AOC-2023-0Rhône-Alpes – Occitanie – Catalunya – Provence
Pannen, Missliches und einstürzende Zeltdächer
Kaum eine Tour verläuft ohne irgendwelche Missgeschicke oder technische Störungen, doch meist ist es etwas anderes, was im Mittelpunkt steht. Schon aus Tradition verlor ich auch diesmal wieder einen Waschlappen. Fast auch schon eine Tradition, da schon zum vierten Mal praktiziert, war der bereits erwähnte Neukauf von Radschuhen – nur diesmal aus besonders leidlichem Schicksal. Der neue Schuh (Bontrager „GR2“, 150 €) war einerseits notwendig, andererseits aber auch nicht ideal für die Fahrdynamik.
Der Gau auf der Reise war eigentlich der Bruch einer Zeltstange. Ob der Bruch reparabel gewesen wäre, kann ich nicht abschließend sagen. Läden, die sowas machen, sind aber rar bzw. seltener als früher zu finden. Letztlich musste ich auf Decathlon zurückgreifen, die allenfalls ihre Eigenmarken reparieren bzw. Ersatzteile dazu liefern können. Das neue Zelt kostete gar weniger als meine neuen Schuhe (Decathlon „Forclaz“, 140 €). So blieb der Supergau aus, ersetzen konnte ich das Zelt noch am folgenden Tag nach dem endgültigen Stangenbruch. (Die Stange war bereits angebrochen, was ich aber zunächst reparieren konnte und zwei Nächte hielt.) Zur Zeit des Zeltbruchs war ich in Reichweite der Städte Perpignan und Figueres mit geeigneten Outdoorläden. Da Figueres doch nochmal deutlich günstiger zu meiner Route lag, entschied ich mich für die Only-Decathlon-Variante – in Perpignan hätte ich zusätzlich noch die Option Intersport gehabt.
Gemessen am alten Zelt ist das neue etwas dürftiger verarbeitet, aber trotzdem durchdacht konstruiert und 200-300 g leichter. Anders als die Schuhe konnte ich mein altes Zelt allerdings nicht mehr mitführen, um es ggf. noch später reparieren zu lassen – also leider Wegwerfware nach ca. zwei Jahren. Das alte Zelt (Ferrino Trivor) war von Anfang an eh undicht (das Planenmaterial) – das neue reihte sich da gleich ein (die Nähte), was aber in diesem Sommer nicht wirklich auffiel. Richtig langlebig dichte Zelte kenne ich eigentlich nicht. Mein Erfahrungsspektrum reicht über sieben Zelttypen von sechs Marken – von Decathlon bis zu Hilleberg.
Erstmals bin ich auch mit einer neuen Kette im Gepäck samt Spezialwerkzeug zum Wechseln losgefahren. Obwohl die Kette über 6000 Reisekilometer und bereits vorgeleistete 2000-3000 Tourenkilometer abspulte, war der Zustand bis zum Ende noch so gut, dass ich einen Kettenwechsel für nicht notwendig hielt. Ergo: Zusatzgewicht im Gepäck leider überflüssig mitgeführt. Die Abwägung vor einer solch langen Reise ist halt schwierig. Ebenso überflüssig war auch der mitgeführte Helm, der mich nur gegenüber der spanischen Helmpflicht absichern sollte. Tatsächlich wollte auch diesmal kein katalanischer Polizist einen Helm auf meinem Kopf sehen. Für Insider meiner Reisegeschichten: Casco Nuevo erinnerte sich an Pirineosaurus und las gut behütet in der Tasche in den Skripten von dessen Abenteuern.
