ALP-2021-TdS-02
Das Wegekreuz Reuss-Rhein im Gotthardmassiv Nord
Betrachten wir alleine nur die Transitachsen entlang von Rhein- und Reussquellen im Gotthardmassiv, können damit bereits alle vier Himmelrichtungen bedient werden. Der Gotthardpass selbst und der Lukmanier sorgen für zwei Nord-Süd-Verbindungen, während der Oberalppass die Verbindung nach Osten, Susten- und Furkapass hingegen wiederum zwei nach Westen bereit halten. Auch wenn einige Verbindungen noch über die Knoten in Disentis und Wassen laufen, ist doch die zentrale Drehscheibe Andermatt mit einem Hochplateu, das eine Zäsur in der Landschaftsentwicklung setzt. So bleiben die wilden, schluchtigen Täler unterhalb, während sich oberhalb eher geschmeidige Hochgebirgshänge durch offene Berglandschaft winden. Entsprechend unterscheiden sich die weiter unten beginnenden Übergänge von Lukmanier und Susten von den Hochstartern Furka, Oberalp und Gotthard. Gleichwohl ähnelt das Meiental zum Susten bereits auch dieser Typik, soweit man die unterste Kluse durchbrochen hat. Nur der Lukmanier weicht deutlicher davon ab, da er mehrere tiefe Einschnitte in die Felsenwelt zeichnet und zusammen mit der bereits rätisch-bünderischen Besiedlung uriger wirkt.
Der Rhein am Gotthardmassiv
(Mo, 7.6.) [Wiggen/P4 – Gwuest/Göscheneralp – Staumauer Göscheneralpsee (1797 m) – Göschenen – via Gotthardstrasse/Radweg – Teufelsbrücke/Schöllenenschlucht –] Andermatt – Oberalppass (2044 m) – dev. Via Alpsu/Lai da Curnera – Milez (1858 m) – dev. Via Alpsu/Lai da Curnera via Vorderrheintal – Sedrun
52 km | 1475 Hm
An der Nordsee auf über 2000 m Höhe
Der Oberalppass wird nach Westen in Richtung Andermatt über die Oberalpreuss entwässert. Das Tal bildet dabei einen sanften Hügelberg mit grüner Bergwiese und viel Löwenzahn, durch den sich geschmeidig die roten und rot-weißen Züge der Bahn winden. Ist der Anstieg etwas weniger sanft als die Landschaft vorgaukelt, entspannt sich die Bergfahrt aber recht schnell durch ein Passplateau. Die Gasthöfe und der Bahnhof liegen im Osten an der Abbruchkante zum Vorderrheintal. Die Passhöhe steht schon ganz im Geist des Rheins – ja sogar ein Hauch Nordsee winkt einem entgegen.
Der Sommer ist hier noch ganz fern, nach den grünen Wiesen hält das Hochtal den Schnee des Winters lange und noch mit ziemlicher Höhe. Mir zieht die Kälte, die über den Schnee noch zur Straße getrieben wird, spürbar in die Glieder. Ein biestiger Wind ärgerte mich schon in Andermatt, das Picknick zu genießen. Der Oberalppass scheint mir an diesem Tag als ein ungastlichster Ort trotz meiner heimatlichen Verbundenheit zum Vater Rhein.
So fern der Sommer scheint, so überraschend grüßt doch ein Leuchtturm von der Nordsee – der einzige in den Alpen und auf einer Höhe 2046 Metern. Auch die Schweizer sind vom Mythos Rhein befangen und zahlen ihm ehrerbietigen Tribut. Der rot-weiße Turm ist ein Schweizer Nachbau eines Leuchtturms, der einst in Hoek van Holland stand. Als ich 2005 den Oberalppass querte, gab es ihn noch nicht – 2010 wurde das Projekt umgesetzt. Vom etwa eine Stunde Wandermarsch entfernten Tomasee (Lai da Tuma), der definitionsgemäß festgeklopften Rheinquelle, fließt das bedeutendste Gewässer der europäischen Kulturgeschichte 1233 km bis zum Meer. Jeder kann mit einer Spende von mindestens 100 Schweizer Franken einen Schlüssel zum ganzjährigen Zutritt in den Turm erwerben. Zudem ernennt die Stiftung Leuchtturm Rheinquelle jedes Jahr eine bekannte Persönlichkeit zum Ehrenwärter. Für die noch laufende Amtszeit im Jahre 2020/21 wurde erstmals eine Frau, die Schweizer Mundartsängerin Sina, zur Schirmherrin berufen. Hörbeispiel: „Ich schwöru“ Sina feat. Büne Huber (4:10 min.)
