Giro d’Italia 2006-5: Die versteckten Bergwelten der Abruzzen und Monti del Matese [Albaneto – Telese Terme]
Schöne Kargheit, alpine Gletschergefühle, ungehörtes Wolfsgeheul und einsame Bergwälder
(17) Albaneto – Posta (700 m) – Valico Casale Bottone (1054 m) – Montereale (945 m) – Póggio Cancelli – Passo delle Capanelle (1299 m) – Fonte Cerreto (1000 m)
97 km | 1375 Hm
Honigsüßer Duft blumenschön im Gipfelfenster der Monti della Laga
Das spartanische Frühstück mit abgepackten Zwiebäckchen ist mal wieder nicht die Zeit des Wartens wert. Der Gastwirt verabschiedet mich mit einem gewissen Stolz, als hätte einer der Großen der Welt unter seinem Dach hospitiert. Nur kurz dauert es bis zu einem Sattelpunkt, von dem aus sich die zahlreichen Hügel- und Bergketten aus dem Morgendunst hervorheben. Die weiche Abfahrt führt durch eine herrlich farbige Flora. Silbrig glänzen Espen in der Flussaue, gelb leuchtet der Ginster, liebliche Grüntöne mischen sich in allen Schattierungen darunter. In Posta fühle ich mich bestätigt, hier keine Unterkunft finden zu können.
Die Fahrt zum Valico Casale Bottone lässt mein Auge noch mehr schwärmen. Die Farbtöne erreichen eine geradezu überschwängliche symphonische Dichte, honigsüßer Duft umweht meine Nase, Schmetterlinge wanken wählerisch über Wiesenblumen, Vögel zwitschern aus dem feuchten Buschwerk entlang des glitzernden Bachlaufs. Auf der sanften Steigung treffe ich einen älteren Ü-60-Rennradler mit erstaunlicher Altersfitness – wer weiß, ob ich in dem Alter überhaupt noch Berge hochkomme. Der Blick hier von der Passhöhe ist grandios in dem klaren Licht, die noch schneeweißen Gipfel der Monti della Laga schälen sich wie aus einem lieblichen Naturfenster in voller Schönheit heraus. Ich tauche nun in die Region Abruzzen ein.
Zum Gran Sasso d’Italia – Land der Viehherden
Hinunter durch Montereale, gleißendes Sonnenlicht, tiefgrüne Wälder dann gegenüber, erneut ein Anstieg, kleine Ansiedlungen, dann eine etwas schwierige Auffahrt durch halblichten Mischwald, eine Kuppe mit offenen Viehweiden hinunter, aber den Blick auf den folgenden Lago di Compotosto noch nicht freigebend. Zwei Radler haben eine Panne, ich biete Hilfe, sie danken ab, haben das Problem offenbar in Griff. In Póggio Cancelli finde ich keine Gelegenheit zur Versorgung.
Ich fahre zum See, wähle die kaum befahrene Westuferroute. Die Straße führt auf und ab, idyllisch der Blick an einem Picknick-Platz. Gegenüber liegt Campotosto, der einzige Ort, wo es wohl etwas zu Essen gibt, in Mascioni kann ich jedenfalls nichts finden. Zuvor habe ich die Brücke ausgelassen, das Ufer scheint touristisches Niemandsland. Überall weiden Schafe und Kühe, die Herden drängen bis zum Seeufer vor. Wenn man über die Wiesen nach unten wandert, finden sich überall Badegelegenheiten, wenn auch die steinigen Ufer nebst der stacheligen Viehweiden nicht unbedingt schöne Plätze bereithalten. Dafür ist der Blick auf die Bergwelt ein besonderes Schmankerl.
