Postbus mit Straßenkehre im Maderanertal über Reusstal
Alpen,  Schweiz,  Touren,  Zentralschweiz

ALP-2021-TdS-01
Eine wildromantische Urschweizer Eröffnung

Apatschenland im Maderanertal

Die Seitentäler der Reuss sind entweder unzugänglich, kurz und steil oder verstecken sich hinter einer Kluse. In Amsteg ist nur wenig Platz unter der Bahnbrücke für den Ort. Umso überraschender windet sich noch ein wildes Tal mit großen Steinblöcken und hohen Wasserfallstufen in den Berg. Die Serpentinen enfernen sich schnell von den Kaskaden und treiben die Straße unerwartet geschmeidig nach oben, wenngleich der Postbusfahrer ein geübter Lenkerkönig sein muss. Hat man die doch kräftige Steigung der Kurventour bewältigt, empfängt das Bergdorf Bristen den Besucher mit einem lieblichen Ortsbild, das das Tor zu einer nunmehr etwas breiter gefassten Hochweidelandschaft öffnet. Die Bewohner zeigen karnevalistischen Humor mit ihrem eigenen „Apatschenpass“, der trotz seiner zentimetergenauen Höhenangabe geografisch kein Pass ist. Den indianischen Fußabdruck verdanken die Bristener dem Faschingsverein Fratelli Mataschi, der unter diesem Motto im Jahre 2018 feierte und offenbar soviel Gefallen fand, dass die Bildtafel nicht mehr entfernt wurde.

Eigentlich könnte man sich hier mit der Bergbahn weiter zum Golzernsee (auch Golzerensee) schaukeln lassen. Für den Radler währt hingegen die Erholung nur kurz, denn Ortsausgangs steigt die Straße wieder unbarmherzig steil an. Zum Gasthaus Legni fällt man dann in die Mulde des Kärstelenbachs ab. Die Weiterfahrt zum Hotel Maderanertal ist unübersichtlich. Neben der Waldpiste an Legni vorbei gibt es noch eine Bergstraße zur anderen Seite, die sich weitläufig in den Berges hineinfrisst. Nicht weniger steil ist die Piste zum Golzernsee, die in Legni in die entgegengesetzte Seite aufsteigt. Der Belag ist zwar gut fahrbar, aber die Steilheit mündet bald in einer sinnlosen Tortur. Am Bergweiler Silblen, noch ca. 200 Hm unter der Golzernseehöhe gelegen, muss ich dann das Unternehmen hübscher Bergsee als gescheitert betrachten. Neben der unbezwingbaren Piste kippt auch das Wetter, Regen treibt aus den Bergen runter ins Tal.

Gut gewässert zwischen Kegelsteinen im Göscheneralptal

Mit der flotten Rückfahrt auf dem alternativen Pistenweg zwischen Legni und Bristen direkt am Bergbach kann ich der Wetterfront – zumindest vorübergehend – entkommen. Zurück im Reusstal an den gelöcherten Bergen, steige ich über Wassen nach Göschenen auf. Ich hatte eigentlich Göschenen als größeren Ort mit guter Infrastruktur erwartet – doch das trügt. Der Verlust von Transitgästen bewegt das Schicksal des Ortes, der seine Bekanntheit mittlerweile fast ausschließlich aus den Verkehrsnachrichten bezieht. „Ausfahrt Göschenen gesperrt“, lautet der allfällige Spruch im Radio zu jeder Art von Ferienzeit, mit der der Gotthard seine Reisenden begrüßt. Die Gasthofgespräche in der Krone drehen sich um diese Verkehrslast, die dem ehemals bedeutenden Transitort nur noch ein Schattendasein zubilligt, ohne von den modernen Verkehrsströmen zu profitieren. Nun bleiben ja auch noch die meisten Bahnreisenden fern, da der große Tunnel die Züge schon weiter unten geschluckt hat. Verblieben sind der Treno Gottardo und der Zubringer der Matterhorn-Bahn zur Strecke des Glacier Expresses, die in Andermatt in der Ost-Westachse verläuft.

Tunnels und Verkehrstrassen der Gotthardstrecke im Reusstal
Wie ein löchriger Schweizer Käse: Zahlreiche Verkehrsachsen durchbohren die Begrwelten an der Gotthardstrecke

Den Strammen Max habe ich mir schon bei der Suche des Gasthofs Krone verdient, der einzige noch geöffnete im regenüberströmten, abendlichen Göschenen. Für die irre Nachtfahrt in das Göscheneralptal darf ich noch einen Vanillepudding mit Erdbeeren nachlegen, quasi berechtigt als Gemütsbonus. Der Wirt ermuntert mich bis zu Parkplatz P4 zu fahren, weil dort eine Hütte zu finden sei. „Ja, es ist schon noch ein Stück bis dahin“, meint er etwas lässig, ohne die Qual einer solchen Nachtfahrt durch strömenden Regen zu erahnen. Ich schmecke nur noch Wasser im Mund, tiefe Müdigkeit überfällt mich über dem Lenker, es ist schon mehr als eine Stunde vergangen. Die Parkplätze sind manchmal kleine Nischen und nicht alle mit Nummern beschildert. P4 kann ich nur erahnen, aber zwei Häuser sind ein Indiz. Ich finde die Hütte nicht und verzweifle als Regensaurier. (Erst am Morgen erkenne ich bei Tageslicht von der Straße aus, dass die Hütte noch ein Stück weiter auf dem Gegenhang des Bergbachs liegt.) Schließlich schlage ich mich in eine Terrassenecke des unbewohnten Eckhauses, so gerade noch vom Regen geschützt.

