Giro d’Italia 2006-4: Der umbrisch-markesische Apennin mit den Monti Sibillini [Sirolo – Albaneto]
Dichter, Sagen, Trüffel, Blumenteppiche, romantischer Wasserfall und erschütterte Erde
(13) Di, 27.6. Sirolo (127 m) – Porto Recanati (6 m) – Recanati (293 m) – Sambucheto (~70 m) – Macerata (315 m) – Sforzacosta (~100 m) – San Ginesio – (~900 m) – San Lorenzo al Lago (~750 m) – (~900 m) – Muccia (454 m)
129 km | 1505 Hm
Bei strahlendem Sonnenschein fahre ich von Sirolo hinunter ans Meer und passiere zahllose, noch leere balneari e stabilimenti. Warum brauchen Menschen soviel Zirkus für ein Bad im Meer und in der Sonne? Einige engagierte Frühjogger und -schwimmer zeigen sich schon. Das Meer liefert ein angenehmes Morgenklimat, ich bin schnell in Porto Recanati.
Um mich nicht in zuviele Besichtigungen zu verstricken, lasse ich Loreto aus. Ich wähle die direkte Route nach Recanati, eine weiche Steigung führt durch weites Hügelland, leuchtende Sonnenblumen grüßen mich. In diesem Landhaus würde sich schön leben lassen. Ich fahre zunächst auf der Ringstraße um Recanati herum und stoße auf den Colle dell’Infinito, den Hügel der Unendlichkeit, oder den ermo colle, den öden Hügel, wie der Dichter Leopardi ihn für sich empfand. Die viele Büschen und Bäume bieten ein schattiges Refugium, in das man sich zurückziehen kann.
Italiens berühmtester Dichter
Nach ein paar Irrungen finde ich über Pflastersteinstraßen schließlich das Casa Leopardi, das Geburtshaus des berühmtesten Dichters Italiens. Sein Rang ist dem Goethes in Deutschland vergleichbar. Dass Giacomo Leopardi im Ausland nie so bekannt wurde, hängt auch mit der Schwierigkeit zusammen, seine Dichtkunst in geeigneter Weise zu übersetzen. Seine mitunter schwülstigen, opulenten Gedichte sind von „unheilbarem Weltschmerz“ gekennzeichnet, seine Seele litt an pessimistischen Selbstzweifeln, sein Verstand aber war von Jugend an scharfsinnig. Er beherrschte zahlreiche Sprachen und übertraf das Wissen seines Hauslehrers bereits im frühen Teenageralter.
Weniger bekannt als seine Gedichte sind seine Anmerkungen und Weisheiten zu Moral und Geschehen seiner Zeit. Er schrieb eine ironische Kritik an dem Macht- und Kriegsdenken des Napoleonischen Zeitalters („Die Fortsetzung des Froschmäusekriegs“) und entwickelte philisophische Grundlagen für einen Nihilismus, den Friedrich Nietzsche später ausformulierte. Das Leben des 1798 geboren Dichters endete bereits 1837 in Neapel. Zu meinem Pech ist noch alles geschlossen, lediglich große Weinfässer werden gerade aus dem Keller gehievt. Auch die meisten Geschäfte sind noch geschlossen. Nach weiteren Streifzügen durch meist unbelebte Gassen entdecke ich auf der geräumigen Piazza Leopardi noch einen besonders eindrucksvollen Kirchturm.
Große Opernbühne
Die aufkommende Tageshitze erinnert mich ans Weiterfahren. Von dieser Hügelstadt geht es zur nächsten. Hinunter in die Talsohle fahre ich nebst starkem Verkehr wieder hinauf, mittlerweile schon unter sengender Hitze. Macerata erscheint ungleich geschäftiger als Recanati – eine Business- und Studentenstadt und für sein Open-Air-Opernfestival berühmt. In der großen Arena Sferisterio tummeln sich im Juli und August die Opernfreunde bei Aufführungen aus dem klassisch-italienischen Repertoire. Wer keine Karten und Unterkunft hat, sollte dann von einem Besuch der Stadt absehen. Meine primäre Ehrfurcht auf der Velotour gilt aber einer ganz profanen Einrichtung, wie sie an so vielen Orten in Italien dem Bewohner wie dem Reisenden offen steht: dem Brunnen. Seine gestalterische Varianten sind dann auch immer wieder überraschend, hier entdecke ich in einer Seitenstraße eine Wasserstelle in Form einer Teekanne. Eine Kleinigkeit von großer Bedeutung inmitten der großen Hitze.