In der Pause zehre ich vom letzten Proviant, Obst und Süßes. Ich bleibe wieder ein wenig zu lang, zumal der Weg um den Westteil des Sees zusätzliche, nicht geplante Kilometer abverlangt. An der Südseite fällt dann die Straße Richtung L’Aquila zunächst deutlich ab und steigt nach der Einmündung auf die SS 80 wieder mäßig an. Der Passo Capannelle taucht in einer Mischung aus Weide- und Waldhängen etwas unerwartet auf, die gewichtige Steigung folgt aber erst jetzt mit der Fahrt Richtung Campo Imperatore. Von einem Kraftwerk führen Hochspannungsleitungen hinüber nach L’Aquila.
Ich mache mich dann auf den Weg zum Gran Sasso d’Italia, dem höchsten Gebirgsmassiv des Apennins. Die Route führt südlich der meist 2000er über kahle, zunächst stark gewölbte Almwiesen. Auf den braunen, steinigen, teils auch grünen Wiesen weiden zahlreiche Viehherden. Vereinzelt stehen grüne Büsche in den Berghängen und verleihen der Landschaft ein eigentümliches Bild. Die scheinbar öde Kargheit löst sich in vielen, sich ständig ändernden Perspektiven und Blickwinkeln auf, beschert dem Betrachter ein Potpourri wechselnder Horizonte. Dann wird meine Faszination gestört. Ich verspüre ein unsicheres Schwimmen meines Rades, bemerke dann, dass die Luft aus dem Hinterreifen entweicht. Direkt vor den Rindern darf ich dann reparieren.
Ich kann die Fahrt bald fortsetzen, es geht nach unten, nach Süden senkt sich das Tal noch tiefer, der Blick fällt auf die Autobahn, die bei Assergi im zehn Kilometer langen Tunnel unter dem Gran Sasso verschwindet und L’Aquila mit Teramo im Norden verbindet. Zwar ist der Höhenverlust enorm, aber die Straße bleibt doch noch oberhalb von Assergi. Nur noch ein kleiner leichter Anstieg folgt bis Fonte Cerreto, die westliche Ausgangsbasis zum Campo Imperatore und dem Gran Sasso. Der Ort besteht nur aus ein paar Hotels, Restaurants, Shops, einem Campingplatz und der Basisstation einer Seilbahn (Funivia del Gran Sasso), die zum nördlichen Zipfel des Campo Imperatore führt, welcher auch von Osten her über eine Stichstraße hinauf erreicht werden kann.
Ein Loch ist kein Loch oder Gaumenpinseln bei Da Maria
Obwohl noch zwei Stunden Reserve, ist die nach Castel del Monte zu überbrückende Strecke zu weit und schwierig. Ich muss also hier meine Etappe vorzeitig beenden, aber sicherlich kein Fehler. Der beeindruckende Blick vom Camping (10,50 €) auf den Monte Portella stimmt mich auf ein gemütliches Ende des Tages ein. Duschmarken und bescheidene Sanitäranlagen machen das Leben etwas umständlich, trotzdem ist der Platz wegen seiner romantischen Lage sehr zu empfehlen.
Trotz Wasserbad kann ich kein Loch in dem Schlauch finden, auch das Ventil zeigt keine Fehlfunktion. Ich kann mir den Luftverlust nicht erklären. Das Rätsel bleibt, dafür kann ich ein gutes Essen verbuchen. Bei „Da Maria“ sitzen viele Italiener – ich denke, das ist ein gutes Zeichen. Das Warten bei dem großen Andrang lohnt sich indes. Ungewohnt: Zunächst erhalte ich ungefragt köstliche Antipasti, danach wird die weitere Speisefolge verhandelt, Speisekarte unbekannt. Trotz meiner körperlichen Leistung kann ich die drei Gänge nicht vollständig verdrücken. So wundere ich mich über die Völlerei am Nachbartisch, die keinen Gang auslassen und doch weit weniger Kalorien verbraucht haben als ich.
Ein naturaler Minimalismus moduliert, changiert, mutiert immer wieder zu neuen Formen, Farben und Mustern. Jeder Tritt nach oben definiert den Horizont neu, schiebt mir eine neue fotografische Platte in mein visuelles Gedächtnis. … Die Langsamkeit meiner Bewegung steigert das Faszinosum in alle Sinne. Immer wieder anhalten, durchatmen, bewundern, genießen.