Seit langer Zeit spielten Reifenpannen für mich keine Rolle mehr. In diesem Jahr scheint das nicht so zu sein. Drei Reifenpannen ereilten mich auf der Tour, zweimal waren die Ursache Dornen (auch durch ungünstige Offroadstrecke), einmal war es einen Schlag durch einen Stein oder eine Kante in der Fahrbahndecke. Zu Ende verlor mein Hinterradreifen ganz langsam Luft, sodass ich das bis zur Heimkehr nicht wirklich als Reifenpanne erfasste, wäre aber dann sogar die vierte Reifenpanne. Kräftiger Verschleiß trat bei meinen Bremsbelägen auf, was allerdings den Routen zu verdanken war (teils extreme Schotterstrecken bergab). Gemessen daran war der Verschleiß eher noch gering und die Felgen scheinen weniger abgerieben als erwartet.
Erneut verlor ich eine Schraube am Gepäckträger, konnte diese Schwachstelle aber wie bereits im Vorjahr auf kreative Weise samt Kabelbinder absichern. An einem Rückfahrtag bereits in Deutschland flog einer meiner Hinterradtaschen aus der Verankerung und zu Boden, weil eine Bodenwelle auf einem Radweg zu heftig war. Wie wenig sich doch Radwegbauer mit Fahrrädern auskennen – sonst würde man solche Bodenwellen schnellstens entfernen. Indes ist der Schaden an der Tasche nicht signifikant, eine Stelle ist nur leicht aufgeraut.
Musik nur am Rande
Obwohl ich ja bereits früher häufiger Konzerte in Radreisen integrieren konnte, geschah das auf den längsten Radreisen der letzten drei Jahre nicht mehr. Und obwohl ich zur Festivalzeit in Frankreich unterwegs war, hätten sich kaum Gelegenheiten zufällig ergeben – planen wollte ich eh nicht. Festivalorte hätte es wohl genug auf der Strecke gegeben, aber die Zeiten passen selten. Yvoire am Genfer See wirbt sogar sehr offensiv mit seinem Jazzfestival, das kurz vor meinem Reiseantritt abgehalten wurde.
So bleiben nur ein paar Momente von Straßenmusik im Ohr. Eine Band beim Stadtfest in Montélimar konnte mich nicht überzeugen. Beim Dorffest in Villardonnel, wo mich ein paar Stammgäste aus Irland sofort zu einer fröhlichen Runde an den Tisch baten, spielte eine Band abgedroschene Rockklassiker, ohne dass der Sänger richtig singen konnte und auch noch mitreißende Leidenschaft vermissen ließ. Die Iren freuten sich dennoch über die angelsächsischen Hits ihrer Jugend, zumal man das nicht unbedingt in Frankreich erwarten kann.
Wer einmal nach Avignon kommt, wird in der Festivalstadt auch immer auf Straßenmusiker treffen. So hoch die Besucherdichte, so wunderbar still können die Klänge einer Harfe einen der vielen kleinen Plätzen mit zarten Melodien füllen. Schweigend wie verzaubert lauschten hier Besucher einer Harfenistin, ja schaffte sie es, inmitten der alten Gemäuer unmittelbar hinter dem Palais du Pape eine Oase der Träumerei zu entfalten, wo sich eilige Zeitgenossen kaum trauten vorbeizuhuschen. Nicht mal CDs verkaufte die junge Frau, obwohl doch ihr Spiel von großer Kunstfertigkeit zeugte.
Kunst, Kultur & Geschichte – museale Exkursionen
Die großen Museen sind kaum ein geeignetes Terrain für den Reiseradler. Die Malerorte Collioure und Céret umfuhr ich diesmal ganz. Einen Besuch hatte ich eigentlich im Carrières des Lumières geplant, nachdem ich mich für die Rückroute über das Rhonetal mit dem Les-Alpilles-Gebirge entschlossen hatte. Das Museum ist in seiner Art einzigartig in einen ehemaligen Steinbruch aus Kalkgestein eingelassen, auf den steil aufragenden Steinplatten werden Meisterwerke der Kunstgeschichte mit wechselndem Programm als Lichtinstallationen präsentiert. Sonntag, Spätsommerwetter im Oktober und Mittagszeit sind aber schlechte Voraussetzungen – über zweieinhalb Stunden Wartezeit wurden bereits ausgewiesen. Das war mir doch zuviel der Zeit für meine „Schnellroute“. Ich hätte wohl zuerst ein Ticket lösen sollen und dann Les Baux-de-Provence mit seinen betriebigen Gassen und der einem auf Felssporn thronenden Burg als Wartezeit besuchen sollen. Die Abfolge der Orte ist aber umgekehrt, wenngleich es vom Dorf bis zum Museum nur 500 m sind. Das muss man also genauer planen.
