ALP-2021-TdS-19
Bauernhausromantik mit Burgenthron im Berner Mittelland
Ich taste mich über den letzten Hügel hinüber zur Aare, zuvor ein eher planes Auenland kreuzend. Mein Versuch, aus der Tour heraus einen Radreisekollegen in Solothurn zu besuchen, scheitert. Ich erfahre später, dass er selbst auf Radtour ist und ich schon längst an seinem Wohnort vorbeigefahren bin. Etwas verunsichert dieses noch ungewissen Nichttreffens, fahre ich ins Aaretal nach Solothurn hinunter. Als Schweizer wäre ich hier rechtzeitig vor dem Nationalfeiertag richtig, denn in dem Vorort Biberist gibt es den nach eigenen Angaben des Ladens größten Feuerwerksverkauf der Schweiz. Viele Altstädte der Schweiz haben aber mittlerweile Feuerwerksverbote erlassen. Die Branche wird sich für die Zukunft einige Gedanken machen müssen.
Zähes Ringen:
Frauenwahlrecht in der Schweiz
Betrachten wir einmal die wohlhabendsten Länder der Welt, so fallen einige Staaten auf, in denen die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger auffällig dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt hinterherläuft. Neben den reichen arabischen Ölstaaten gilt das in einem noch recht kurzen Zeitsprung zurück auch für die Schweiz. Die kantonale Selbstbestimmung als hohes Gut einer föderalen, freiheitlichen Staatsstruktur sorgte dabei lange Zeit für einen heterogenen Fleckenteppich an Rechtsstatuten in den Kantonen, so auch für die Gleichheit von Frau und Mann.
Ungeachtet der Eidgenossenschaft galt diese Balance der Rechte aller Menschen in den meisten gleichheits- und wertebasierten Demokratien der Welt fast nirgendwo von Anfang an. Der Zeitgeist dafür dies zu ändern, verzögert(e) sich aber in einigen Ländern deutlicher als ihrer fortschrittlichen Gesellschaft zuzutrauen war oder gar ist. Nicht zuletzt dürfte auch die neutrale Schweiz ohne Kriege in der jüngeren Geschichte daran einen Anteil haben. Gerade die Umbruchzeiten nach Krieg und Gewalt führten in vielen Ländern Europas zu neuen gesetzlichen Statuten, so mit dem Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Während sozialistische Diktaturen im Osten eher mit dem demokratischen Westen im Einklang oder in Konkurrenz vorangingen die Gleichheit bei Wahlen umzusetzen (auch wenn keine echten demokratischen Wahlen), sorgten die rechten Diktaturen wie Portugal und Spanien für eine schleppende Entwicklung der Frauen am politischen Leben. Teils wurden Rechte zurückgeschraubt, teils bestanden generelle Schranken für demokratische Prozesse.
In der Schweiz bedingten den schleppenden Prozess politischer Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger auch einige skurrile Ansichten und Mentalitäten. Dazu gehört auch, dass ein Großteil der Frauen vor allem in der traditionellen Landbevölkerung dieses Wahlrecht gar nicht wollte – nicht einmal in Appenzell-Innerrhoden im Jahre 1990, wo das kantonale Frauenwahlrecht per Bundesgerichtsentscheid erzwungen werden musste, nachdem der Volksentscheid zuvor erneut sich gegen das Frauenwahlrecht aussprach und damit als einziger (Halb-)Kanton noch an der Ungleichheit festhalten wollte.
Man möchte gar meinen, dass es damit zusammenhängt, dass das Wahlrecht in Appenzell an das Tragen eines Dolches am Abstimmungstag gebunden war und solches martialisches Klingendekor dem Wesen und Outfit einer Frau nicht so recht entsprechen will. Obwohl mir die aus neutralem Eigenschutz resultierende militaristische Durchdringung der Schweizer Männergesellschaft bekannt war, musste ich an dem Sonnensommertag dieser historsichen Abstimmung mich doch wundern, wie ein demokratischer Akt der Moderne in einem foklorehaftem Kult der Vergangenheit abgehalten wurde.