(18) Fonte Cerreto – bivio Fossa di Paganica (1764 m) – bivio Vado di Sole (~1400) – Valico di Capo la Serra (1600 m) – Castél del Monte (1346 m) – (~900 m) – Forchetta San Leonardo (1031 m) – San Pio (~800 m) – Prata d’Ansidónia (~870 m) – San Demétrio (672 m) – Molina (~450 m) – Forca Caruso (1120 m) – Pescina – Gióia dei Marsi (703 m) – Passo del Diavolo (1441 m) – Pescasséroli (1167 m)
178 km | 2700 Hm
Jeder Tritt ein neuer Horizont
Nicht nur die Steigungen zum Campo Imperatore sind heftig, auch der höchste Punkt, liegt mit 1764 m (kein Pass!) etwa 150 m über dem von mir nach Kartenstudium zu erwarteten Wert. Deutlich wirkt sich hochgebirgiges Terrain aus. In den ersten Steigungen blicke ich nach kleinen Waldstücken zurück auf die grünen Bergketten mit dem Monte Corvo und Monte Portella. Die Straße windet sich um den Monte Cristo herum, der einen weiteren Blick nach Norden auf den Corno Grande verhindert. Nach Süden schweift der Blick über grüne Berghänge, fast kahl bis auf das kurze Gras, dann doch wieder unscheinbar von kleinen Büschen durchsetzt – wie von einem Modellbauer dahingetupft.
Jeder Berg hat seinen eigenen Charakter. Ein naturaler Minimalismus moduliert, changiert, mutiert immer wieder zu neuen Formen, Farben und Mustern. Jeder Tritt nach oben definiert den Horizont neu, schiebt mir eine neue fotografische Platte in mein visuelles Gedächtnis. Die vermeintliche Kargheit, die oberflächliche Ödheit der Landschaft erfüll sich mit Leben, wächst in jeder geänderten Perspektiven zu einer neuen Facette inspirierender Schönheit zusammen.
Die Langsamkeit meiner Bewegung steigert das Faszinosum in alle Sinne. Immer wieder anhalten, durchatmen, bewundern, genießen. Auch die wenigen Autotouristen kommen nicht viel schneller voran als ich, denn sie müssen immer wieder aussteigen, müssen ebenso dieses kuriose Szenario einer lebendigen Stille bestaunen. Gelegentlich lugt aus Süden die große Hocheben bei L’Aquila hervor, zu entfernt aber, um städtische Umrisse zu erkennen.
Gewiss, ich habe an den Steigungen zu kämpfen, bin aber in guter Verfassung – Da Maria sei dank. Das Naturschauspiel stärkt meine Kräfte. Oasen mit Lippenblütler in Weiß, Gelb, Pink und Blau verzücken mein Auge. Schmetterlinge vollführen fröhliche Morgentänze auf, Bienensummen im stimmigen Chor. Die Pflanzen sind wohl meist nicht sehr speziell, nicht endemisch, aber die Kontraste inmitten der Bergwelt verleihen der alpinen Flora eine einzigartige Aura.
Auch der nächste Berg ist noch nicht – wie ich zuerst vermute – der Corno Grande. Auch der Monte della Scinderella schafft es, den mächtigsten Gipfel des Gran Sasso weiterhin zu verdecken. Dann tauchen Viehherden auf, verteilen sich weit über die Berghänge. Ein andere Herde drängt sich um eine Viehtränke, die von oben betrachtet wie eine geordnete Zirkusvorstellung an einer Piazza aus Lavagestein aussieht. Im Blick in die tiefe Talfurche schrumpfen Menschen, Autos und Tiere zu Spielzeuggröße. Die Grenzen des Menschen, die hier sehe, spüre ich auch in meinen Waden.