Verträumte Landschaften mit Trüffel und Wildspezialitäten
Unten in der nächsten Flussaue suche ich nach einer Bademöglichkeit, die sich Rande eines lokalen Radweges findet. Überraschend kühl ist das Wasser. Wieder trödele ich ziemlich lange, sattele erst auf als erste Wolken vor die Sonne ziehen. Ziemlich kraftlos rolle ich sanfte Steigungen hinauf, es ist drückend schwül, erst am Abzweig von Santa Maria di Pieca klart die Abendsonne wieder auf. Hier beginnt meine Tagesendrallye, zunächst eine einsame Bergstraße hinauf an einem Bergort Monastero vorbei, mit eindrücklichen Panoramablicken in sich ändernder Vegetation.
Dann erreiche ich einen Sattelpunkt, von dem ich bei mäßigem Gefälle zum Lago di Fiastra hinunterstrebe. Ein außergewöhnlich mildes Mikroklima geht von dem See aus. Ebenso sanft verträumt liegt der See, immer wieder von Waldzonen versteckt. Nach einer Kehre über einen Zufluss strömt das Wasser aus einer dort nah gelegenen Quelle über den Fels. Nicht nur hier, überall dringt Wasser aus Stein und Waldboden hervor. Dann diese geruhsame Stille am See – ein Ort besinnlicher Einkehr. In San Lorenzo al Lago wäre gar ein einfacher Campingplatz, Ristorante im Ort.
Von der Brücke über den See am südlichen Ende ergibt sich ein faszinierender Blick in Richtung der Monti Sibillini, sogar noch mit Schneeresten – wieder ein neuartiger Landschaftstyp. Eine harte Steigung, eher unerwartet, muss ich dann bezwingen um den Talkessel zu verlassen. Den Etappenort Múccia hatte ich bewusst eingeplant, weil in einem Reiseführer Hotel und Restaurant dort besonders empfohlen wurden. Bei der folgenden Abfahrt habe ich noch Tageslicht, die ebene Strecke zwischen Polverina und Múccia muss ich dann mit Licht fahren.
Im Hotel „Del Cacciatore“ erhalte ich dann ein gutes Zimmer mit Balkon und geradezu luxuriösem Bad (35 €), aber zur Straße hin, welche dort ziemlich stark befahren ist und wo auch des Nachts noch einige LKWs herdonnern. Das Restaurant ist einem wunderbarem Ambiente gehalten mit großen gemalten Fasanen an der Decke, die gleich auf eine Spezialität des Hauses weisen. Leise plätschert ein Brunnen, ich verbleibe bald als einziger Gast. Leider gibt es aktuell weder Fasan noch die gleichfalls vom Reiseführer empfohlene Polenta. Ich genieße stattdessen hausgemachte Tagliatelle mit Trüffel und Hirschgulasch, auch ausgezeichnet und regionale Spezialitäten, wenngleich mich der Trüffelgeschmack nicht so umhaut, als dass ich das in der ewigen Bestenliste vermerke.
