung entfachen. Es wäre zumindest heute an der Zeit, auch Motorräder mit E-Motor zu bauen. Ich fürchte, dass es an der breiten Motorbikerszene scheitern wird, für die der rauchige Sound Teil der Identität und Freiheit darstellen soll. Dass es asozial ist, diesen akustischen Terrorismus anderen Mitmenschen aufzuzwingen, scheint gesellschaftlich kaum formuliert zu werden.

Es ist nicht nur asozial, sondern sogar schädigend. Ohren sind empfindliche Gleichgewichstorgane und röhrende Motoren haben weder in Tunnels noch außerhalb etwas zu suchen. Dort, wo sich Geräusche hallig verdichten wie in engen Gebirgstälern, ist das nochmal gewichtiger. Wie diese Geräuschpegel die Fauna verändern und vertreiben, müsste noch dazugerechnet werden. Generelle Motorradverbote für sensible Gebirgsregionen sollten Pflicht werden. Es ist ein Relikt verlorener Machokultur, die ewig Gestrigen mit dem Ideal von Zottelbärten mit tätowierten Oberarmstempeln auf Easy-Rider-Harleys oder Kawasaki-Heldenchimäre mit Abo ins Friedhofsportal. Ja, ein Freund von mir beendete sein Leben auch frühzeitig auf einer motorisierten Zweiradmaschine. Er wollte schneller bei den Kindern sein. Die Kinder bleiben nun ohne Vater.

Für LKWs ist die Forderung zum Wandel schwerer zu formulieren. Aber auch sie müssen sich den neuen Zeiten unterwerfen. Das wird mehr sein müssen als eine gefördete Zunahme von Cargo auf der Schiene, denn Lasten müssen auch weiterhin jenseits der Gleise transportiert werden. Für Tunnelfahrten sind denkbare vorübergehende Lösungen Wartestops für LKWs, solange Fahrräder im Tunnel sind. Radfahrverbotsschilder vor Tunnels aufzustellen, heißt vor der asozialen Geräuschkultur des Verbrennungsmotors zu kapitulieren. Geht gar nicht!

Hafenimpression in Pisogne, Lago dIseo
Uferimpression in Pisogne am Lago d’Iseo (Bild von 2007)

Wind of Change

Noch im Stile des Vortages segnete die Sonne den Lago d’Iseo wärmend und lieblich, wo ich mir über den Ufern ein Sonnenbad genehmigte. Die Zeit drängte mich bald weiter, direkten Kurs auf Brescia zu nehmen. Es kam dann mehr und mehr Wind auf, der größte Verzweiflungsgegner eines jeden Radlers – vielleicht noch mal vom Sand abgesehen. Der Himmel verdüsterte sich und ich mochte mir das laut Reiseführer architektonisch gelobte Brescia nicht mehr anschauen.

Was zunächst nur Wind aus Norden schien, entpuppte sich als radikaler Wetterwechsel. Bis zum Ende der Reise schlug mir dieser heftige Nordwind entgegen, milderte sich erst wieder am sonnigen Schlusstag in Bayern. Hier aber am südlichen Gardasee brachte der Wind zudem Kälte bei ca. 8 °C und Dauerregen. Ich hatte noch ein kleines, recht beengtes Hotel in Desanzone mit wohlschmeckendem Abendessen gefunden. Da war zunächst noch nur Wind. Der Morgen war anders.

Albergo del Sole – Wo ist „sole“?

Die Anzahl der so betitelten Sonnengasthöfe ist wohl nirgendwo dichter als am Gardasee. Das Versprechen bleibt indes häufiger unerfüllt als es die Touristenzahlen vermuten lassen: Kaum irgendwo fällt meine Bilanz schlechter aus, was Regen angeht. Etwa 1:4 verloren die Sonnentage hier bei meinen Gardaseebesuchen – Lago di Ledro eingeschlossen. Und es war sonst immer Sommer. Zumindest auf dem Kalender.

Ob das Hotel in Malcesine auch ein „Albergo del Sole“ war, mag ich mich nicht erinnern. Aber es war ein nasser Tag – sehr nass. Ein paar Stunden hielt ich im Dauerregen aus, gegen frühen Mittag aber pudelte ich mich so sehr, dass ich nicht mehr weiterfahren wollte. Gegen fünf Stunden wartete ich in einem Tankstellenbistro und machte mich ein wenig unbeliebt, da ich nicht ständig Essen und Getränke orderte. Das kann bei Regenpausen schon mal gefährlich werden, den Bauch über die Grenzen vollzuschlagen.