Nur Gletschergeflüster am Bergkegel des Corno Grande
Dann fahre ich über eine Sattelpunkt, die Landschaft breitet sich zu einer weiten Ebene aus, dem Campo Imperatore. Eine Straße zweigt ab zum Albergo Campo Imperatore an der Bergstation. Diese befindet sich auf 2130 m Höhe. Die neun Kilometer lange Auffahrt ist allerdings eine Sackgasse, die ich nicht noch einbauen möchte. Die Ostkette des Gran Sasso verleiht eine neue eigentümliche Perspektive, gefurchte Berghänge zeigen noch Altschneereste. Noch immer kein Blick auf den Corno Grande – ich zweifle, ihn ohne den Exkurs über die Bergstraße zu Gesicht zu bekommen.
Doch neue Reize füllen das Auge. Aus dem kargen Campo Imperatore erwachsen immer wieder große Zonen von Blüten, mal stabförmige gelbe Rautenpflanzen, mal weiße Kugelformen, mal rosa Distelstrahlen – meist einer gewissen, geradezu preußisch-militärischen Anordnung folgend. Nochmal ein Blick rückwärts – dann ist er doch zu sehen: der Corno Grande, ein wie aus den Dolomiten entliehener Kegel – mit 2912 m auf dem gleichen Niveau mit der Zugspitze – der höchste Gipfel des Apennins. Freilich – nicht nur weil der Zacken schon weit entfernt ist – der Gletscher, der südlichste in Europa und der einzige der Apenninen, ist von hier aus nicht zu sehen – er befindet auf der Nordseite.
Grillfest mit Bikini und Westernlook auf dem Campo Imperatore
Was schon bei der Auffahrt zu spüren war, ist nun hemmende Begleiterscheinung. Ein biestiger, recht kräftiger Wind streicht über die Ebene, natürlich von vorne. Die Straße, fast gerade, führt nach unten, ist aber holprig und bremst zusätzlich. Ein größere Radsportgruppe kommt mir entgegen, gibt mir aufmunternde Kommentare. Dann inmitten der Prärie ein Ansammlung von Autos und Menschen: ein Ort? Eine Bar? Ein Restaurant? – Mein Frühstück steht noch aus! Doch hier an dem Abzweig zu einem Rifugio in den Bergen – eher ein Adresse für Winterportler – hat sich ein etwas seltsames Sonntagsritual entwickelt. Mitten in der Landschaft haben zwei Marcellerias (Metzgereien, auch Käse) geöffnet, verkaufen hier schlachtfrisches Fleisch von den Viehherden des Campo Imperatore. Die Leute stehen Schlange. Anschließend wird das Fleisch zum Picknickplatz nach draußen gebracht, wo die Grillfeuer bereits angeworfen sind. Eine echte Restauration gibt es aber nicht. Pech für mich, denn mit der Rohware kann ich nicht viel anfangen. Also kein Frühstück.
Besonders kurios ist das Bild von Leuten in Badehose und Bikini, in einen Liegestuhl gelehnt, wie verloren hier in der weiten, kargen Prärielandschaft mit dem Blick auf die nunmehr weit entfernten Bergketten des Gran Sasso. Dazwischen schreiten stilechte Reiter im Westernlook hoch zu Ross im Angesicht des Abenteuers der großen Freiheit – naja, alles etwas inszeniert, hochstilisiert und einem durchschaubaren Gruppenzwang folgend.
Mittlerweile lässt mich auch die Hitze wieder leiden, der Wind trocknet meinen Mund alsbald aus, mein Wasservorrat ist mittlerweile zur warmen Brühe aufgeheizt. Der nächste Anstieg ist eher mäßig, führt zunächst durch niederen Nadelwald, dann entblöst sich die Landschaft mit offenen Steinfeldern zwischen grünen Wiesen. Nochmal eine neue faszinierende Perspektive vor dem Abschluss der Gran-Sasso-Region. Als ich am Valico di Capo la Serra stehe, kommen gerade zwei Rennradler in meiner Richtung hinauf. Ich feuere sie an, ihre Gesichter bleiben aber muffelig. Mit der Abfahrt öffnet sich ein weites Panorama nach Süden. Eine trockene Berglandschaft mit weiten Ebenen, in der Ferne die nächste Felskanten der südlichen Abruzzen, auch noch mit Altschneeresten.