Eine der Ursachen für das mangelnde Interesse von Frauen an ihren eigenen demokratischen Rechten ist ausgerechnet im Gründungsmythos der Schweiz um Wilhelm Tell und seiner Interpretation durch Friedrich Schiller verankert. Demnach war es die Stauffacherin, die ihrem Ehemann Werner Stauffacher dahingehend beeinflusste den Schweizer Bund im sogenannten Rütlischwur zu gründen. Anders gesagt, die Frau bestimmt eh, was gemacht wird. In der gewitzelten Stammtischfolklore gilt das aber ohnehin weltweit. Tatsächlich war die wirtschaftliche und berufliche Stellung der Frau in der Schweiz auch in Zeiten fehlenden Wahlrechts durchaus fortschrittlicher als in manch anderen Ländern einschließlich des großen nördlichen Nachbarn, in denen das Wahlrecht längst de jure eine formale Gleichberechtigung erwirkt hatte.
So wie das Frauenwahlrecht Schritt für Schritt erkämpft werden musste, so wurden 1971 Lappen und gestrickte Stoffteile von Intiativgruppen in Solothurn zu einem Teppich verknüpft. Die Zahl der Stoffteile entspricht dem Jahr der Einführung des Frauenwahlrechts vor 50 Jahren – am 6. Juni 1971 im Kanton Solothurn, knapp drei Monate zuvor auf der Bundesebene (in Liechtenstein erst 1984; zum Vergleich: Cookinseln als erstes Territorium mit vollständigem Wahlrecht 1893, Neuseeland als erstes Land auf aktives Wahlrecht beschränkt 1893, Finnland als erstes europ. Land 1906, Russland & Baltische Länder 1917-18, Deutsches Reich & Österreich 1918, USA 1920 (bundeseinheitlich, erste Frauenwahlrechte gab es bereits in Teilen früher bis in die Gründungszeit zurück 1776), Vereinigtes Königreich 1928, Frankreich 1944, Portugal als einziges europ. Land nach der Schweiz 1974 (von Liechtenstein mal abgesehen); Ausnahme in Europa bleibt der Vatikanstaat ohne Wahlrecht für Frauen bis heute – vielleicht aber auch kein vollwertiger Staat im eigentlichen Sinne).
Das Teppichprojekt wurde von vier Frauen mit der Uridee aus Schaffhausen lanciert, beteiligt waren aber Frauen und Männer aller Solothurner Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig und im eigenen Heim einen Beitrag zum Jubiläum zusammenstrickten. Aus den insgesamt 3500 eingereichten Lappen wurden weitere Decken geknüpft, deren Ertrag zugunsten des Frauenhauses des Kantons Solothurn gespendet wurde.
Ein unerwarteter Dachgeber in der Not
Raketen würden zumindest heute Abend nicht zünden. Mit Beginn meines Solothurner Stadtrundgangs beginnt auch der Regen wieder einzusetzen. Die Stadt wirkt schon von Dunkelheit umnachtet, doch sind es eigentlich die Wolken, die das Licht dimmen. Das launige Volk lässt sich aber nicht von lauten und lachenden Treffs an der Promenadenzone abhalten. Ähnlich wie in Thun reichen auch hier manche Terrassen von Lokalen direkt an oder über die Aare.
In Kürze verschwinden allerdings alle Gäste an nicht überdachten Straßentischen, sodass ich bald keine Gelegenheit mehr sehe, einen Gaststättenplatz zu finden. Je mehr Runden ich drehe, desto stärker wird der Regen. Schließlich kehre ich bei McDonald’s am Bahnhof ein, ohne zu wissen, wie der Abend enden soll. Es regnet weiterhin Bindfäden. Irgendwann ermüdet mich die Wärme im Lokal und ich beschließe weiter draußen zu warten. Dort ist aber eher wieder zu kühl. Bald bin ich umgeben von den ewigen Bahnhofsgästen, die alkoholisiert sind, vielleicht auch wohnungslos. Jeder Zug spuckt wieder Bewohner aus, von denen ich nur Beine sehe. Ich kneife meine Lippen zusammen – war es doch dumm, nicht die Jugendherberge aufzusuchen. Jetzt musste ich schon zur Nacht damit rechnen, nicht mehr aufgenommen zu werden.
Ein Mann aus einem Pendlerzug stellt sich neben mich und frägt auf was ich warte, ob ich eine Unterkunft suche. Wie göttliche Fügung scheint sich ein Erbarmen vom Himmel zu ergeben. Ebenso verblüfft wie unbefangen gehe ich auf das Angebot des Elektrofacharbeiters ein, bei ihm zu übernachten. Der Fußweg ist nicht sehr lang. So wertvoll ist ein Zufall selten. Ich danke dir, Aron!