(14) Múccia – Passo delle Fornaci (815 m) – Visso (607 m) – Forca di Gualda (1496 m) – Castelluccio (648 m) – Forca di Presta (1536 m) – Arquata del Tronto (777 m) – Forca Canapine (1543 m) – Forca di Santa Croce (813 m) – Nórcia (604 m) – Forca D’Ancaranao (1008 m) – Preci
130 km | 2750 Hm
Monti Sibillini mit Sagenwelten
Die Nacht war mit dem Lärm von der Straße nicht sehr erholsam. Auch hier ist die Bezeichnung Frühstück für das Gebotene fehl am Platze. Die Fahrt zum Passo delle Fornacci ist leicht zu bewältigen, silbrig schimmern Bäume und Wiesen, die Seele erfreut sich an der wohltuender Morgenstimmung. Der Pass ist heute ein kleiner Tunnel, für Engagierte ist auch die alte Passstraße mit ein paar mehr Höhenmetern noch zu befahren. Ebenso leicht beschwingt ist die Abfahrt bis Visso, ein charmantes Städtchen mit dem Sitz der Nationalparksverwaltung der Monti Sibillini. Diese Bergregion hält eine Vielzahl von Hexengeschichte bereit, die sich bis heute noch im Bewusstsein der Bevölkerung halten. Entsprechend geheimnisvolle Gestalten werden hier in Büchern und als Figuren in den Souvenirläden vermarktet. Ich frühstücke in einem erholsamen Park mit Wasserfontäne, Kinder finden hier reichhaltig Spielgeräte.
Vor mir liegt das enge mit bewaldeten Hügeln zugeschnitte Nera-Tal. Der Anstieg ist ziemlich hart, die Hitze ermattet mich wieder schnell. Am Waldhang finde ich vereinzelte Walderdbeeren. Weiter oben enden die Waldabschnitte gänzlich, die Straße liegt offen, der Pass in erkennbarer Entfernung. Auf dem Forca di Gualdo bestimmen dann offene Wiesen mit Bergblumen und weidenden Kühen das Bild. Ein offenes Panorama weitet den Blick nach Osten. Einige Autofahrer platzieren sich hier für ein Picknick, andere starten zu einer Wanderung weiter hinauf. Vor der Abfahrt kann ich mich am Brunnen abkühlen.
Die Blütenteppiche des Piano Grande
Hier ungefähr liegt die Grenze von der Marken zur Region Umbrien, welche ich nun fortfolgend durchkreuze (bis auf einen kleinen Zipfel Marken um Arquata del Tronto). Schon bald kristallisiert sich bei der Abfahrt der ganz eigene Charakter des Piano Grande heraus. Weit strecken sich die Linsenfelder über die Ebene, bilden zusammen mit Klatschmohn und Kornblumen jene eindrücklichen, fast horizontlosen rot-blau-gelben Streifenmuster, die das Auge zum Staunen bringen. Nur ein erdbrauner Hügel erhebt sich mitten heraus, auf der das Städtchen Castelluccio thront. Der Ort feiert jedes Jahr im Juni das Fiorita, ein Blumenfest – ich komme gerade wenige Tage zu spät. Die Blumenmuster werden in allen erdenklichen Formen vermarktet, meine Bilder bleiben im dämpfenden Sommerdunst weit hinter dem aufpolierten Farben der Karten zurück. Auf der Straßenterrasse einer der Gasthäuser herrscht internationales Sprachengewirr in einer Mountainbike-Gruppe – darunter auch Deutsche.
Die eindrücklichen Farben rücken mir erst nach Castelluccio auf der Ostseite der Ebene richtig ins Auge. Eine Gruppe mit weiß gekleideten Nonnen stellt sich zum Foto-Shooting in die Felder, ein besonders sich hervorhebendes Farbarrangement. Den Forca di Presta erklimme ich etwas zu leicht, sodass ich der Höhenangabe auf der Karte misstraue. Von der kahlen, steinigen Passhöhe, sticht die Abfahrt über engen Kehren steil nach unten. Die Landschaft vermischt nunmehr liebliche Waldhänge mit rauen Felszacken, durch kleine Dörfer sause ich etwas riskant auf schmaler, holpriger Straße von trocken-heißer Luft umweht bis Arquata del Tronto, versäume fast den richtigen Abzweig, auch weil mir zwei Auto-Italiener nicht weiterhelfen können.