Schon am Mittelhang erkenne ich einen Haufen geordneter Steine unter mir, kaum vom natürlichen Fels zu unterscheiden, aber eine Siedlung. Mit jeder Kehre auf der Abfahrt wächst der Ort zu seinem realen Maßstab heran, schält sich als pittoresker Flecken inmitten des kargen Berghanges heraus. Dieses Castél del Monte sollte nicht mit dem berühmten gleichnamigen Hohenstaufer-Bauwerk von Friedrich II. in Apulien verwechselt werden. Der Ort ist zwar kein Touristenzentrum, aber die heimelige Atmosphäre mit dem offenen Treffpunkt der Einheimischen an der zentralen Piazza lädt zum Verweilen ein. Nach der drängenden Erfrischung mit frischem Wasser ist das Frühstück eher ein frühes Mittagessen. Den Kaffee gibt es in der Bar des Hotels „Miramonti“, aber keine Snacks. Sandwiches, Obst und Kekse muss ich mir im Supermarkt anbei organisieren. Zahlreiche Motorbiker mit ihren auf Glanz polierten Maschinen trudeln zur Pause ein. Auch mehrere kleine Radsportgruppen finden sich ein. Ein typischer Ausflugssonntag.
Nahe dem Hitzschlag und ohne Gnade der Hügel
Am südlichen Ortsausgang kann ich mich zwischen der Richtung Pópoli oder der Richtung L’Aquila entscheiden. Um den Forca Caruso anzufahren, gibt es verschiedene Varianten. Die Karte gibt keine klaren Aufschluss, welche Strecke leichter, welche kürzer und welche schöner ist. Ich rechne mir mir dem Schlenker über San Demétrio Richtung Südwesten eine dann folgende flotte Fahrt entlang des Fiume Aterno aus, vermute so die schnellste Route. Ein ziemlich krasse Fehleinschätzung, wie sich später zeigt – auch wenn ich nicht weiß, wie die Alternativen ausgefallen wären. Zunächst steigt die Straße erwartungsgemäß nach einer Talmulde wieder an, fahre trotz gnadenloser Hitze mit hohem Bergtempo nach Calascio. Bereits hier ist das Wasser wieder ungenießbar – ein Brunnen im Schatten wartet aber wieder. Erneut kurz hinab, dann ein etwas langgezogener Bogen am Hang entlang fast eben, langsam aber nochmal in eine Steigung übergehend. Überraschend tauche ich in schattigen Wald ein, nach dem Forchetta San Leonardo folgt dann eine steile Abfahrt am offenen Hang.
Noch einmal könnte ich auf gerader Strecke Pópoli ansteuern, doch biege ich sogleich wieder von der SS 17 ab in Richtung San Demétrio. Die Hitze ist so drückend, dass ich bei einer Bar erstmal im Schatten eines Hains die aufgeheizte Haut runterkühlen muss. Ich wäre müde genug, um eine Siesta zu machen. Will ich aber heute meinen Rückstand nicht noch vergrößern, muss ich auf eine längere Pause verzichten. Der nun erwartete steilere Anstieg bleibt aus. Fast zu leicht gleitet die Straße nach oben. Kurioses „entpuppt“ sich in dem sonst verschlafen wirkenden San Nicandro (Prata d’Ansidónia): An einem Haus sind auf den kleinen Balkonen Theaterpuppen postiert. Das Gefälle nach San Demétrio hinunter ist dann steiler als der Auftsieg vorher vermuten ließ.
