Beschneiter Bergstock mit Herbstatmosphäre un Straße im Vordergrund, Engelberg-Anfahrt
Alpen,  Schweiz,  Touren

ALP-2020-10 Herbstliche Facetten aus dem Mittelland und der Zentralschweiz feat. Engelberg

Himmlische Horizonte am Ende der Welt

Jurapark Aargau – Willisauer Bergland – Napfbergland – Emmental – Entlebuch – Luzern-Region/Vierwaldstätter See – Engelbergtal – Urschweiz – Ägerital/Zugerland – Albis

  • 8.-15.10.2020 | 7 Tage
  • 503 km | 72 km/d
  • 9820 Hm | 1403 Hm/d | 1952 Hm/100 km (barometrisch gemessen)

Der Digitrack auf AllTrails ist am PC nachgebaut, ohne Navi

Von den Enden der Welt

Eine Reise ans Ende der Welt? Wie lange braucht man dafür? – Ich brauchte knapp fünf Tage, geplant vier – allerdings mit Bahnunterstützung zur Schweizer Grenze. Gibt es ein Ende der Welt, wenn der Globus eine Kugel und das Universum unendlich ist? – Die Physiker werden die Frage verneinen. Kulturgeografen wissen jedoch um viele Enden der Welt. Menschen suchten immer wieder das Glück in der Ferne, den Weg in die Fremde. Doch stießen sie manchmal auf scheinbar unüberwindliche Hürden. Der Horizont führt ins Unendliche oder eine Barriere versperrt den Weg. Wohl wecken solche Orte besondere Sehnsüchte und Fantasien. Oder der Mensch war einfach erschöpft vom Umherziehen auf der Suche nach einem neuen Glück – Ende vom Glück. In gewisser Weise sind Enden der Welt eher Orte des Scheiterns. Und bleiben Orte der Hoffnung, werden zu Pilgerorten. Ende Welt – bessere Welt?

So fand ich mich schon häufiger an Enden der Welt wieder. Seltener, weil dort meine Reisen endeten, eher weil sie auf dem Wege lagen. Ende der Welt als ohne Ende. Cabo Finisterre war ein solcher Ort. Das Symbol vom Ende ist eine Skulptur eines Schuhs, der auf dem Felsen verblieb. Viele hat hier das Meer geschluckt – Übermütige, die das Meer bezwingen wollten, Lebensmüde, die ein Symbol setzen wollten. Bis heute pilgern Anhänger des Heiligen Jakobus über die Kathedrale von Santiago di Compostela hinaus zu diesem westlichen Zipfel Spaniens. Das Meer scheint heiliger als die Kirche, das Rauschen birgt sakrale Geheimnisse. Und die Jakobsmuschel gibt es schließlich nur im Meer. Ob heilig oder nicht, sie schmeckt köstlich.

Frau am Cap Creus mit Meer
Geste für Unendlichkeit: Nicht nur am Cap de Creus ist die Welt zu Ende

Ein Ende der Welt liegt auch in östlicher Entsprechung gegenüber am katalanischen Mittelmeer, am Cap de Creus. Dort ist der Zipfel auf der Landkarte weniger als Ende einer Landmasse zu entziffern, ist das Mittelmeer doch so etwas wie ein Binnenmeer. Doch Sehnsüchte sind nicht rational. Und die Weite des Meeres ist auch dort scheinbar unendlich. Hier wurde aber kein Schuh verloren, sondern nur ein Leuchtturm zeugt vom Ende der Welt. Leuchttürme sind zwar häufig, aber nicht jeder hat eine metaphysische Bedeutung.

In Gibraltar – die iberische Halbinsel scheint ein Pool von Endpunktmetaphern zu sein – gibt man sich bescheidener. Vielleicht verdanken wir es dem britischen Understatement, dass es dort nur ein „End of Europe“ gibt. Immerhin sind die Engländer konsequent – sie ziehen den Brexit durch und beenden Europa auf nochmal andere Weise. Stellt sich die strategische Frage, ob die Spanier diesen Ort in „The Beginning of Europe“ umbenennen würden, wenn sie Gibraltar zurückerhalten sollten? Wohl ist die Frage doppelt blasphemisch für englische Ohren.

Manche Weltenden sind wenig bekannt. Sogar dem Schwetzinger Schloss dichtet man ob seiner baulichen Perspektive ein Ende der Welt an. Ich wusste es nicht, als ich dort war. Weltenden müssen erklärt oder erdacht werden, sie sind nicht naturgegeben definiert. Doch wer darf das? Dichter, Fantasten, Abenteurer, Gläubige, Philosophen oder Prominente, in dem Fall gar Architekten? Manchmal ist es nur ein Zufall, dessen Urheber unbekannt bleibt, eine uralte Legende vielleicht. Was immer bleibt, ist der Sehnsuchtsort, der Mythos vom Ende der Welt.