Kurswechsel in den Süden statt Rheinquelltäler
In einer oberen Kurve zweigt eine Fahrstraße zum Lai da Curnera ab, gleichzeitig Einstieg für den Weg zur Maighels-Hütte und zum Tomasee, der an ein paar Steingebäuden (Milez) wiederum von dieser Straße abzweigt. Die Piste ist arg schottrig, durch die Schneeschmelze zudem sehr tief. Ob der Weg bis zur Maighels-Hütte geräumt ist, kann ich hier nicht abschätzen. Ich habe auch nicht vor in Konkurrenz zu Wanderern mit schneesicheren Wanderschuhen zu treten. Die Info am Oberalppass war leider nicht geöffnet. Auch die Straße zum Lai Curnera, Stausee einer weiteren Rheinquelle, ist gesperrt mit dem Hinweis auf Lawinengefahr. Ich kehre also ohne eine weitere Annäherung zu Rheinquellen um.
Schwere Wolken drohen mir aus dem Vorderrheintal entgegen. Das kleine Bergdorf Tschamut leuchtet noch im Schimmer der Abendsonne golden, doch die Wettergrenze rückt von Disentis unnachgiebig näher. Erst in Sedrun hat es mehr Gastbetriebe, doch kübelt es nun in Strömen. Meinen Proviant verspeise ich schließlich unter dem Vordach eines Restaurants, dessen letzte Gäste mit Regenschirmen davonrennen. Mir zittern Leib und Beine, es war ja schon den ganzen Tag ungemütlich gewesen. Die etwas sterile Noblesse Sedruns, gut bekannt als Weltcup-Skiort, verschwimmt in der dämmrigen Flut. Es wird fast Nacht, bis ich es aus dem Ort schaffe und eine Nische fürs Zelt bei einer Sägerei finde. Nicht dass es hier trocken wäre, aber der Sägemehlboden verhindert einen tiefen Bodenschwamm, dessen Feuchte durch meinen Zeltboden drücken könnte. Die bereits dritte Wassernacht von insgesamt vier Nächten. Was für ein Sommer?!
(Di, 8.6.) Sedrun – Disentis – via Val Medel – Curaglia – Fuorns – Passo del Lucomagno/Cuolm Lucmagn/Lukmanierpass (1916 m/1972 m) [– via Valle Santa Maria/Val di Blenio – Acquacalda/Pian Segno – Campra – Tüll/Olivone – via Val di Blenio – Campo (Blenio) – Ghirone]
57 km | 1250 Hm
Der Regen endet erst nach dem Zeltabbau. Im Abschwung strahlt das Rheintal sogar ein wenig in Richtung Disentis. Aber das scheint ein leeres Versprechen zu sein. Ich hadere talabwärts mit dem dunklen Himmel im Osten. Ich muss meine Rheinquelltäler am Vorderrhein überdenken. Die Wolkendecke bleibt bedrohlich, ich fahre nach Süden – Lukmanierpass statt Vorderrheintäler! Ein Blick auf die Karte sagt mir: auch der Lukmanier bietet Seitentäler mit Sackgassen, aber auf der Alpensüdseite. Thematisch bleibe ich im Bilde, nur mit anderen Facetten als geplant. Ich hoffe auf die Sonne des Südens.