(Mo, 7.6.) Wiggen/P4 – Gwuest/Göscheneralp – Staumauer Göscheneralpsee (1797 m) – Göschenen – via Gotthardstrasse/Radweg – Teufelsbrücke/Schöllenenschlucht – Andermatt [– Oberalppass (2044 m) – dev. Via Alpsu/Lai da Curnera – Milez (1858 m) – dev. Via Alpsu/Lai da Cuinera via Vorderrheintal – Sedrun]

52 km | 1475 Hm

Was mir noch abends zuvor verhasst war, ist mir nun ein Stimmungsaufheller aus Tropfenprismen und Dampfschleiern. Das Tal der Göschener Reuss bricht die raue Urschweiz aus dem Bergstein, steil abgeschliffene Flanken, eine Halde aus Steinblöcken, rund geschliffene Kegelsteine, lange begleitet von einem dichten Feenwald, in der offenen Berglandschaft zum Felsenmeer von aparter Schönheit ausgebreitet wie auf einem außerirdischen Planeten. Mächtig die Staumauer, von unten ein grüner Wall, oben der See eingebettet von der schroffen Bergwelt, deren Schneereste noch bis zum Ufer reichen. Das Göscheneralptal ist Gotthardseele pur – rau, wild, teuflisch, bizarr, archaisch, sonderbar, bedrohlich nah, entrückt verzaubert, voller Stille, berauscht, mit lieblichem Glitzer – eine eigene Welt.

Dem Teufel sehr nah, dem Ägypter sehr fern

Diese wilde Romantik des Gotthardmassivs illustriert die Schöllenenschlucht oberhalb von Göschenen heute zusammen mit den Verkehrswegen, die trotz Autobahn und NEAT-Strecke unter dem Berg immer noch laut die ungestüm schäumende Reuss begleiten. Für den Radler ist ein neuer Radweg gebaut worden, der weitgehend eine straßenfreie Passage erlaubt bis auf den untersten Teil und die Einfahrt nach Andermatt oberhalb der Teufelsbrücke. Ist die Picknickecke mit Feuerstelle vor der Kulisse aufgerauter Kegelberge gelungen, muss ich aber bemängeln, dass der Radler nun ohne Steinschlagschutz daherradeln soll, während die Autos in den Galerien behütet dröhnen dürfen.

Der Gotthard ist zugleich ein alter Passübergang und doch ein junger, denn der komplette Durchstieg für Säumer gelang erst im 13. Jahrhundert durch die Schöllenenschlucht, während die Passhöhe als solche schon von den Römern genutzt wurde. Für den Transit in die römischen Provinzen jenseits des Alpenhauptkamms eigneten sich aber die anderen Übergänge wie Splügen- oder Albrunpass besser – zu gefährlich war die Passage durch die Schöllenenschlucht. Es wundert daher nicht, dass auch hier eine Teufelslegende eine Brücke umrankt – tatsächlich sorgten die Naturgewalten für zahlreiche Opfer und den Einsturz von Vorgängerbrücken. Am Ende sollte es der Teufel richten, die haltbare Brücke zu bauen. Der wollte sich dafür ein Menschenopfer holen, jedoch konnten die Urner den Teufel austricksen, sodass er mit einem großen Stein bei Göschenen steckenblieb, bevor er seine Rache vollenden konnte, die Brücke wieder einzureißen ob des vorenthaltenen Opfers. In Wirklichkeit machte der Mensch die Teufelsbrücke zu einem Grauensort, indem sich hier russische und französische Truppen tödliche Gefechte zu Napoleons Zeiten lieferten und die Brücke dabei beschädigten.

Der alten Gotthardlegende steht heute ein neuer Geldmythos eines ägyptischen Tourismusmoguls gegenüber. Samih Sawiris steht für den Versuch, einen Bergort wie Andermatt für ein mondänes Wachstumsversprechen zu kaufen – dafür Bewohner umzusiedeln, luxusträchtigen Jetset anzulocken und eine Großinfrastruktur mit Golfplatz, Eissporthalle und Shoppingcenter in heimeliger Bergwelt zu installieren. Der größenwahnsinnige Businessplan, den er gemeinsam mit dem ehemaliger Skirennläufer Bernhard Russi und positivem Volksentscheid scheinbar bodenständig und in Einigkeit vorantrieb, endete wohl in einem Remis der Pros und Contras. Aus heutiger Sicht sind einige ertragreiche Tourismusträume aufgegangen, doch das Bergdorf ist durch die Mieten und Bodenpreise zum teuren Pflaster geworden.

Das Andermatt, dass ich noch von 2005 kannte, ist dabei erstaunlich traditionell geblieben. Sawiris Welt befindet sich in einer Trennlinie zum Dorf, die der Besucher eigentlich gar nicht überschreiten möchte. Man spürt, es gehört da nicht hin, aber es stört auch irgendwie nicht. Die Verlierer von solchem Strukturwandel werden ohnehin nie gefragt – die Seele der Berge schon gar nicht. Und die Schweiz ist heute schon eine solche Geldtruhe geworden, dass manches Gejammer des gemeinen Volkes auch nicht mehr so überzeugend klingt. Letztlich ist es ja geldgewollt durch demokratische Mehrheiten.

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