Blick auf Rütliwiese mit Hütte und Schweizer Flagg von oben
Fast unzugänglich wie am Ende der Welt: Das Rütli gilt als legendenhafte Wiege des Schweizer Bundes

So gesehen also eine Reise zu einem Mythos – doch nicht nur einem. Denn meine Reise führt auch zur Wiege der Schweiz, mit Morgartenschlacht und Rütlischwur. Auch die Gründung der Schweiz basiert mehr auf einem Mythos als auf historischen Fakten. Politik mit Fake News also schon vor Jahrhunderten? Über den Morgarten-Mythos sinnierte ich bereits in ALP-2019-2. Zumindest die Erzählung des Schweizer Gründungsmythos‘ erscheint recht erfolgreich zu sein, werten wir einmal die touristische Infrastruktur umher. Wer kann schon eine eigene, gut besuchte Schiffsanlegestelle für eine Wiese mit Flagge, die man an fast jedem zweiten Haus in der Schweiz sieht, vorweisen?

Das Schweizer Ende der Welt – ein Tor zum Himmel

Nun also zu einem Ende der Welt – mitten in Europa, mitten in den Bergen der Zentralschweiz. Der Ort könnte kaum sinniger heißen: Engelberg. Also Ende Erde, Anfang Himmel. Die Kulisse dort könnte es glaubend machen. Doch Engelberg ist nicht gerade ein seltener Name. Er weckt schließlich – auch – Sehnsüchte. Etwas zufällig bin ich zu einem radelnden Botschafter innerhalb einer deutsch-schweizerischen Engelberg-Trilogie geworden.

Engelbergturm in Leonberg
Teil 1 meiner Engelberg-Trilogie: Der Engelbergturm in Leonberg trägt im Herbst auch mal goldenes Engelhaar

Nur wenige Kilometer von meinem Wohnort aus stehe ich am Engelbergturm, einem ehemaligen Wasserturm. Autofahrer ducken sich in einem Tunnel unter der geologisch widerspenstigen Leonberger Erhebung, die im Mittelalter auch schon Grenzwall zwischen Rheinfranken und Alemannen, dann Burgstall und im frühen 16. Jahrhundert Sammelplatz von bürgerlichen Aufständischen in Württemberg unter dem konspirativen Namen „Armer Konrad“ war. Dieser Engelberg ist übrigens auch eine Art Ende, leitet sich der Name doch von „Endelberg“ (Endberg) ab, weil er das Ende eines Höhenzuges bei Stuttgart markiert.

Engelberg, Waldorfschule, bei Winterbach
Erst Kloster, dann Jagdschloss und jetzt Freie Walddorfschule: Station 2 meiner Engelberg-Botschaft liegt über dem schönen Remstal

Ein paar Kilometer mehr sind es von Stuttgart bis zum Winterbacher Engelberg, ein halbhoch über dem Remstal gelegener Ortsteil, reizvoll umgeben von Streuobstwiesen, und dessen Jagdschloss aus dem Jahre 1602 nach dem Zweiten Weltkrieg Gründungsort einer noch heute aktiven Freien Waldorfschule wurde. Das Schloss erwuchs aus den Ruinen eines früheren Klosters, womit schon ein kleiner Bezug zum Schweizer Engelberg geschaffen ist (als Tourismus-Gemeinde auch: Engelberg-Titlis), daselbst auch heute u. a. mit einer Privatschule.

Die Benediktinerabtei inmitten der Schweizer Bergwelt steht allerdings noch in voller, moderner Klosterfunktion, die mehr wirtschaftliche als geistliche Bedeutung hat. Das Kloster mit elf Betrieben in Bildung, Kultur, Handwerk, Energiegewinnung, Landschaftspflege sowie Agrarproduktion und damit zweitgrößer Arbeitgeber des Ortes schaut heuer auf genau 900 Jahre Geschichte zurück. Die meisten Jubiläumsfeierlichkeiten wurden allerdings wegen Corona auf das Folgejahr verschoben. Hinter dem mächtigen, weißen Bau erheben sich schneebedeckte Gipfelketten, für die gewöhnlich nur Maler verantwortlich zeichnen. Eigentlich könnte also das Kloster in Engelberg mit seiner engelhaften Gipfelkulisse bereits das Ende der Welt veranschaulichen, religiös-weltliche Sinnstiftung inklusive.

