Giro d’Italia 2006-7: Tirreno–Adriatico via Cilento und die Sila [Acciaroli – Capo Rizzuto]
Felsige Meeresbuchten, mystische Wälder, am Ende der Welt und ein vergessener Gast
(23) Acciaroli – Ascea-Velia (235 m) – Marina di Camerota (0 m) – 14 – San Giovanni a Piro (450 m) – Sapri (0 m) – Fiumicello – Castrorucco
130 km | 1615 Hm
Nicht nur Küste bleibt herrlich – kurzer Streifzug am Cilento
Wenn auch die Amalfiküste der Paradestreifen ist, so folgen nach Süden doch noch viele weitere herrliche Küstenabschnitte. Das gilt hier entlang ebenso, wie auch die nötigen Abwege durch das Hinterland wie etwa jenseits von Marina di Camerota. Die Anstiege ins Hinterland sind recht anstrengend zu fahren. Der vielleicht reizvollste Küstenabschnitt liegt um Sapri herum, das sich in eine tiefe Bucht gegraben hat. In Richtung Aquafredda bohrt sich die Straße in den Fels hinein, der mit kräftigen Drahtseilen am Abrutschen gesichert werden muss.
In Ascea-Velia, Ausgangsort für den Nationalpark Cilento an der Küste, zeigen Hausfassaden kunstvolle Murales. Sicherlich fehlt mir hier die Zeit für eine Hinterlandpassage durchs Cilento, wo auch noch stillere Winkel warten würden. Erneut in die Dunkelheit gelangt, treffe ich zwei Kilometer vor dem Camping auf ein besonders freundlichen Wirt. Der Camping in Maratea (15 €) ist aber trotz Strand ein eher öder, planer Platz.
(24) Castrorucco – Praia a Mare – Scalea – Diamante – Cetraro – Páola – via SS 107 (max. ~750 m) – Cosenza (238 m)
120 km | 1305 Hm
Burgen und Türme über dem Meer
Der hier schönste Küstenabschnitt zeichnet die Achse nördlich vor Páola. Immer näher rücken die Berge ans Meer, zahlreiche alte Türme säumen die Küstenanhöhen. Um nicht noch länger in die Nacht zu fahren, schlage ich die fast autolose Alternativstrecke nach Cosenza aus. So empfinde ich den Ritt mit dem starken Verkehr nochmal anstrengender als er wohl schon ohnehin ist. Cosenza, zunächst wenig einladend mit einer langestreckten Neustadt, die einerseits von Studenten geprägt ist, aber andererseits auch modern und teuer erscheint. Zum Glück finde ich schnell ein preiswertes und ordentliches Stadthotel mit kleinem Zimmer (Grisaro, 28,50 €), jedoch ohne die Altstadt besucht zu haben.
(25) Cosenza – Spezzano – Valico di Monte Scuro (1618 m) – Monte Donato (1928 m) – Lago Arvo (1280 m) – Valico Silvana Mánsio (1558 m) – Croce di Magara – Germano – San Giovanni in Fiore
114 km | 2245 Hm
Die Squadra Azzurra und der vergessene Gast
Auf der Fahrt ins Sila-Gebirge begleiten mich exotische Vegetationsformen, Nebelwolken verschleiern oben die Höhen. Um den Monte Donato schleicht eine ruhige Straße, mystische Wälder mit Kühen beschreiben die weitere Fahrt Richtung Germano. In der dünn besiedelten Gegend der Sila Grande mit nur wenigen touristischen Einrichtungen bleibt der Tag auffallend kühl – ein ganz anderes Klimat.
Als letzte funktionale Ortschaft, die noch erreichbar ist, taucht das eher enttäuschende San Giovanni in Fiore mit wenig Flair auf. Nur zwei recht teure Hotels warten, Camping ist nicht vorhanden. Im Pino’s erhalte ich ein kleines Zimmer mit leicht noblem Ambiente (50 €). Nachdem ich im leeren Esssaal Speisen bestellt hatte, rührt sich an der Türklinke nichts mehr. Ist es zunächst angespannt ruhig, steigert sich bald das bekannte Stöhnen und Jubeln in den Nachbarräumen, was üblicherweise Fußballspiele begleitet.