Um nicht unnötige Höhenmeter zu verlieren, sollte man die nicht ausgeschilderte Fahrt durch den Ort nach Westen in der Halbhöhenlage entlang des Berghangs wählen. Die kaum befahrene Straße stößt dann später auf die von weiter unten kommende Hauptstraße. Diese Strecke führt durch ein paar Tunnels, die Hänge von gelbem Ginster überzogen, links unter mir die nur langsame steigende Talsohle. Als ich schon abgekämpft den für Radfahrer gesperrten großen Tunnel erreiche, beginnt eigentlich erst der richtige Anstieg zum Forca Canapine. Lange ist das Ziel nicht erkennbar, windet sich die Straße doch immer wieder in unterschiedlichen Richtungen nach oben. Erst duften die Blüten, summen Bienen, plätschern kleine Bergbäche, dann reibe ich mich an den langwierigen letzten Steigungen in den offenen Bergwiesen auf. Auch am Forca Canapine sind wieder Wintersportlifte zu sehen, bei heftigem Wind ist es unerwartet kühl.
Tragische Orte der wackelnden Erde
Berauschend ist die lange Abfahrt, ebenso bald wieder entlang honigsüß duftender Berghänge. Die Ebene Richtung Nórcia ist dann eher wenig aufregend. Schweißüberströmt suche ich wieder die tagsüber verlorene Zeit durch Tempofahren reinzuholen. Nórcia zeigt sich mir dann als einladender, charmanter, lichtdurchflossener Ort, die Jugend bevölkert Plätze und Straßen, Touristen schlendern durch die Gassen mit vielen kleinen Geschäften, die meisten bieten regionale Spezialitäten an. Die Restaurants hier sind bekannt für gute Trüffel- und Linsengerichte.
Die Häuser sind niedrig auf zwei Stockwerke begrenzt, weil seit dem Erdbeben von 1859 ein behördlich verordnete maximale Bauhöhe von 12,50 m gilt. Trotzdem zerstörte 1979 ein starkes Beben erneut zahlreiche Gebäude. Mittlerweile hat sich Städtchen aber wieder erholt und hübsch rausgeputzt. Auf der zentralen Piazza weist der Stadtheilige Sankt Benedikt, dem Begründer des abendländischen Mönchtums, den Weg. Da es hier keinen Campingplatz gibt und preiswerte Bed&Breakfast-Unterkünfte weit außerhalb des Ortes liegen, versuche ich doch noch das ursprüngliche Etappenziel Preci zu erreichen. Spätestens nach der Durchfahrt einer nicht freundlich gesinnten Hundestaffel fühle ich mich bestärkt, nicht nochmal abends in Nórcia einzufahren. Es folgen nochmal 400 Höhenmeter, die ich bei der mäßigen Steigung mit erstaunlicher Fitness teils im sportlichen Wiegetritt wegdrücke.
Nach den offenen Wiesen und einer mitteleuopäischen bewaldeten Szenerie wechselt das Landschaftsbild nach dem Forca D’Ancaranao in ein liebliches, mediterranes. Warme Luft strömt von den Hängen mit Olivenbäumen, kleine Dörfer blicken von den Anhängen der Berge über das Tal. Schon brennen Lichter, aber noch erreiche ich Preci in der Talsohle bei Dämmerung.
Auch hier ist es das leidige Problem: Der hübsche Ort auf dem Hügel liegt linker Hand über den Fluss, der Camping gute zwei Kilometer, mit einer giftig-steilen Rampe rechter Hand abseits davon. Die Extrahöhenmeter stecke ich jetzt auch noch weg, versäume allerdings damit auch einen Gang durch den Ort. Bei der Auffahrt ergibt sich der beste Panoramablick auf Preci. Am Anfang eines Teilortes führt schießlich eine Straße am Hang nach unten zum Camping. Der Platz ist stark besucht, für erholungssuchende Urlauber ein schöner Ort, für einen Zwischenstop mal wieder etwas umständlich. Ich esse im Camping-Restaurant, wieder eine übliche, ordentliche Gerichtsfolge ohne besondere Merkmale.
(15) Preci – Triponzo (560 m) – Serravalle – Cáscia – Forca del la Cama (938 m) – Rúscio (~800 m) – Leonessa (969 m) – Valico Torre Fuscello (1050 m) – Morro Reatino – Madonna della Luce (~370 m) – Forca dell’Arone (509 m) – Arrone – Cacata delle Marmore (204 m) – Marmore (~370 m)
118 km | 1296 Hm
Variationen in Klatschmohn
Im herrlichen Morgenlicht rolle ich gemütlich durch das von engen, dicht bewaldeten Berghängen umgrenzte Nera-Tal. In Triponzo ist die auf der Karte eingetragene Alternativstrecke Richtung Serravalle gesperrt. Die alte Straße ist dem Verfall preisgegeben und kann auch nicht mehr von Radfahrern benutzt werden. Ich muss also den Abzweig etwas weiter südlich nehmen, wo alsbald ein ein Kilometer langer Tunnel wartet. Hier ist der Verkehr sogar etwas stärker als zuvor im Nera-Tal.
