TiSA-RWWachsende Radinfrastruktur in den italienischen Südalpen und Tirol – Lichtblicke und Placebos
Im Rahmen meiner ausgiebigen Radtour durch Tirol und die italienischen Südalpen 2024 habe ich mehrfach bekannte und weniger bekannte Radwege gekreuzt oder ausschnittsweise befahren. Die internationalen Fernradwege über den Alpenhauptkamm Via Claudia Augusta (VCA) und München – Venedig (MV) waren eine häufige Schnittstelle meiner Tour, aber doch selten ein längerer Begleiter, in einigen Teilen immerhin ein Leitfaden auf dem Weg in Nebentäler. So waren weder die großen Fernradwege noch die regionalen Entdeckungen Ziel meiner Tour. Trotzdem bemerkte ich einige Veränderungen gegenüber den 2000er Jahren, die ich gerne auch unter kritischer Lupe weitergeben möchte.
Vor allem möchte ich auch den Blick auf kleinere und größere Radwege und Radrouten weiten, die ich nicht nur neu entdeckt habe, sondern auch meistens erst in jüngerer Zeit entstanden sind. Das radtouristische Netz in den Südalpen ist weit mehr als nur die Fernradwege VCA, CAAR und MV. Da die Gruppe von Radlern mit vornehmlicher Radwegnutzung immer größer wird, mögen für diese hier auch einige Anregungen liegen. Deswegen habe ich diese gewiss subjektiven und begrenzten Beobachtungen in einem separaten Beitrag zusammengestellt, der weitgehend unabhängig von der Reiseerzählung ist. Wen die Regionen insgesmat mehr interessieren, darf sich in Kürze auf den Gesamtbericht freuen, den ich in zahlreichen Kapiteln demnächst publizieren werde. Für die geografische Abgrenzung sei hier betont, dass sich die Betrachtung nur auf einen Teil der Südalpen bezieht – den Italiens zwischen Comer See und Tagliamento unter Einschluss von Nebentälern, die geomorphologisch schon teils zu den Nordalpen zählen können. Der Tiroler Teil spielt hier nur eine untergeordnete Rolle (im Rahmen der VCA), da dort auch die geringsten Veränderungen zu sehen waren.
Die VCA, eine Radroute, die bereits noch weit vor dem Radreiseboom in den 1990er Jahren eingerichtet wurde und als einziger Alpenfernradweg gänzlich auch thematisch einer historischen Straßenroute folgt, scheint im Tiroler Teil weithin identisch mit der Trasse aus den Vorjahrzehnten und benutzt immer wieder auch Lokalstraßen im mittleren Inntal. Es gibt auch kurze Passagen, die nicht der Radwegnorm entsprechen und eigentlich Fußwege sind. Wie schon in der Vergangenheit, ist auf der Strecke zwischen Prutz und Pfunds ein Veloverbot auf der alternativen Bundesstraße ausgewiesen.
Auf der Reschenpass-Straße über Finstermünz ab Pfunds besteht kein Veloverbot, was immer wieder falsch behauptet wird. Tatsächlich sollte man die Strecke aber wegen des Verkehrs meiden. Für die Jahre 2025 und 2026 wird die Reschenpass-Straße über große Zeiträume komplett gesperrt und der Verkehr über Martina und Norbertshöhe umgeleitet. Darauf sollten sich kommende Reiseradler einstellen. Auch auf der Strecke zwischen Pfunds und Martina muss man mit Störungen rechnen, zumindest gab es in diesem Jahr eine längere Sperrung der Straße für Velos wegen Baustelle und Bevorzugung des Autoverkehrs, Umleitung auf nicht rennradtauglichem Weg direkt am Inn, was dann auch Radler betraf, die weiter ins Engadin fahren wollten. Zudem gibt es am Reschensee (bereits Südtirol) eine länger dauernde Baustelle wegen der Neutrassierung der Reschenstraße. Das hat Auswirkungen auf den Radweg am Ostufer, der dadurch meistens nicht durchgängig befahrbar sein wird und die Straße selbst beengt ist. Dort bestehen aber zahlreiche Alternativen, u.a. durch den Radweg am Westufer. Zu bestimmten Bauphasen ist das Wasser im See weitgehend abgelassen bis auf ein Bassin um den berühmten Kirchturm in Graun. Das trübt das Landschaftserlebnis.