Ein Stück hohe Malkunst fand ich doch noch, nicht in einem allgemeinen Museum, sondern in der Privatgalerie des Künstlers Léon Zanella. Dieser kleine, zierliche Mann in grauen Kleidern und so wachen Augen steht selbst bescheiden in seiner Galerie, am Aufgang zur Altstadt von Vaison-la-Romaine. Aus den dunklen Ecken der Galerie leuchten sein Bilder hervor wie Sonnenlichter oder Luminiszenz-Artworks. Doch ist alles nur gemalter Pinselstrich. Mit dicken Malschichten erzeugt Zanella einen Farbenrausch durchdringender Intensität, lenkt den Betrachter zum Bildkern oder lässt ihn über die Landschaften schweifen. Anleihen seiner Kunst liegen im Fauvismus, aber auch in naiver Malerei der Südsee, zumal Zanella in Tahiti seinen Militärdienst ableistete, und sicherlich auch in der multikulturellen Kreativfabrik Marseille, wo er geboren ist. Nicht zuletzt inspirieren ihn die Farben der Provence, in dem historischen, pittoresken Städtchen, in dem er bereits seit Jahrzehnten lebt. Seine Farbexplosionen trägt er nicht nur auf Leinwand auf, sondern ziert auch andere Gegenstände wie Vasen, Lampenfüße oder eine E-Gitarre. Ich sehe in seinen Bildern vor allem diese exzentrischen Lichtfarben, diese Nähe zur Fotografie, die Lehre vom Licht, vom Leuchten.
Kleine Museen haben ihren besonderen Reiz, weniger Bekanntes in besonderes Licht zu rücken und sind meist auch gut in eine Velotour einzubauen. In den Corbières sind mir bereits etliche Katharerburgen bekannt, die ich im Rahmen meiner thematisch akzentuierten Tour „Pyrénées Cathares Catalán“ besuchte. Das Château d’Arques in den westlichen Hautes-Corbières ist indes keine Katharerburg, obwohl im Pays Cathare angesiedelt. So ist diese Burg sehr gut erhalten und zeigt mittelalterliche, spartanische Wohnkultur in seiner spartanischen Form. Trotzdem war auch diese Burg umkämpft, erlitt Zerstörung z.B. durch die Hugenotten und wurde wechselhaft von Mönchen, Rittern, Familienadel und heute von Fledermäusen bewohnt. Seit 1887 trägt sie das Prädikat monument historique. Der Regentag lud mich quasi hintreibend zur Burg ein, und dem Regen möchte ich dafür dankbar sein. Auch der Museumsshop bietet eine gelungene Auswahl von Souvenirs und Literatur an, die Groß und Klein anspricht.
Noch tiefer in die Geschichte dringt das Musée de Préhistoire de Tautavel (Corbières) ein. Ein paar Kilometer weiter vom Ort fand man in der Höhle Caune de l’Arago das Skelett eines homo heidelbergensis aus einer Zeit vor ca. 450.000 Jahren. Meine Reifenpanne, die mich länger als üblich am Mittag beschäftige, sorgte jedoch dafür, dass ich das Museum erst kurz vor Einlassschluss erreichte und mir ein Schnelldurchlauf nicht sinnvoll schien. Zur originären Höhle könnte man eine Straße hochfahren, würde aber an einer geschlossenen Tür enden (von unten zu sehen), Besichtigungen gibt es wohl nicht zu allen Zeiten oder aktuell wohl gar nicht. Ganz ohne Attraktion ist man dort trotzdem nicht. In Tautavel gibt es eine eigenwillige Fotoserie von Bildern des Ortes, stets mit Mann mit Hut im Bild. Unterhalb der Höhle wiederum wartet eine besondere Schlucht, die weder radelbar, noch gut begehbar ist und wie ein Wadi in Arabien wirkt – die Gorges de Gouleyrous.
