Blick auf Gipfelkette im oberen Val Malvaglia
Alpen,  Schweiz,  Tessin,  Touren

ALP-2021-TdS-03
Vom Valle di Blenio in die Magadino-Ebene

Tessiner Bergdörfercharme im Val Malvaglia

Erreicht man die Schlucht hinter der engsten Kluse, bewegt sich die Straße oberhalb des Orino an Felsfalten vorbei, durch schalenlose Steintunnels und lichte Birkenhaine. Über von Regenglanz benetzte Laubschirme wandert der Blick zu einem Steinhausweiler zur anderen Talseite, versteckt und zugleich kühn über dem Abgrund gelegen, verbunden etwas weiter aufwärts über eine bedachte Holzbrücke. Das dumpfe Asphaltgrau hat sich in eine elegante Spiegelfläche verwandelt. Ich schleiche weiter an vereinzelten Steinhäusern vorbei, manche sind für Feriengäste hergerichtet, andere scheinen unbewohnt zu verfallen. Fast wähne ich mich an einem Talende bei ein paar Häusern, deren Kamine rauchen als wäre Winterzeit. Den dunklen Schatten wirft hier die eng und steil aufragende Staumauer des Lago di Malvaglia.

Hat man die Straßenkehre erklommen, glitzert der See bereits in der Vogelperspektive, sogar die Sonne hat dazu eine Lücke in den Abendhimmel gerissen. Schließen die Berge den See noch schmal ein, öffnet sich alsbald eine naturgeschützte, gewölbte Zwischenebene mit hohen Gräsern, Hainen und einem wild sprudelnden Orino. Aus der Arena wachsen steile Bergflanken empor, in die sich kräftige Wasserfallstrahle eingeschliffen haben. Darunter schlummert das beschauliche Madra, das erste der fünf Dörfer des Val Malvaglia, die durch typisch traditionelle Tessiner Bauernhäuser geprägt sind. Alle Dörfer („Ville“) zählen zum Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz, sind aber nicht mehr ganzjährig bewohnt wie noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und die ganzen über 600 Jahre zuvor.

Die Häuser sind gut zur Hälfte aus rustikalen Bruchsteinen, die anderen aus Holz mit säuberlich gestapelten Rundbalken. Über Treppen und Wiesenpfade schlängelt sich der Besucher durch das Labyrinth von intimen Gassen. Ein kleiner Rasenplatz mit Dorfbrunnen und Kirchlein, dessen Baldachin mir immerhin ein trockenes Abendbrot gewährt, dient als unscheinbares Zentrum zwischen Gerümpelschuppen, Brennholzvorräten und verschrobenen Fensterbankskulpturen. Ich fühle mich an heimelige Walserdörfer im Piemont erinnert. Weniger wohnen hier eingesessene Bergbauern als Zweitwohnungsbesitzer – das Häuschen in den Bergen für naturverbundene Ferien oder als Kapitalanlage. Ob begehrte Oasen oder doch schwer verkäufliche Immobilien bleibt angesichts vieler Verkaufsschilder unklar. Ich lausche dem Brunnengeplätscher, das mir eine kleine Nachtmusik in einer entschlummernden Dauerschleife spielt.

(Do, 10.6.) Madra – Dandrio – Anzano – Cusiè – Foppa, Waldparkplatz (1740 m) – Cusiè – Anzano – Dandrio – Madra – Bacino di Val Malvaglia – Brugaio (Serravalle) – Ponte Leggiuna/Mündungsdelta Leggiuna/Bosco di Malvaglia – Biasca – Riviera-Osogna – Claro – Castione – San Vittore – Roveredo

64 km | 880 Hm

Fehlte schon die Abendsonne gänzlich, ist es Madra auch nicht vergönnt in der Morgensonne zu erwachen, liegt das Dörfchen doch ganz im schattigen Eck der hohen Bergflanke. Sonniger über den ganzen Tag gesehen liegt das Nachbardorf Dandrio, in dem sich die einzige gesicherte Einkehrmöglichkeit im gesamten Malvagliatal findet, von den Almhütten jenseits der Straße mal abgesehen. Auch Dandrio hat so etwas wie einen Hauswasserfall (Cascata Fürbeda), vor dem Bergblumen mit Tropfenhaube etwas traurig hängend noch vom vergangenen Regentag berichten. Eine Mühle setzt das historische Denkmal aus dem 16. Jahrhundert mit einer seltenen Mechanik. Zu einem Mühlenfest wird das restaurierte Mahlwerk jedes Jahr noch einmal angeworfen um Roggen zu zerreiben.