Es folgen weitere kleine Tunnels, daneben verläuft eine Schlucht, die von leuchtend grünem Buschwerk durchdrungen ist. In Serravalle folge ich weiter dem Fiume Corno, während es von hier aus geradewegs in östlicher Richtung nur noch wenige Kilometer bis Nórcia sind. Die Straße ist nun weniger belebt, das Flusstal öffnet sich mehr, mäandert idyllisch dahin. Auf kleinen Inseln aus weißem Kieselgestein wächst leuchtend roter Klatschmohn, erzeugt ein farbenprächtiges Fest der Sinne.
Aus dem Wiesengrund der Talsohle heraus fällt bald der Blick nach oben, auf eine Stadt am Hang gelegen, im unteren Teil des Anstieges zum Forca de la Cama. Cáscia hat ein paar schöne Gässchen, ist auch eine Hochburg für Trüffel, Wildfleisch, gute Würste und Schinken. Trotzdem sind die großen Kapazitäten von etwas besseren Hotels hier doch überraschend. Der Grund liegt in der Schutzpatronin der Hausfrauen, der heiligen Rita, zu der hier große Pilgerströme ziehen. Mir schmeckt indes ein Sandwich mit saftigem Kochschinken ausgezeichnet. Der Clou sind aber Bonbons mit echtem Trüffelpilz. Leider erlaubt die große Hitze nur kleinste Vorräte.
Und auch der weitere, als solches nicht so schwierige Anstieg leidet an den hohen Temperaturen. Südlich des Passes bietet sich ein weiter Panoramablick, die Landschaft ist offener. Nach der kleinen Abfahrt liefert ein Trinkstelle an einem Picknickplatz wieder dringende benötigte Erfrischung. Wieder bildet der Fluß Landschaft aus weißem Gestein und Klatschmohn. Obwohl die Wassertiefe nicht echtes Baden erlaubt, kann ich mich abkühlen. Das Wasser ist erstaunlich kalt, sorgt für einen prickelnden Kontrast zur heißen Luft. Und der Mohn sorgt für faszinierende Fotomotive.
Burgen und Mittelalterfest
Ich setze dann bei nachmittäglicher Hitze die Fahrt fort, ein eher leichter Anstieg mit weiten Perspektiven, eine lange Gerade, fast eben, weiter nach Leonessa (dieser Abschnitt bis Madonna della Luce unterbricht das umbrische Gebiet durch einen Streifen Latium). Die Straßen hinter dem einsdrucksvollen Stadttor sind bunt geschmückt, für das Wochenende sind Festivitäten angekündigt – mittelalterliche Musik und ein Radrennen gar.
Weil ich plane, nochmal nach Leonessa zu gelangen, fahre ich nach dem Wassertanken wieder weiter, hinüber über eine in einem langen Bogen gezogene Brücke. Ein biestiger Wind behindert meine Auffahrt, der Mund trocknet nach jedem Schluck sofort wieder aus. Parallel zur Hauptstraße verläuft noch eine alte Passstraße, die eine etwas höhere Passhöhe erreicht, aber ebenso im offenen Berghang verläuft. Der Valico Torre Fuscello beschreibt eine Tunneldurchfahrt.
Dahinter liegt wieder eine veränderte Landschaft. Ein weitgehend schattiger Laubwald an den Hängen der Monti Reatini sorgt für ein angenehmes Fahrklima. Und die im leichten Abschwung befindliche Halbhöhenstraße mit weiten Kurven sorgt für erhellenden Fahrspaß. Aus dem Wald heraus fallen dann Blicke auf kleine Hügeldörfer, auf einen See in der Talsohle, von ein paar Burgen umgeben, einem lieblichen Blick wie durch das Fenster eines romantischen Malers.