So halb getrocknet, wagte ich erneut ein paar Regenkilometer, gab aber auch wieder frühzeitig in Malcesine auf. Die nassen Radschuhe stellte ich ins Zimmer und wandelte barfuß ins Restaurant, was ein wenig argwöhnisch vom Kellner beäugt wurde. Der Italiener fühlt sich ja der Mode und dem feinen Tuch verpflichtet – Etikette hat ihm den Ruf des eleganten Charmeurs eingebracht, aber auch des Machos. Der Fuß aber ist auch ein feines Organ, denn er ist der natürlich Verbündete des Pedals. Und damit ein Teil vom Pedalgeist. Dass der nackte Fuß weder Schande noch Ekel bedeutet, muss anscheinend immer noch oder wieder gelernt werden.

Der Regen geht, der Sturm fegt

Sollte ich mich glücklich schätzen, jetzt trocken weiterradeln zu können? Eigentlich wollte ich tags zuvor Trento erreicht haben – jene liebenswerte Alpenstadt, in der ich auf einer Schulreise bereits 1980 von den schwarzhaarigen Mädchen auf der großen Piazza begeistert war, denen die jugendlichen Vespa-Machos allenthalben nachpfiffen. Da kamen Jugendträume auf. Wir blieben aber nur eine Zwischennacht auf der Reise nach Rom und das Lehrerprogramm sorgte für eine sichere Distanz zur lokalen Jugend. Weniger wohl der Mädchen wegen, kürte eine internationale Jury der Arbeitsgemeinschaft Alpenstädte Trento in meinem, diesem Reisejahr 2004 zur Alpenstadt des Jahres. Engagement in der alpinen Zusammenarbeit und ein bedeutendes Filmfestival überzeugten die Juroren. Zwiefellos darf auch der Flair dieser eher beschaulichen, kleinen Großstadt hervorgehoben werden. Ob es die Mädchen von damals noch heute dort gibt?

Die Witterung hatte mich um einen längeren Aufenthalt mit einer Übernachtung in dr Stadt betrogen. So ist das Radreisen immer ein Kompromiss aus Plan und zufälligen Ereignissen. An der Fahrt nach Norden hatte ich nun schwer zu beißen. Auch diesmal sollte ich die erdachten Kilometer nicht erreichen. Ohne Wind hätte ich es mindestens bis Brixen schaffen sollen. Da die Alpenwelt nun in der noch kargen Vegetation eher öde wirkte, zudem noch unter der fahlen Trübnis dicker Wolkenpakete litt, beherrschte meine Gedanken immer mehr, ob ich die Rückkehr über die deutsche Grenze überhaupt noch schaffen könne.

Gröstl & ladinische Gastfreundschaft

Gasthof in Atzwang
Ladinische Gastlichkeit in Atzwang (Bild von 2007)

Bozen, das seine Italienisierung ähnlich wie die meisten Südtiroler Orte als „Bolzano“ nur widerspenstig als Zweitname akzeptiert hat, umfahre ich auf dem ungemütlichen Tunnel nach Norden – geht aber dafür recht flott. Wie abgeschlossen ist das Eisacktal hier durch die eindrucksvolle Kluse mit hautnah heranrückenden Felswänden. Kaum hat sich das Tal geweitet, möchte ich meinem ermüdenden Kampf gegen Wind und Kälte ein gemütliches Ende setzen. Waren Gasthöfe an der alten Brennerstraße vor Jahrzehnten und in der Geschichte als Alpenübergang schon zu Römerzeiten geradezu perlenartig aufgereiht, so läuft das Geschäft heute schlecht. Wie mir der Gastwirt in Atzwang erläuterte, brausen heute die Autos über die oben liegende Autobahn und vergessen das Tal darunter. Der zunehmende Verkehr am Brenner hat den Talbewohnern so nur wenig Vorteile gebracht – um nicht zu sagen Nachteile. Erst die touristisch verstärkte Vermarktung der historisch wunderbaren Ortskerne etwa von Klausen oder Brixen bringt heuer wieder neue Gäste auch mal in die kleinen Nachbarweiler.