Der Anstieg wieder steil, hat man nun die gegenüberliegende Seite des Tals im Blick mit Madra und weiter oben auf den Stausee unterhalb. In Anzano, einem schnuckligen Weiler ohne Infrastruktur, kaum Dorf zu nennen, verzweigt sich die Straße ins obere Val Malvaglia dem Orino folgend einerseits und anderseits zu einem Aussichtsdorf über dem Valle di Blenio, also wieder zurückführend zum Talanfang des Orino, nur eben in der Höhe. Ich entscheide mich für den oberen Orino, die Landschaft wieder wechselnd mit einer schroffen, schneebedeckten Gipfelkulisse. Bergbauern nutzen hier die Hochweiden zwischen den Lärchenhainen zur Milchwirtschaft. Der höchste asphaltierte Straßenpunkt ist in Cusiè erreicht, jedoch führt die Straße als gut gewalzte Piste noch bis zum Wanderparkplatz Foppa im Bergwald. Von dort locken Wiesentrail und eine raue Piste zur beliebten Quarneihütte, allerdings zu steil und bröckelig der Schotter für meinen Lastgaul.

Vom Sandstrand ins untere Valle Mesolcina

Der erste klare Sommertag wäre doch eine schöne Einladung zum Baden. Genau das kann man im Val Malvaglia nur schwerlich, zu unzugänglich sind die Bergbäche zumindest von der Straße her. Nachdem ich das gesamte Tal im Abfahrtsrausch zurückgelassen habe, erschlägt die Hitze der Blenio-Talebene. Beim Naturschutzgebiet Bosco Malvaglia bildet der Brenno und ein kleiner Zufluss eine breit geaderte Schwemmebene mit Sandufern, auf denen ich wie auf heißen Kohlen laufe. Das Wasser ist indes sehr frisch ob des noch vielen Schmelzwassers des schneereichen Winters.

Die größte Attraktion an der Gotthard-Lukmanier-Gabelung Biasca ist ein Wasserfall. Die Cascata di Santa Petronilla entlädt einen Kaskadenrausch aus der steilen Felswand, dessen unterster Hauptwasserfall zwei Schweife in einen breiten Strahl vereint, der am Fuße einen schillernden Regenbogen ins Licht wirft. Fast zu eng ist das Gelände hier wegen der Gotthardbahn, die den Ort unglücklich zerschneidet. Von unten ahnt man nicht die Badegumpen, die sich oberhalb des Wasserfalls verstecken.

Capella San Lucio mit Torre Pala in San Vittore
Capella San Lucio mit Torre Pala in San Vittore

Unbekannt, wie weit ich es noch schaffen und welche Lokalitäten ich noch finden könnte, entschließe ich mich doch noch für Abendproviant. Schon fast ist der Laden zu, auch wenn noch Tageshitze herrscht. Die Schweizer Ladenöffnungszeiten hat man früher mal in Deutschland gefeiert, heute sind sie mit die schmälsten in Europa. Nur donnerstags haben viele Supermärkte länger auf, aber auch nicht alle.

Dem Ticino werde ich ja noch später meinen Tribut erweisen, sodass ich zunächst hier nur über die hektische Hauptstraße eile. Gleich ruhiger wird es ins Valle Mesolcina hinein. Dieser Exkurs bringt mich nochmals kurz auf Abwege aus dem Tessin in den südwestlichsten Zipfel Graubündens. Eigentlich bin ich etwas zu früh an der Passbasis am Ortsausgang von Roveredo, aber doch zu spät, um den Anstieg noch anzugehen und eine geeignete Zwischenhöhe zu erreichen. Ein Terrassenrestaurant lädt über der Bachidylle gegenüber einem versteckten Kirchlein zur Einkehr ein, doch habe ich ja die Taschen schon voll für das selbstgemachte Picknick.

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