Aus dem Wald heraus fallen dann Blicke auf kleine Hügeldörfer, auf einen See in der Talsohle, von ein paar Burgen umgeben, einem lieblichen Blick wie durch das Fenster eines romantischen Malers. … [und] wieder ein Wechsel der Vegetation, lichte Hänge mit Olivenbäumen, silbrig glänzend und von sanfter Anmut. Dörfer schmiegen sich ins Bild, unten in Arrone herrscht lebhaftes Treiben, …
Nach kleiner, ebener Strecke, beginnt kurz nach Madonna della Luce ein weiter Anstieg zum Forca dell’Arrone. Obwohl ich mich um ein hohes Bergtempo bemühe, fliegt an der Passhöhe ein Rennradler an mir vorbei – Profi oder ein Einheimischer, der vor der Passhöhe einen Endspurt hinlegt? – Auch hier wieder ein Wechsel der Vegetation, lichte Hänge mit Olivenbäumen, silbrig glänzend und von sanfter Anmut. Dörfer schmiegen sich ins Bild, unten in Arrone herrscht lebhaftes Treiben, der Autoverkehr nimmt zu, der Horizont bleibt faszinierend.
An der Einmündung auf die SS 209, die hinauf ins Valnerina führt, ist auch die letzte Hoffnung auf ein Fahrt bis zum Etappenplanziel Spoleto verflogen. Ich entscheide mich, die Nord-Süd-Schleife Spoleto/mittleres Nera-Tal/Marmore zu streichen und gleich nach Marmore zu fahren. Noch ist Zeit die berühmten Cascata delle Marmore in Augenschein zu nehmen, ein Campingplatz soll dort in der Nähe sein.
Wasserfall der Poeten
Auf der nun sehr stark befahrenen Straße Richtung Terni dauert es nicht lange bis linker Hand (westlich) die Parkplätze für die Wasserfallbesucher auftauchen. Wenig später ist auch ein Eingang, der zwar bewacht wird, die Dame aber winkt mich ohne Eintrittsticket durch. Von unten lassen sich die Cascata delle Marmore vollständig einsehen, die hohen Strahle sind etwas weit weg, die Idylle der Wasserspiele aber ist greifbar. Die eigentliche, ticketpflichtige Besichtigungstour beginnt weiter unten oder oberhalb der Wasserfälle, von Marmore aus. Dafür bin ich aber zu spät. Vorteil dieser Tour: Die Balkonsicht hinter einem großem Wasserfall, ein erfrischend-nasses Vergnügen beim Öffnen der Schleusen und noch mehr idyllische Plätze zwischen Kaskaden und kleinem See. Glanzvoll, besinnlich. Nicht überraschend, dass zahlreiche Dichter sich hier lyrische Inspiration holten. Und das scheinbare Naturwunder ist um so wunderlicher, als dass man weiß, dass es von Menschenhand geschaffen wurde. Bereits 271 v. Chr. leiteten die Römer das Wasser hierher, um Überschwemmungen des Velino zu verhindern.
Der Campingplatz kann nicht weit sein – so gedacht, ist zu leicht gedacht. Leicht ist nur die nicht in Anspruch genommene Weiterfahrt nach Terni. Doch der Abzweig Richtung Marmore (nicht ausgeschildert) führt in einer von unten martialisch wirkenden Schleife nach oben um eine Bergkante herum, starker Verkehr inklusive. Die vier Kilometer danach sind dann weniger steil (die Wasserfälle überwinden 165 m). Der Camping (7 €) liegt am Ortsausgang Richtung Rieti, direkt oberhalb und neben dem oberen Eingang zu den Wasserfällen. Aus kommerziellen Gründen wird dem Campingbesucher jedoch jeder Blick auf die Kaskaden durch Schutzzäune verwehrt, was ein bisschen Gefängnisatmosphäre beschert. Der durchweg schattige Platz mit schlechten Sanitäranlagen dürfte für Langzeitcamper weniger attraktiv sein. Scheinbar einzige Essgelegenheit besteht in einem nahen Restaurant mit ordentlich-mäßiger Qualität.