Wir schwatzten noch über das Ladinische, dass der Gastwirt immer wieder ein paar anderen Gästen zuwarf. Die ladinische Volksgruppe verteilt sich auf verschiedene Täler in Südtirol, Trento und der Provinz Venetien. Die Sprache ist der Anker für die Identität und das Traditionsbewusstsein, doch ist auch das Ladinische vom Aussterben bedroht. Hier zeigt sich, dass der politisch genährte Sprachenkonflikt in Südtirol zwischen Deutsch und Italienisch wenig auf Multikulturalität Rücksicht nimmt und ein Schattenkampf ist. Nicht die Ab- und Ausgrenzung hat die Menschen in den Bergen zusammenwachsen lassen, sondern ihr tolerantes Zusammenwirken unter den schwierigen Bedingungen der alpinen Naturgewalten.

Ich darf hier wieder an Malonno denken, nur dass das Bettgestell nochmal ein paar Phonstärken lauter knarzte. Alles ist noch rustikaler gehalten, gleichwohl stabiler und authentischer. In dem kühlen Zimmer unter warmer Bettdecke entschwinde ich in ein heimeliges Schlummergefühl. Vor der Nachtruhe ließ ich mir die Spezialität von Haus und Region auftischen. Gröstl ist sowas wie im Deutschen das Bauernfrühstück, eine Resteverwertung von Speck oder Fleisch mit Ei verrührt – Armeleuteessen, das heute wieder kulinarischen Status genießt. Arm aber gehe ich heute nicht ins Bett, eher reich fühle ich mich von Gastfreundschaft beschenkt.

Immer einen Mund voll Schnee

Dekoratives Detail in Häuserzeile in Chiusa
Erker sind in den Südtiroler Orten meist reich verziert, hier in Chiusa (Klausen, Bild von 2007)

Klar, es war in den letzten zwei Tagen abzusehen, dass es sich nicht um einen kurzen Wettereinbruch handelte. Nun steuerte ich auf den höchsten Punkt der Reise zu und bald sanken die Temperaturen – aber nicht deswegen – in den Keller. Die kalte Luftmasse hatte es zum Alpenkamm geschafft und erste Schneeflocken schwebten oberhalb von Brixen durch die Luft. Wohlbedacht hatte ich in Brixen noch eine wärmere Radhose in einem guten Fahrradgeschäft erworben. Mir sollte das aber auf der Abfahrt am nächsten Tag nach Innsbruck runter wenig helfen, denn Finger und Zehen blieben unzureichend geschützt.

Burg in Chiusa/Klausen, Südtirol
Burg in Chiusa (Klausen, Bild von 2007)

Es kam die Zeit des Warmen-Tee-Trinkens, die Pausen häuften sich. Erstmals am schon fast bekannt unschönen Brenner herrschte bereits dichtes Schneetreiben. Meine Zunge schmeckte die Schneeflocken, die sich auf der Abfahrt in stechende Pfeile verwandelten. Noch mochte ich nicht erahnen, dass am Nachmittag des Folgetages auf der Inntalstrecke noch ganze andere Schneebretter zu bohren sein sollten. Neben spritzenden Autos kanalisierte und balancierte ich mein Pedalgefährt zwischen den aufgewehten Schneebergen am Straßenrand und der umkämpften, matschigen Autospur. Ohne Brille ließ sich nicht fahren, aber diese war nach wenigen Sekunden immer wieder dicht befleckt. Ich habe immer wieder den Mund voller Schnee, die Flocken suchen sich den Weg sogar durch die Tuchblende. Wind wirbelte die Flugschneisen der weißen Kristalle immer wieder durcheinander, um sie dann mit Wucht mir entgegenzuschmeißen. Warum hatte mir der Schöpfer Augen verliehen, wenn sie mir vom selben Schöpfer zugehalten werden? – Ein Teufelsritt, getrieben von steter Sehnsucht nach Wärme.

Innsbruck hatte ich fast fußerfroren erreicht, obwohl der Morgen zumindest noch trocken war. Nahe dem Golden Dachl wartete ein modernes Café. So wie Innsbruck sehr gelungen das Moderne mit dem traditonellen Alpen- und Architekturcharakter miteinander zu verbinden weiß. Auch der Tiroler scheint den ganzen Tag im Café zu sitzen – nicht nur der Wiener. Ob angeregt diskutierende Kaffeeklatschdamen oder etikettierte Business-Gefällige, alle drängeln sich um die Tische als gäbe es keine Büros und Wohnungen. Das Aufwärmen verflog im Schneesturm natürlich bereits wenige Kilometer außerhalb von Innsbruck. Es ging auch dann nicht ohne weitere Teepause. Wieder waren in der alten Silberstadt Schwaz die Stuben gut gefüllt. Wer mag es verdenken bei diesem undurchsichtigen Freiluftkino.