Der Train à vapeur des Cévennes verkehrt als Museumseisenbahn zwischen Anduze und St-Jean-du-Gard am Fuße der Corniche des Cevénnes, eine Station befindet sich auch direkt am Bambusgarten in Anduze. Im Bahnhof von St-Jean-du-Gard gibt es schöne Souvenirs bis hin zu Modelleisenbahnen zu kaufen, in einem Nebenraum ein kleines Eisenbahnmuseum mit historischen Ausstellungstücken. Der Besuch ist kostenlos. Früher verkehrte auf der Strecke der Seidenzug, dessen Name sich auf die einstige Seidenproduktion in der Region bezieht. Den Bambusgarten erreichte ich noch am selben Tag, allerdings über eine weite Umwegschleife, sodass die Tore zum Bambusgarten gerade geschlossen wurden. Ohnehin hatte ich Kommentare gelesen, dass Eintrittspreis und das Gebotene in einem Missverhältnis stehen. Von außen ist vom Bambusgarten fast nichts zu sehen.
Von Seide und Bambus ist der Weg nicht weit zu Cellulose und Papier. Die Moulin à Papier in Brousses-et-Villaret in einer idyllischen Ecke an einem Bergbach gelegen, gibt Einblicke in die Geschichte der Papierproduktion und stellt heute noch exklusives Schreibpapier, Karten, Papierkleider für besondere Anlässe u.a.m. her. Die Tour durch verschiedene Stationen der Papierproduktionen (10,50 €) führt der Betreiber der Mühle selber durch. Familien, Schulen usw. können auch Workshops buchen, um noch mehr praktische Einblicke zu bekommen und Papier kunstvoll zu bemalen oder zu kalligraphieren. Das heutige Papier mit kleiner Produktionskapazität wird überwiegend aus Lumpen produziert, zuweilen wird noch Pflanzenmaterial aus dem eigenen Garten zugegeben. Die Edelpapiere sind also auch nachhaltig hergestellt. Im Museumsshop gibt es kunstvoll bemalte Papiere und Karten, die in Zusammenarbeit mit Künstlern oder Grafikern entstehen.
Ich hätte nicht erwartet, dass ich auf dieser Reise mit ukrainischer und russischer Kunstfertigkeit konfrontiert werde. Zu verlockend war es für mich, in Andorra das Museu de la Miniatura (Ordino, 7 €) zu besuchen, eine weltweit einzigartige Ausstellung. Die Miniaturkunst entstand in Russland und der Ukraine. Der in Kharkiv ausgebildete Nicolai Syadristy (N. Siadristy) gilt als der führende Kopf in dieser Kunstform, dessen Exponate hier mittels Vergrößerungsokular zu bewundern sind. Da wandert eine Karamelkarawane in Gold an einer Pyramide vorbei und die ganze Szene passt in ein einziges Nadelöhr. Oder ein Aquarell auf einem Spezialpapier auf einem halben Apfelkern. Oder die kleinste Inschrift der Welt in Platin gestochen auf einer Haarspitze. Solche Werke kosten ein halbes Jahr an Arbeit. Die Kuratorin des Museums führt durch die Schau und legt den Bogen hin zu den Ursprüngen dieser Kunst, die in der russischen sakralen Malerei liegen, den Matroschkas und kleinen Schatullen aus Pappe – kunstvoll ausgezierte Nuancen, bemalt un lackiert als wären sie aus Perlmutt.