Ich werde hier als Gast vergessen – des Fußballs wegen. Immerhin muss ich nicht Fernseh schauen. Nach langer Zeit des Wartens rennt eine erschrocken bleiche Bedienung in den Speisesaal und bedauert, mich vergessen zu haben. Aber es sei eben Fußball. Lächeln und Freude verraten mir, dass es um die Italiener gut stehen musste – zumindest offen das Ergebnis. Immerhin hat der Koch noch den Herd an, denn ich erhalte doch noch die bestellte Menüfolge.
Das fast bedeutungslose Bergstädtchen war wohl für Jahrzehnte nicht mehr so aufgewühlt wie heute, da die Squadra Azzurra den Copa del Mundo im fernen Berlin in die Höhe hieven durfte, nachdem sie das Sommermärchenland schon im Halbfinale abgeschossen hatten
Danach gerät der Ort außer Rand und Band. Das fast bedeutungslose Bergstädtchen war wohl für Jahrzehnte nicht mehr so aufgewühlt wie heute, da die Squadra Azzurra den Copa del Mundo im fernen Berlin in die Höhe hieven durfte, nachdem sie das Sommermärchenland schon im Halbfinale abgeschossen hatten – mir bekanntlich vertraut aus Sorrento. Es dauerte wohl so lange der erlösenden Schreie, weil es zum Elfmeterschießen gegen die Franzosen kam – soweit ich das aber weit später recherchieren musste, da auf der Reise nicht von meinem Interesse. Wohl ist das auch mein Glück gewesen, veranlasste die Verlängerung die Bedienung doch, darüber nachzudenken, ob noch ein Gast warten könnte.
(26) San Giovanni in Fiore (1049 m) – Passo Zingomarro (1371 m) – Cotronei – via Fiume Neto/SS 107 – Crotone (0 m) – (Capo Colonna) – Isola di Capo Rizzuto (91 m) – Capo Rizzuto
113 km | 800 Hm
Alte italienische Lieder für ein paar Träume
Der weitere Fahrtverlauf stimmt mich fröhlich. Südlich der Sila Grande schließt sich die Sila Piccola an, die niedrigere, aber auch mediterranere Variante der Sila. So gleite ich auf der Passfahrt durch dunklen Wald, passiere den verträumt wirkenden Arvo-See, an dem sich ein paar ruhige Touristenoasen ausbreiten. Mehr noch gefällt der halblichte, mediterrane Eichenwald auf einer leicht abfallenden Höhenstraße Richtung Cotronei – schon wieder ein Radlertraum.
Nach dem kühlen Mikroklima des Silagebirges breitet sich wieder die bekannte Hitze aus. Hübsche Winkel finde ich in Crotone mit sehr sauberen und doch engen Altstadtgassen. Ganz anders als das Tyrrhenische Meer wirkt am Capo Colonna das Ionische Meer mit scheinbar endloser Weite. Sicherlich auch eine Ende der Welt. Etwas langweilig durch Felder erreiche ich Isola di Capo Rizzuto.
Der Camping (13 €) mit mäßigem Restaurant liegt deutlich abseits des Ortes am Kap. Vom Küstenfelsabbruch beschattet, wartet ein toller ockerfarbener Strand, der Platz selbst mit überwiegend FKK-Bereich ist oberhalb romantisch eingebunden mit Agavenpflanzen. In der Vollmondnacht haben sich Gäste am Strand eingefunden und singen und spielen alte italienische Lieder. Das Urlaubsgefühl des mediterranen Südens steigt lustvoll über dem gespiegelten Licht des Meeres auf.
(27) Capo Rizzuto – Ísola di Capo Rizzuto (91 m) – Capo Rizzuto (Ruhetag)
19 km | 105 Hm
Der Tag ist Faulenzurlaub, mal von ein paar gerubelten Wäschestücken abgesehen. Nebst Stranderleben unternehme ich noch einen kurzen Abstecher zum Ort Capo Rizzuto. Abernds stoße ich circa zwei Kilometer entfernt auf ein Restaurant in schönem Garten. Mit der netten Wirtin verhandle ich ein sehr schmackhaftes, wenngleich nicht ganz billiges Menü aus. Ich bewundere einen Vater, der sehr ernsthaft und aufmerksam mit seinem eher noch kleinen Sohn auf gleicher Augenhöhe diskutiert, während die kleine Schwester auf dem Arm der Mutter eingeschlafen ist. Solch brüderlich-väterliche Gespräche mit großem Respekt und von innerlicher Ruhe getragen, sehe ich selten. Speisekarten besprechen, mit Kindern Dialoge pflegen – ist die italienische Kommunikation kultivierter als die deutsche?