Ich rechnete mein Tagesziel neu zusammen, bis Kufstein würde es kaum reichen. So suchte ich in Wörgl ein Hotel, welches erstmals auf der Reise als „neu“ zu bezeichnen war. Die Betten waren gut ausgebucht – trotz der untouristischen Zeit. Wörgl ist eine quirlig wachsende Gewerbestadt, am Frühtückstisch überwogen die Geschäftsleute. Indes war das Zimmer eine Art Tanzsaal mit einladendem Enterieur und einem Bad, in dem man sich hätte verlaufen können. Ich mochte die Dusche kaum verlassen, um die Schneekälte aus den Knochen zu treiben. Und die Handtücher waren sowas von schön grün… Ich hätte fast das Abendessen verpasst, da ich nur noch entschlummern wollte.

Schon am Abend zuvor musste ich die Brennerabfahrt in Gries abbrechen und hatte dort im „Weissen Rössl“ gleichwohl angenehmes Quartier und ein schmackhaftes Schlemmerpfannerl vorgefunden. In Wörgl hatte ich wohl schon fast zwei Tage gegenüber meinen ehrgeizigen Frühjahrsfahrtplänen eingebüßt. Das spielte aber keine Rolle mehr, auch wenn das Endziel immer verschwommener wurde. Einen Bahnhof werde ich schon finden.

Vorbau an einem historischen Gasthof in Kufstein mit Trinkspruch und drei Trinkern
Als alte Zollstadt mit Festung an der Kluse am Inn wurde Kufstein auch zu einer Stadt der Trinksprüche, in der Joachim Ringelnatz gerne weilte (Bild von 2012)

Daheim oder doch nicht?

Immerhin nahm nun mehr und mehr der Schneefall ab und am letzten Tag schwitzte ich in der Sonne bei 12 °C. Es war schon wieder fast Frühling, nur der Boden noch weiß. Ungefähr bis Miesbach schlich sich die Strecke am Alpenrand entlang, eher von leichten Hügeln bekleidet. Von Bad Feilnbach reicht der Blick weit nach Norden zu den flachen Moorlandschaften. Zu Mittag kostete ich bei einem Italiener delikate Spaghetti aglio e oglio. Deren Geheimnis war auch das üppige Basilikum. Ich diskutierte mit dem Wirt, über den Geiz von Köchen, die Kräuter nicht ausreichend den Speisen beizugeben. Verschwendung ist eben nicht nur Luxus, sondern auch Geschmack. Ob Kräuter, Öl, Butter oder Zucker – wer da spart, ist ein Genussverzichter.

Ich hatte mich verbissen, vielleicht noch eine Therme in München zu besuchen. Doch erreichte ich den südlichen Stadtrand bei Pullach dafür viel zu spät und musste die teuerste und zugleich schlechteste Bude der Reise in Kauf nehmen. Ich konnte noch von 60 Euro fünf Taler runterhandeln. Dilettantisch war eine Dusche mitten in das Zimmer verbaut worden – nicht zum Vorteil von Boden und Teppich. In München war Messezeit und schon deswegen die Gasthöfe noch mehr ausgebucht als sonst. Das typische Messebesucherpublikum von Marketing-Damen belagerte morgens die Frühstückstische und ich musste darüber grübeln, ob ich einer anderen Welt angehöre – so fremd waren mir diese Gesprächsinhalte. Vielleicht war es aber auch nur so, weil ich ein paar Tage in die alpine Bescheidenheit abgetaucht war – dieses Leben, in der es noch natürliche Wirklichkeiten gibt, wahrghaftige Konsistenz zwischen Arbeit, Leben und Geist. Ich wuchs wieder um ein paar Sprossen als Freund und Liebhaber der Alpen, seiner Menschen und der besonderen Genüsse.

Da war ich wieder zurück in einem Stuttgart, das mir erneut so schnell fremd geworden war. Nicht jede Pflanze wächst dort, wo sie unbedingt hingehört. Aber manchmal verändert sich ja die Erde selbst und die Pflanze lebt neu auf.

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