Kloster Engelberg in der Totalen vor schneebedeckter Gipfelkulisse
Vor der himmlischen Kulisse von Engelberg verbeugte sich auch der führende Chansonnier der Schweiz, Stephan Eicher. Jetzt vollendete ich meine Engelberg-Trilogie im Velohimmel der Alpen
Restaurant Ende der Welt, Horbis, Felswand im Hintergrund

Doch tatsächlich ist die Welt nicht am Kloster Engelberg zu Ende, sondern erst in einem Nebental in Horbis, wo ein steil emporragender Talschluss zwar weniger engelsgleich, dafür unüberwindlicher den Betrachter staunen lässt. Dem Namen nach war hier mal eine schlichte Sumpfwiese. Für das Gebet über das Staunen gibt es eine kleine Kapelle anbei. Wer es nicht weiß, erfährt vom Ende der Welt durch das anliegende Restaurant, das sich den Namen zu Nutze gemacht hat. Es ist irgendwie beruhigend zu wissen, dass man am Ende Welt nicht verhungern muss – sofern noch Schweizer Franken in der Tasche. In der Herbstsaison gibts Wildgerichte aus dem Jagdbestand vom Ende der Welt. Die Tiere können ja nicht abhauen. Wie praktisch und unfair!

Schweizer Mittelland oder Espace Mittelland?

Schweizer sind mal gerne umständlich, also nicht einfach. Der geografische Begriff des Schweizer Mittellandes beschreibt einen weiten Bogen vom Genfer See zum Hochrhein und Bodensee einerseits und zwischen Jurasüdfuß und Alpen andererseits. Die Abgrenzung ist recht schwammig, zumal die niederen Regionen wie etwa Hochrhein bis Basel addiert werden, während Höhenzüge des Juras dazwischen rausfallen. Noch unübersichtlicher zergliedert ist die Region an den südlichen Rändern, als Kriterium für die Grenze dienen nicht genau definierte Höhenlagen. Dem dicken Bauch um Zürich bis zum Sempacher See hin steht ein verschlankter Gürtel in westlicher Richtung gegenüber, der z. B. das Willisauer Bergland, das Napfbergland bzw. Teile des Berner Mittellandes in den meisten Definitionen ausschließt.

Die Probleme der Mittelland-Abgrenzung sind nicht zuletzt Folge der teils umstrittenen Definition der Alpen gemäß Alpenkonvention. Während das Voralpenhügelland Allgäu weitgehend zu den Alpen gezählt wird, klammert man hier eine vergleichbare Voralpenregion aus. Tatsächlich widerspricht das dem Aufbau der Alpen, deren Typik es eben ist, sich auch weit in die Ebenen geschoben zu haben, geprägt von charakteristischem Hügelland. Ein geologisch eigenes Mittelland-Gebirge gibt es ja nicht, vielmehr stoßen Alpen- und Juraausläufer an der Aare mehr oder weniger zusammen, ohne eine markante Ebene dazwischen.

Napfebergland mit Straßenkurve, Bauernhaus, welliger Horizont
Geografisch nicht mehr Mittelland, aber dennoch Espace Mittelland: Das Napfbergland

Neben dem geografisch definierten Mittelland besteht auch noch eine Verwaltungsregion gleichen Namens, genauer mit „Espace Mittelland“ betitelt. Hier wird der Bogen im Südwesten der romanischen Schweiz ebenso abgeschnitten wie die Nordostzipfel an Hochrhein und Bodensee, derweil die Grenzen kantonal gezogen sind, also u. a. die Kantone Aargau, Zürich und Luzern komplett entfallen. Andererseits sind nun die Teile des Berner Mittellandes integriert, allerdings mit dem Kanton Bern auch die Hochalpengebiete etwa des Berner Oberlandes bei Interlaken – also geologisch und topografisch ziemlich atypisches „Mittelland“. Charakteristische Teile des Mittellandes wie etwa Sursee oder Willisau fallen hingegen an die Verwaltungsregion Zentralschweiz.

Schrattenfluh mit Schnee im keilförmigen Sichtfenster von grüne Bergwiesen udn herbstlichen Waldhängen mit Bauernhäusern, Entlebuch
Markante Felsformation der UNESCO-Biospäre Entlebuch an der Grenze zwischen Berner Mittelland und der Zentralschweiz: Die Schrattenfluh

Beide Begriffe (Schweizer Mittelland, Espace Mittelland) sind also nur unzureichend geeignet die Typik der von mir beradelten Mittelland-Regionen zu umreißen. Besser sei daher hier eine Kombination beider Begriffe verstanden, mit der sowohl flacheren Seen-Region westlich von Luzern als auch dem ausgeprägt mittelgebirgigen Berner Mittelland samt Napfbergland, Emmental und Schallenbergstraße. Die Grenze zum zweiten Teil fällt somit in die Entlebuch-Region, deren hügeliges Siedlungstal von einer schroffen, alpinen Gebirgskulisse, der Schrattenfluh, geprägt wird. Die Zentralschweiz, auch Innerschweiz genannt, sei hier als erweiterte Urschweiz, maßgeblich um den Vierwaldstätter See, interpretiert – mit ebenso hochalpinen (Engelbergtal) wie auch mittelgebirgigen Facetten (Ägerital) bis hin zum wirtschaftlichen Zentrum der Schweiz, der gleichwohl hügeligen, südlichen Zürichregion.

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