Postbus mit Straßenkehre im Maderanertal über Reusstal
Alpen,  Schweiz,  Touren,  Zentralschweiz

ALP-2021-TdS-01
Eine wildromantische Urschweizer Eröffnung

Mythen am Schweizer Mythos

(Sa, 5.6.) Stuttgart 18:29 h || per Bahn || 22:19 h (Fr) Pfäffikon/SZ (Zürichsee) – Feusisberg – (Schindellegi) – via Etzelstrasse – Kastenegg (828 m) – Büel (879 m) – via Enzenaustraße (teils im Bau, Schotter) – Teufelsbrücke Etzel – Egg – Willerzell – Gross – Chälen (1022 m) – Einsiedeln – Alpthal – Brunni – via Lümpenen- & Bogenfangstrasse (recht kurzer Pistenteil etwas ruppig, aber meist gut fahrbar) – Haggenegg (1414 m) – Schwyz – Ibach – via Schönenbuchstraße – Schwyzerhöhe (770 m) – Morschach – via Axenstraße (teils separater Radweg) – Sisikon – Axenmätteli

67 km | 1725 Hm

Manchmal spazieren Kühe über den See

Die Region Zürichsee entwickelte sich in meinen letzten Jahren zu einem häufigen Dreh- und Angelpunkt von Alpentouren – auch als Start- und Endpunkt. Die gute Erreichbarkeit von Stuttgart per Bahn erlaubt eine flexible Anreise am Abend oder Morgen. Gute Anschlusstakte bringen den Reisenden auch schnell vor die Tore Zürichs. Mit Pfäffikon am Zürichsee stehe ich bereits in einem der Schweizer Urkantone. Historisch teilt sich der Kanton Schwyz in zwei unterschiedlich gewichtete Teile, waren die echten Schwyzer eher den Urschweizer Eidgenossen nach innen verpflichtet, gaben sich die nördlichen Vertreter um das Kloster Einsiedeln eher weltlicher und der Habsburg-Monarchie verbunden. Dieser Konflikt war nicht zuletzt Teil der mythischen Gründungssaga der Schweiz und der Geschichte um Wilhelm Tell.

Die in Kilometern gemessen kurze Distanz bis ins urigste, mythenreiche Zentrum der Schweiz ist indes mit hohen Hürden verbunden, wenn man den Sattelpass als stark genutzten Übergang meiden möchte. Ich stoße hier auch auf meine Tour ALP-2019-2 Sieben-Seen-Tour in der erweiterten Züri-Region. Um den steilen Etzelpass nicht wiederholen zu müssen, will ich eine Radroute über Feusisberg einschlagen. So recht transparent ist die Route nicht ausgeschildert. Noch vor Schindellegi kann man durch Streuobstwiesen und an Bauernhäusern vorbei den Bogen abkürzen, um auf die Etzelstraße zu kommen. Wer hier wohnt, arbeitet nicht unbedingt als Bauer, sondern auch mal modern im Homeoffice, wie ich von einem heimischen Wanderer erfahre.

Auf der Etzelstraße gibt es gleichwohl steile Rampen, die an die Etzelpassstraße selbst erinnern. Jedoch verlaufen sie hier unrhythmischer in Wellen. Die unmittelbar beieinander liegenden Pässe Kastenegg und Büel sind in Fahrtrichtung keine Hochpunkte. Der höchste Punkt ist hingegen namenlos. So unter dem Himmelgrau etwas stimmungsarm hinübergetragen, münde ich bald auf die südliche Anfahrt zum Etzelpass, aber noch über dem Paracelsus-Denkmal und der Teufelsbrücke gelegen. Den Umweg über das Egger Badi hatte ich bewusst gewählt, um vielleicht eine erste Ganzkörperseetaufe zu nehmen. Doch hängen nur dunkle Wolken über der Seefläche, die Luft ist kühl. Schon die Ankunft in Pfäffikon fiel ja am letzten Abend ins Wasser. Kaum hatte ich die Uferpromenade aufgesucht, brach ein Wolkenbruchgewitter über fast die ganze Nacht nieder. Es sollte ein Omen für die gesamte Tour werden.

Das Willerzeller Viadukt überwindet den Sihlsee auf gespreizten Stahlstreben. Es kommt zum Stau, weil Kühe über das Viadukt flanieren. Das Geläut verkündet Vorrang für Weidevieh. Was denkt sich da wohl die Kuh? Nach dem Motto, warum einfach, wenn es auch schwieriger auf Umwegen geht, klettere ich über den Chälenpass nach Einsiedeln. Der lieblich eingebundene Weideanstieg im Osten kontrastiert mit einer Waldabfahrt im Westen. Mich erfüllt der Geruch von Regen auf Humuserde, von feuchtem Moos und Blattwerk. Für die Nase ist Regen eine wohlige Sinneswahrnehmung. Das Laubgrün berauscht dazu mit der Leuchtkraft seines Chlorophylls. Soviel Idylle bekommt man nicht geschenkt, Regen ist eben auch belastend.