Mit der Fahrt Richtung Südosten entlang des Fiume Aterno beginnt eine abwechlungsreiche Landschaft, Oliven- und Obstplantagen an gweiteten Flussauen, enge Talschluchten und verträumte Dörfer auf den Anhöhen. Die Straße verläuft panoramareich meist weit oberhalb des Flusses, ja das Auf und Ab ist sogar derart heftig, dass eine ich eher glaube in der Summe nach oben zu fahren als dass ich talabwärts strebe. Erst am Ende bei Molina Aterno, dort wo ich den Fluss überquere um den nächsten Pass anzugehen, gibt es eine kurze Abfahrt. Die unerwartet aufreibende Fahrt lässt mich verzweifeln. Und der Brunnen hier hält nur warmes Wasser bereit.
Nach einer Stärkung aus dem Proviant mobilisiere ich neue Kräfte für den Forca Caruso. Ein paar Einheimische in Castelvécchio schauen mich ganz entgeistert an – was macht der denn da? – Nach einer Flachpassage bis Castél di Ieri bei offenen Panoramablick auf die im warmen Licht der Abensonne leuchtenden Berghänge bleibt dann der kehrenreiche Anstieg unerwartet sanft. Unter duftenden Büschen und Wäldchen nebst lieblichen Wiesen- und Weiden stürme ich nach oben, halte meist ein Tempo um 12 km/h, fasst etwas overpaced. Tropfnass sind die spärlichen Klamotten auch diesmal auf der Passhöhe, die in sanften Goldtönen getaucht eine entrückte Ruhe ausstrahlt.
Theaterstadt im ausgetrockneten See
Eine flotte Abfahrt führt mich in die Piana del Fúcino, eine weite, völlig flache Ebene. Anstelle des sehr fruchtbaren Boden lag hier einst ein riesiger See, der 1875 trocken gelegt wurde, nachdem bereits seit Julius Caesar sich die Römer mehrfach vergeblich mit diesem Projekt auseinandersetzten. Statt einer großen Wasserfläche nun also eine nicht immer ansehnliches Gepräge von agroindustrieller Nutzung. In Collarmele herrscht ausgelassene Partystimmung bei den Jugendlichen, ein banales Straßenfest sorgt für mehr Stimmung als das dafür eine Attraktion sichtbar wäre.
In Gióia dei Marsi erneut ein Fest – eine Prozession, bei der Heiligenfiguren an langen Stangen bei klagender Blasmusik umhergetragen werden. Später höre ich bei der Auffahrt zum Diavolo-Pass ein lautes Getöse aus der Talebene – ein wildes Knallfeuerwerk durchdringt die Abendruhe am Berg. Gióia dei Marsi ist nicht nur das Tor zum Nationalpark Abruzzen, sondern auch eine Stadt des Theaters. Nicht nur ein Festival, das an verschiedenen Orten in den Abruzzen stattfindet, hat hier seine Basis, sondern auch ein Schule für Dramaturgie in Theater und Film lockt werdende Theaterleute in das ziemlich unscheinbare Städtchen.
Am gezähmten Teufel in die Dunkelheit
Der Passo Diavolo ist sanfter als sein teuflicher Name vermuten lässt, in den Steigungen ähnlich zum Forca Caruso. Trotzdem fahre ich bewusst dosierter um 1-2 km/h langsamer, denn eine nochmals ungehemmte Energieleistung könnte mir schwere Beine für die weitere Etappen einbringen. Auch hier fahre ich an honigsüßen Blüten vorbei, im Sonnenuntergang bleibt die Ebene langsam zurück und geht aus dem Blick. Weiter oben bildet sich eine Schlucht, die Fahrt wird etwas zäher. In der bereits fortgeschrittenen Dämmerung ist auf dem Pass zwar ein Rifugio vorhanden, das sowohl Zimmer als auch Campingmöglichkeiten bieten soll, ich kann jedoch keinen Zugang finden. Zu Essen gäbe es dann aber immer noch nichts.