Zeitglockenturm Solothurn
Der Zeitglockenturm (Zitglog(g)e, Zytglog(g)e, meist allerdings nur für den Berner Zeitglockenturm verwendet) gilt als ältestes Bauwerk der Stadt Solothurn und wurde Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut. In mehreren Etappen folgten Erweiterungen, so der Aufbau des Uhrengeschosses 1467 und 1545 mit dem astronomischen Uhrwerk sowie der Automatengruppe. Anfangs wurden die Stunden durch einen Turmwächter angeschlagen. Diese wurden aber zunehmend unzuverlässig, verspäteten den Stundenschlag oder versäumten diesen ganz. Darauf reagierte man mit einem mechanischen Wächter, der mit einem 24,5 kg schweren Hammer die Stunden schlug. Noch 1753 hielt man es im Rahmen einer Renovierung nicht für nötig, einen Minutenzeiger an der Turmuhr zu installieren. Der beauftragte Uhrmacher Niklaus Pfluger erlaubte sich trotzdem, auf einer Seite einen kleineren Minutenzeiger einzubauen, der mit seiner „mahnenden Hand Gottes“ dem Zeitlauf mehr Dringlichkeit verlieh. Im heutigen digitalen Zeitalter von Millisekunden eine geradezu gemütliche Mahnung.
Eine einmalig kunstvolle Darstellung und multifunktionale Ablaufanzeige liefert die astronomischen Uhr. Der Stundenzeiger verweist auf die Stunde mit einer vergoldeten Hand. Innerhalb des Stundenkreises sind die astrologischen Tierkreiszeichen aufgemalt. Ein Sonnenzeiger bewegt sich entgegen der Uhrzeit und korreliert mit dem Sonnenstand. Zur Sommersonnenwende steht der Zeiger senkrecht nach oben, zu Winteranfang umgekehrt nach unten, zu Frühlings- und Herbstanfang jeweils auf horizontaler Linie. Gleichzeitig verrät das Ziffernblatt die zugehörigen Tierkreiszeichen. Der Umlauf des Zeigers beträgt entsprechend ein ganzes Jahr. Der Mondzeiger dreht sich ebenfalls entgegen dem Stundenzeiger und mit Bezug auf die Tierkreiszeichen. Ist Vollmond, steht er dem Sonnenzeiger gegenüber. Eine Mondphase bedeutet für den Zeiger einen Umlauf in 29 ½ Tagen.
Die Automatengruppe besteht aus drei Figuren, die Krieger, König und Tod darstellen. Uhr und gold-blaue Himmelskugel korrespondieren zudem mit der astronomischen Uhr, um den Stand von Mond und Sonne zu untermauern.
Der Krieger mit Streitaxt und Schwert wendet seinen Kopf alle Viertelstunde gegen den Tod und schlägt sich mit einer Hand auf die Brust als Treueglübde für seinen König. Der Tod kippt vor jedem Stundenschlag eine Sanduhr, die für das Gegensätzliche steht – Tod und Leben, böse und gut. Mit dem Stundenschlag dreht er seinen Kopf zum Krieger, in der Hand einen todbringenden Pfeil haltend, der jeden treffen kann. Zwischen Krieger und Tod sitzt der König auf seinem Thron mit Zepter, das er zu jedem Stundenschlag hebt. Um das Zählen der Stunden sichtbar zu machen, bewegt er seinen Unterkiefer. Die Symbole Zepter für Macht, Bart für Weisheit und Narrenkappe soll sagen, dass das Leben aus Narrenwerk und Weisheit besteht, da sonst die Macht zur Tyrannei wird.
Während der König die einzelnen Stunden zählt und das Zepter schwingt, nickt gleichsam der Tod bei jedem Schlag und bestätigt den unerbittlichen Ablauf der Stunden. Wenn Tod oder Krankheit herrschen, kann auch die Macht eines weisen Königs wenig ausrichten. Den Mächtigen sei angemahnt bescheiden zu bleiben und sich nicht zu wichtig zu nehmen. Nicht zuletzt entstand die mahnende Figurengruppe im Zusammenhang mit der Pest, die Solothurn erstmals 1348 erreichte. Der eigentliche Höhepunkte der Epidemie folgte jedoch erst später in den 1630er Jahren im Rahmen des 30-jährigen Kriegs und nach dem Bau des Kunstwerks. Wie so häufig, ist auch dieses hintersinnige Mahnmal aus dem Uhrmacherhandwerk von immer noch aktueller Bedeutung.
Mehr auch in den Turmgeschichten vom Hotel/Restaurant Roter Turm
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