Klostergeschichte und ein neues Geläut für Disentis
Die Klosteranlage prägt das hoch in den Hang ragende Disentis protzig wie für kirchliche Machtzentren üblich. Dennoch oblag den Klöstern eine stets kritische Distanz zum Prunkglauben der Römischen Kirche – durch asketische Demut, aber auch immer durch weltliches Handeln und Denken mit einer Brücke zur Außenwelt. Die Benediktinerabtei St. Martin erfüllt seit ca. 750 Jahren einen Bildungsauftrag als Schule. Trotz seiner Größe ist das Bauwerk architektonisch eher schlicht gehalten. Mehr Prunk verkörpert die Orgel im Innern.
Für den Klang des Ortes gibt es ein weltliches Gegenstück, obwohl auch Gussgeläut. Das Carillon besteht aus zwanzig unterschiedlich gestimmten Glocken mit einem Gesamtgewicht von 450 kg, die in einem Holzturm auf einem Spielplatz verbaut sind. Meistens vier Mal am Tag erklingt zu bestimmten Zeiten eine Melodie, die einem vorgefertigten Wochenplan folgen. Zu hören sind u.a. Heidi, Biene Maja, Pippi Langstrumpf, s‘ Martinsglöggli, das englische Volkslied Greensleeves, Avemaria, die rätische Hymne Tgalavaina und am Nationalfeiertag – na was schon? – die Schweizer Nationalhymne.
Ein Wiedersehen im Val Medel
Die große Zeit des Klosters Disentis währte einige Jahrhunderte von und nach der ersten Jahrtausendwende. Damals sorgte es als Hüterin des Lukmanierpasses für ausgedehnte Beziehungen zu den italienischen Kaisern. Diesen Geleitschutz erhoffe ich nun für meine Reise nach Süden. Doch das Patronat hält keine Schirme auf. Die Wolkentristess verleiht dem rumantschen Charakter des Medeltals mit rustikalen Berghäusern und kontrastreichen grünen Wiesenhügeln eine noch geheimnisvollere Aura. Das Val Cristallina öffnet etwas verlockend unter einem helleren Himmel nach Osten – doch möchte ich nicht in eine Falle fahren.
Mehr zur Höhe rücken schroffe Felsen auf, Bergbäche veradern Wiesen und Berghänge, eine Schafherde macht den sonst allfälligen Kühen Konkurrenz. Noch einmal pausiere ich unter einem Hüttendach, um dem letzten Regenband des Nordens zu trotzen. Meine Kräfte schwinden zur Staumauer hin, die nah geglaubt, verteufelt weit entschwindet, als nochmal eine Doppelkehre mehr Höhe überwindet als ich zu sehen hoffte. Dann ist sie da, eine riesige Bogensteinmauer, die durch das noch fehlende Schmelzwasser des Medelrheins überdimensioniert aus dem Boden ragt.
Es wird aktuell stark gebaut am Lukmanierpass, die Straße verschwindet noch mehr in einer Galerie als zuvor. Keine Ausblicke mehr über den See, der aber ohnehin jetzt nur ein Tümpel ist. Eine enttäuschende Veränderung gegenüber meiner Erstberadlung im Jahre 2009, die noch ein Stück winterlicher war, aber der Blick stimmungsvoller. Die Steigung ist mit dem Erreichen des Staudamms noch nicht ganz beendet, denn die Straße überhöht die Seefläche und die damit verbundene Sattelhöhe. Zur ausgewiesenen Passhöhe herrscht trostlose Baustellenstimmung, das Hospiz wirkt verlassen vom Sommer wie von Gästen. Dann schau ich über Palletten von Bausteinen hinweg zur schneebedeckten Gipfelkulisse nach Süden – und siehe da, es leuchtet ein zartes Himmelblau aus den lichter werdenden Wolken hervor. „Benvenuti in Ticino – Valle di Blenio“ begrüßt mich die Willkommenstafel des Südens. Doch noch Sommer? Richtige Entscheidung getroffen? – Auf jeden Fall Rhein adieu!
Rein chronologisch geht es weiter in ALP-2021-TdS-03 Vom Valle di Blenio in die Magadino-Ebene, jedoch werfe ich zuvor noch einen Blick auf Gotthard- und Meienreuss als weitere Transitachsen des nördlichen Gotthardmassivs, die ich gut drei Wochen später Anfang Juli beradelt habe.
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