(16) Marmore – Rieti (402 m) – Sella di Leonessa (1901 m) – Leonessa (969 m) – Albaneto (1050 m)
92 km | 1715 Hm
Trotz Melone: In der Ruhe fehlt die Kraft
Ich habe schlecht geschlafen, noch ziemlich müde verlasse ich bereits nach acht Uhr Marmore. Fast eben ist die Strecke bis zum Lago Piediluco. Ein paar noble Villen, ein Hotel, dann ein kleiner Ort, sauber herausgeputzt, heimelig, ein Leben jenseits aller Hektik. Der See liegt idyllisch, Morgennebel noch über dem Wasser, die umliegenden Waldhänge reichen bis über die Wasseroberfläche. Über den See gleiten Ruderer, lautlos, ab und an eine Anfeuerung vom Trainer – im Motorboot, doch das Geräusch wird von der Stille geschluckt. Jedes Jahr gibt es hier zur Saisoneröffnung eine bedeutende Regatta. Doch soviel Trubel ist hier selten. Ich verweile an der kleinen Promenade mit dem gerade eingekauften Frühstück. Die Hitze ist schon spürbar. Ich könnte schon pausieren, vielleicht einschlafen. Es gibt einen kleinen kommerziellen Strand, ein weiterer beim Camping weiter draußen, sonst gibt es wohl keine freien Zugänge zum See.
Ich passiere nun die Grenze von Umbrien nach Latium. Bei einem leichten Anstieg treffe ich auf einen Rennradler aus Rieti, der kaum glauben will, dass ich mit meinem Rad über den Sella di Leonessa fahren will und ist beeindruckt von meiner weiteren Reiseroute nach Sizilien. Motiviert von den frischen Glückwünschen komme ich ein kleines Stück besser vorwärts, doch kurz vor Rieti holt mich die Müdigkeit ein.
Breite, moderne Straßen führen in die Stadt. Im ersten kleinen Park am Stadtrand suche ich eine Bank, suche das Heil in einem Kurzschlaf. Der Effekt ist diesmal gering. Ich schleppe mich weiter in die Stadt. Rieti ist von einer gut erhaltenen Stadtmauer umgeben, viele Türme und schöne Dächer prägen das Bild von den leicht erhöhten Punkten. Am Brunnen in einem kleinen Stadtgarten versuche ich mit kaltem Wasser über meine Füße die Lebensgeister zu wecken. Die Lebensgeister schweigen weiter.
Viele Straßenzüge sind mit Lichtdekoration überbaut – was nicht auf ein Fest hinweist, sondern wie in vielen Orten, die Neigung des Italieners augenfälligem Kitsch. An einer Ausfahrt aus der Stadt steht eine ebenso pathetisch kitschige Figur mit einer Münze zwischen den Händen. Das Datum 2001 weißt auf die Einführung des Euro hin, Prominente haben hier ihre Fürsprache für den Euro verewigt. Ob diese „politische“ Kunst die Bürger überzeugt hat? – Nun, der Euro hat sich auch gegen die Bedenken durchgesetzt und ich bin als Reisender dankbar für die einheitliche Währung.
Straßenverfall am höchsten Apennin-Pass
Den nächsten Versuch einer Belebung versuche ich an einem Melonenstand. Das zu große Stück wird dann aber eher noch zusätzlicher Ballast. Die Ausfahrt Richtung Leonessa ist etwas verwirrend ist, denn die Fahrt über den Pass ist keine reguläre Straßenverbindung mehr. Die Schilder Richtung Leonessa führen entsprechend zurück nach Piediluco und dort weiter um die Monti Reatini herum, jene Straße, die ich bereits am Vortag in umgekehrter Richtung gefahren bin. Daher muss man die Ausschilderung Richtung Monte Terminillo suchen. So strebt die Straße nach Norden durch Neubaugebiete, unter praller Sonne glaube ich dahinzuschmoren. Schon die ersten Steigungsprozente hauen mich um. Nochmal Melone zur Stärkung und Ballast weg. Vergeblich suche ich einen geeigneten Rhythmus.