Tanz den Bossa Nova am Mythenstock

Im Alptal scheiterte ich ja bereits zwei Jahre zuvor an unzulänglichem Wetter. Sollte sich das wiederholen? Die Schwarze Madonna des Klosters Einsiedeln übt wohl ein schlechtes Karma auf mich aus. Indes schält sich der Mythenstock aus den schweren Dampfwolken heraus. Das Land badet in seiner eigenen Regenromantik. Als ich bei der Scheune eines Bauernhofs unterstehe, gesellt sich ein skurriler Wanderer mit Regencape hinzu und erzählt schwer verständliche Geschichten. Und wundert sich, dass ich mich nicht über eine Wetterapp informiert habe. Was würde das für die Reise ändern? – Es gibt gute und schlechte Stunden, auch in den Prognosen. Eine Wetterapp bringt mich ja nicht voran, würde nur abschrecken. Er hält mich für verrückt, meine gleichmütige Geduld beeindruckt ihn. Die Zeit trennt bald unsere Wege. Ich fühle mich schon kaltgeschüttelt. Mit Mut gepackt traue ich mich in die nassen Bindfäden. Nur eine Kurve weiter lugt die Sonne vor. Wettergrenzen sind metergenau, das sollte ich doch wissen.

Das gesammelte Sturzwasser schäumt in Brunni ackerbraun und lehmig über die künstlichen Steinstufen des Bachbetts. Es werden nicht die letzten Fluten des Sommers sein, deren Kräfte so schnell anschwellen können, dass sie die Menschen um ihr Leben und ihren Wohlstand bringen können. Doch jetzt blinzelt der Sommer wieder liebevoll durch die Wolkendecke. Ich steige fast im Gleichklang mit dem Dampf hinauf. Vielleicht hilft der Dampftrieb bei harten Steigungen?

Von Brunni lassen sich zwei Varianten fahren, wohl ist kürzer den Ort nicht zu passieren und gleich beim ersten Gasthof mit Bushalte die Lümpenenstraße einzuschlagen. Ein Schattenwald unterbricht die offene Mythenstockszenerie bis ein Schotterweg den Asphalt ablöst. Ein wenig ausgewaschen, aber doch weitgehend fest ist die erste Passage. Dann gut planierter Kies und ein Hof. Noch vor der Passhöhe wieder Asphalt. Ich hatte mir das Haggenegg schlimmer vorgestellt, einen steilen Kampf gegen Schotter und Rampen. Die Südseite scheint doch schwieriger zu sein, obwohl ohne Schotter. Ich hatte sie ja teils im Vorjahr bewältigt, aber wegen Schlechtwetter – mal wieder – über das niedrigere Mostelegg abgebogen (vgl. ALP-2020-10 Herbstliche Facetten aus dem Mittelland und der Zentralschweiz feat. Engelberg). Dem Zauber des Mythen wohnt ein Weiler mit Gasthof schindelgedecktem Kirchlein bei, weithin zum Vierwaldstätter und Lauerzer See schauend. Dazwischen schiebt sich die Rigikette mit einem Hauch Zuckerhut und Copacabana. Die Schweiz kann auch Bossa Nova tanzen – zumindest in der Landschaftsmalerei.

Rigikette mit Lauerzer und Vierwaldstätter "Copacabana-Blick"
Blick auf die Rigigruppe mit Lauerzer See und Brunnen am Vierwaldstätter See

Panoramaoffensive am Vierwaldstätter See mit Axenstraße und Göggeli

Fast im freien Fall stoße ich hinunter in die Kantonshauptstadt Schwyz, in der die Geschichte der Schweiz, der Bundesbrief gehütet wird. Vor dem Mythen (als Berg) wird hier der Schweizer Gründungsmythos nicht nur bewahrt, sondern auch immer wieder neu gedeutet. Mit Mythenspielen sucht man heute die traditionelle Identität ebenso wie eine diskursive Auseinandersetzung mit der Schweizer Geschichte im Blick auf die Zukunft zu fördern. Ein Schwyzer Autofahrer mit eigener Radreiseseele spricht mir am Ortsausgang noch Mut zu.

Archivturm in Schwyz

Der Archivturm in Schwyz wurde um 1200 erbaut und diente bereits als Wohnstatt, als Gefängnis, jedoch meistens als Archiv für gewichtige Dokumente der Landes- und Freiheitsrechte der Schweiz, darunter dem Bundesbrief, der als Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft gilt. 1936 und 2002 zog das Archiv jeweils in neue Museumsräume um. Der Turm dient heute u. a. einer Schreibwerkstatt, in der Kinder und Jugendliche mittelalterliches Schreibhandwerk erlernen können.