So rolle ich bei Dunkelheit hinunter, eine sanfte Abfahrt mit Flachpassagen nach Pescasséroli. Mit seinem schmucken centro storico, verschiedenen Hotels, einer guten Auswahl an Bars und Restaurants sowie der erfrischenden Bergluft bietet der Ort eine erholsame Basis für Exkursionen in den Nationalpark Abruzzen – im Winter auch für den Skitourismus. Leider sind die Campingplätze am Südende des Ortes vorher nicht angeschrieben, so glaube ich eine Hotelunterkunft suchen zu müssen. Im Garni-Hotel „Andromeda“ finde ich bei einer freundlichen Wirtin jedoch eine preiswerte Bleibe (25 €) mit einem hübschen und geräumigen Zimmer. Nach dem Schnellduschen bekomme ich dann im Ristorante einige Meter entfernt auch noch ein ordentliches Essen – mehr als verdient nach einer Maximalleistung und der umwerfenden Tageshitze. Da darf man mal platt sein.
Anmerkung: Leider endet hier meine ausführlicher historisch geschriebener Bericht. Folgend gibt es nur eine verkürzte Version aus der schon deutlich verblassten Erinnerung.
(19) Pescasséroli – Barrea (1066 m) – Colle della Croce (1164 m) – Alfedena (~1000 m) – Il Calvário (1112 m) – Taverna Raíndola (~250 m) – Capriati – Letino – Passo di Miralago (1102 m) – Passo del Perrone (1257 m) – Bocca dell Selva – (1393 m) – Cusano – Telese Terme (55 m)
177 km | 2175 Hm
Abruzzen ohne Wolfsgeheul
Die Straße folgt einem funkelnder Bergfluss mit launigen Kurven bei nur leichtem Gefälle. An den Seiten ziehen sich unzugänglich wirkende Berghänge des Nationalparks Abruzzen mit dunklen Wäldern hoch, in denen Bären und Wölfe weitab vom Menschen leben. Ein lieblicher Stausee mit zwei touristischen und netten Orten bricht die Einsamkeit. Der Camping von Barrea wäre nur umständlich zu erreichen gewesen, so notiere ich für das eigentlich vortags geplante Domizil.
Es folgt ein nur kurzer Weg zum Pass, offen gelegt mit freien Blicken. In Alfedena lässt sich ein Wolfsrevier besuchen die Attraktion des Ortes. Da Radler schon nicht gut mit Hunden können, sollte ich auch nicht die Wölfe besuchen. Zu hören ist nichts. Ohne Geheul taucht die nächste Passstraße wieder in schönen Laubwald. Die Abfahrt auf enger Straße aus den Abruzzen raus gestaltet sich aufregend und verwegen.
Stille ohne Lichtblicke in den Monti del Matese
Kurz nach Erreichen der Hauptverkehrsader mit sehr starkem Verkehr Richtung Küste schwenkt der Abzweig auf eine ziemlich ruhige Straße durch Olivenhaine nach Letino ein. Die Monti Matese empfinde ich weniger spannend als die Abruzzen. Die Wälder sind recht eintönig, ein entrückt wirkender See bildet ein Kleinod für eher wenige Wanderer und Besucher. Mit wenig Ausblicken und unter der grauen, schwülen Dunstglocke ermüden mich die vielen, mal einfachen, mal schwierigen weiteren Auf und Abs.
Es öffnet sich eine berauschende Abfahrt ins wuselige Cusano, wo ich trotz unterstützende Hilfe der Moped-Jugend keine Unterkunft finden kann – auch weil ein Bed & Breakfast die Türe nicht öffnet. Da gleich mehrere Städte ohne jede touristische Infrastruktur folgen, sei empfohlen auf dem Bocca della Selva zu übernachten. Ansonsten zieht sich die Etappe so in die Länge und die Nacht wie die meine.
Bei Dunkelheiten erreiche ich schließlich Telese Terme am Rande der neapolitanischen Ebene. Ich frage mich in einem Eiscafé durch. Ein Einheimischer lotst mich mit Auto zu einem Hotel. Der Fahrer erwartet von mir annähernd Wunderdinge, ich kann ihm kaum folgen. Aber dann wartet er doch immer wieder. Große Herzlichkeit! Das Hotel bietet ein geräumiges Zimmer (35 €), hält sich aber sonst simpel, das Restaurarnt ordentlich mit urigem Ambiente.