Immerhin folgen einige schattige Passagen, wenige Ausblicke und eine eher gewöhnliche Mittelgebirgsvegetation gestalten den Aufstieg etwas langweilig. Der Verkehr ist trotz annoncierter Sackgasse überraschend stark, was nicht zuletzt diversen Bautätigkeiten in den oberen Skiorten zu schulden ist. Trotz der schweißtreibenden Arbeit bei vielfach 7-8 % Steigung, zeitweise auch mehr, gewinne ich recht unergründlich zunehmend an physischer Kraft. Über den Kampf zur Fitness. Die Müdigkeit schwindet langsam. Auf halber Höhe, in Pian di Rosce, ergibt sich ein etwas seltsamer Anblick: Auf zwei offenen grünen Bergwiesen sonnen sich zahlreiche Italiener, ganz ohne einen Wasserlauf oder gar einen See in der Nähe. Die Liegewiesen sind im Winter Skigebiet. Jetzt sieht man nur eine Bar im Bau befindlich.
Die Straße wird nun steiler, 10 % sind das Mindestmaß. Mühsam erreiche ich die ersten Häuser Pián dei Valle, langweilige Wintersportarchitektur ebenso wie wenig später in Campoforogna. Hier endet die offizielle Straße, eine Schleife führt noch zu einer Jugendherberge, dann folgt eine Straße mit eingeschränkter Nutzung. Die Vegatation wird eigentümlicher, alpiner, nur noch wenige Tannenwäldchen folgen, bis die Baumgrenze überschritten ist. Auf dem Sella di Leonessa weht ein unangenehm kalter Wind, die Altschneereste am Monte Terminillo (2216 m) lassen den Sommer kurz vergessen. Ein Passschild sucht man hier vergeblich, es ist wohl zu befürchten, dass die Straße dem Verfall preisgegeben wird – es sei denn, die Lobby der Radfahrer ist stark genug, den Weg für das alljährliche Radrennen über diesen Pass fahrtauglich zu halten.
Die Nordseite ist lieblicher als die Südseite, verschiedenartige Wälder, leuchtende Almwiesen, weite Panoramablicke zu den Hügelketten im Norden und ein alpiner, kaskadengestufter Flusslauf neben der Straße verzücken das Auge mehr als auf der Südseite. Dazu eine fast autolose Entrücktheit.
Bevor ich weiterfahre, besuche ich nochmals Leonessa, streife diesmal durch mehrere Gassen. Auf der zentralen Piazza werden die Vorbereitungen für das abendliche Konzert mit mittelalterlicher Musik getroffen. Günstige Unterkünfte scheinen rar. Die Bettenkapazität dürfte zudem wegen des Festes angespannt sein. So radele ich nach einem Eisgenuss wieder weiter. Zahllose Hügelketten überblickt mein Auge gegen Westen. Nach einer Talmulde gleite ich angenehm durch die Abendsonne in ländlicher Ruhe das Val Carpineto hinauf.
Kurz vor dem Sattelpunkt liegt Albaneto, ein kleiner Ort mit dem Albergo/Ristorante „Tonino“. Zwar könnte ich bequem noch Posta erreichen, dort gibt es nach meiner Kenntnis jedoch keine Unterkunftsmöglichkeit, ebenso ist auch im weiteren Verlauf meiner Route das touristische Angebot ziemlich dünn. Das Albergo (35 €) macht den Eindruck eines symphatischen Berghotels. Der Service ist dann – wenn auch bemüht freundlich – doch eher etwas skurril. Einer der Angestellten ist geistig behindert und sorgt für Verwirrung. Nachdem ich mich als Deutscher zu erkennen geben, werde ich erstmal mit den wichtigsten Ergebnissen der Fußball-WM konfrontiert und der Nachricht „Tour de France, Prolog – Ivan Basso, Jan Ullrich – Doping!“ Das Zimmer ist extrem eng und direkt unter dem Dach, ungelüftet und entsprechend aufgeheizt von der Sonne. Die kleine Fenster lassen kaum die angenehm frische Abendluft herein – schade für die eigentlich herrliche Lage hier. Das Essen wird vorgegeben, eine Wahl habe ich nicht, die Qualität ist ziemlich mäßig.