Zur Talroute durch Brunnen ans Ufer des Vierwaldstätter Sees gibt es eine Umfahrungsvariante über die weniger bekannte Schwyzerhöhe, deren Nordseite gerade wegen Sanierung gesperrt ist. Doch zu der späten Stunde am Samstag baut niemand mehr und ernsthafte Hindernisse für Radler sehe ich nicht. Einmal die Höhe erklommen, falle ich durch Morschach wie ein schwerer Kloß rasant hinunter zur Axenstraße – um einige Panoramasichten bereichert. An der Axenstraße sind zwar immer wieder separate Wege für Radler verbaut, ganz kommt man aber immer noch nicht ohne gemeinsame Straßennutzung mit Autos aus.

zwei Lastkähne schwarz/rot/weiß am Ufer
Frachtschiffe in Flüelen
thehOrn, größtes Schiffshorn der Welt in Flüelen
Flüelen lädt seine Bürger zu Veranstaltungen der 750-Jahrfeier mit thehOrn ein, dem größten Schiffshorn der Welt, von Antoine Zgraggen 2013 erbaut

Auf der fast unbesiedelten Strecke, die atemberaubend aus dem Felsen gehauen ist und die Seeblicke immer wieder mit dem Tunnellicht tauscht, fügt sich zur Mitte hin Sisikon mit kleinem Yachthafen als einziger Ort in eine kleine Bucht ein. Da es bereits dämmrig ist, verzichte ich noch bis Flüelen durchzurauschen. Seit gut 50 Jahren serviert man im Restaurant des einfachen Hotel Sternen die butterknusprige Hausspezialität Poulet im Körbli – gerade recht für eine erste Mahlzeit auf dieser Schweizreise. Eigentlich ist das Geflügel noch recht preiswert, jedoch muss man die Pommes frites extra und ziemlich teuer bezahlen, sodass ich mit Bier auch schon wieder 33 Franken berappen muss. Zum Ausgleich finde ich einen unorthodoxen, kostenfreien Seebalkon fürs Zelt. Dem Mythos bin ich so nah und doch so fern – die Tellsplatte nur ein paar Steinwürfe entfernt.

Verwunschene Reuss-Sackgassen & Gotthard teufelswild

(So, 6.6.) Axenmätteli – Flüelen – Seedorf – Attinghausen – via Rad-/Wanderweg (teils Trail) – Ryyssboogabriggä (Spannbrücke) – Spannegg/Raststätte Gotthard – (via Radweg, gute Piste) – Erstfeld – Amsteg – via Maderanertal – „Apatschenpass“ – Bristen – via Straße – Gasthaus Legni – via Piste – Silblen (1235 m) – Legni – via Piste – Bristen – Amsteg – Wassen – Göschenen – via Göscheneralpstrasse – Wiggen/P4

68 km | 1890 Hm

Tunnelfieber an der Gotthard-Reuss

Von Flüelen ist das Reussdelta nicht weit, als naturverbundener Freizeitpark beliebt, aber nur verwinkelt über eine noch matschige Piste zu erreichen. Der Morgen lädt nicht zum Seebad ein, so folge ich gleich der kanalisierten Reuss zur Westseite entlang. Leicht erhebt sich Attinghausen über das Tal mit einer etwas unscheinbaren Burgruine, die bereits im 14. Jahrhundert von Bauern niedergebrannt worden sein soll. Wir sind eben bei den aufständischen Stämmen der Urschweiz – kein gutes Pflaster für alte Herrensitze und Machtprivilegien.

Von Attinghausen gelange ich auf einen Wanderweg, auf dem man leicht mit Fußgängern kollidieren kann. Über die noch junge Ryyssboogabriggä kann ich schwankend die Uferseite zum regulären Radweg wechseln – zugleich an einer Raststätte gelegen, an der zur Gegenseite die Autofahrer der Gotthardstrecke anhalten können. Ein gelungener Mix von Nutzergruppen, der auch zu einem beliebten Radlerstopp geworden ist. Indes schäumt die Reuss wild, der Verkehr der Alpentransversale bleibt nah und laut.

Vom Radweg aus ist kaum der Eingang zum neuen Gotthardbasistunnels zu erkennen. Gelangt man zum Bahnhof Erstfeld mit Relikten der Bahngeschichte, sind die modernen Durchgangszüge schon im Berg verschwunden. Zwar prägt fortan auch die alte Gotthardbahn noch das Tal, aber mehr durch die Trasse als durch die Frequenz von Zügen. Neben dem Personenverkehr saugt der 57 km lange NEAT-Supertunnel auch die Güterzüge auf. Um dem Bedeutungsverlust der alten Bahnlinie abzuwenden, hat sich die Südostbahn AG (SOB) in das Fahrgeschäft der SBB eingemischt und Ende 2020 einen neuen Treno Gottardo in Kupferfarbe mit rotem Streifen im Stundentakt auf die alten Gleise zwischen Basel/Zürich und Bellinzona gesetzt. Die alte Gotthardstrecke soll nun auch auf die Liste der UNESCO-Weltkulturerbegüter kommen, wie der Bahnhistoriker Kilian T. Elsasser fordert. Wie wertvoll doch manche Löcher im Berg sind.

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