Die umstrittene Schotterstrecke der VCA über den Fernpass wurde zwar in den beiden vergangenen Jahrzehnten überarbeitet, ist aber immer noch nicht akzeptabel für straßenaffine Reiseräder. Die offizielle Straßenradvariante auf der Fernpassstraße wird leider immer wieder von einigen Radlern madig gemacht, als sei sie zu gefährlich. Ich bin jetzt bereits das dritte Mal da rübergefahren (2 x Süd, 1 x Nord) und kann mich dieser These nicht anschließen. Die Fernpassbundesstraße ist zwar dicht befahren, aufgrund der Straßenbreite aber recht gut auch im Autoflow zu radeln ist. An Wochenenden hat man mehr touristische PKWs (ggf. Wohnwagen/Wohnmobile), an sonstigen Wochentagen mehr LKW-Transit und ggf. Pendlerverkehr. Das muss man abwägen. Sonntagnachmittag und -abend fließt mehr Touristenverkehr nach Norden, zum Wochenanfang mehr Verkehr nach Süden. Es gibt im Alpenraum ganz andere, weit schlimmere Straßen, die von Radlern weit weniger hinterfragt werden. Es stellt sich die Frage, ob hier Auch-Autofahrer mit Huckepack-Velo im Kofferraum absichtlich Radler von Straßen verdrängen wollen, um angeblich weniger behindert zum Ziel für eine profilneurotisches Radevent in den Alpen zu fahren. Wer möchte, dass sich die Verkehrsflut an Passagen wie der Fernpassroute vermindert, sollte da das Autofahren vermeiden und nicht das Radfahren! Das Klima dankt es auch.
Neue Radwegtrassen gibt es vor allem im Vinschgau, wo der Radweg nochmal strikter an die Etsch gelegt wurde. Damit sind einige frühere Kollisionspassagen mit Fußgängern weitgehend ausgeschaltet. Auffällig war im Bereich der Feltre-Alpen, dass die originäre VCA dort deutlich seltener befahren und teils fast ganz gemieden wird wie der Passo Praderadego. Das dürfte einerseits auf die ebenfalls attraktive Konkurrenz des Passo San Boldo nahebei zurückzuführen sein, aber andererseits auch auf die alternativen einfachen Wege um die Berge rum, die teils auch per Radweg zu befahren sind (z.B. Canale di Brenta, meist eigener Radweg, teils Lokalstraßen, einige Teile oft gesperrt wegen Steinschlag).
Die Velofrequenz auf dem jüngsten der Alpenradfernwege MV war indessen deutlich geringer. Auch scheint hier die bewusste Ausrichtung der Gastbetriebe auf Radler zurückhaltender als am VCA oder dem CAAR (Ciclovia Alpe Adria Radweg) zu sein, in anderen Teilen lässt sich der Radtourismus nicht auf eine Route zurückführen (z.B. Pustertal). Den CAAR erreichte ich auf dieser Reise im Osten gar nicht, weil ich westlich des Tagliamento blieb. Mit dem CAAR und den denkbaren ALternativen habe ich mich auch bereits ausführlich auf meiner Karantanien-Reise beschäftigt: Alpen-Adria – auch ein Radl-Etikett mit Trendfaktor?
Der MV ist ebenfalls ein Mix verschiedener, vorher meist schon existierender Routen. So gibt es unterschiedlich gute Ausbaustufen mit unterschiedlich starker Frequenz. Im Eisacktal oder Pustertal (Anschluss Drautal-Radweg) drängen sich deutlich mehr Radler auf der Strecke als etwa auf der Dolomitenbahn. Einige Rastplätze sind noch brandneu und recht gelungen, Orte wie Soverzene geben sich offensiv radlerfreundlich. Den MV habe ich ferner in einigen Bereichen bewusst gemieden, was insbesondere den Teil zwischen Toblach und Cortina d’Ampezzo betrifft. So war mir der separate Radweg beim versuchten Einstieg am Passo Cimabanche unangenehm grob schottrig – bei schlechtem Wetter und bergab schon erst recht. Auch am MV gab es auf meinen Passagen einige Sperrungen, so bei Lovarone (stattdessen Straße) und akut bei einem Murenabgang am Lago Morto (Umleitung über schwierigen Trail am Westufer, teils nicht radelbar), letztere wohl nur kurzfristig, weil lokal wichtig Verbindungsstraße.
Zu den positiven Entwicklungen gehören nicht zuletzt viele Rastplätze, was sich aber nicht auf neue und alte Radwege beschränkt, sondern viele Straßen einschließt. In allen Regionen gibt es einige Berg- und Passstraßen, die in recht dichter Folge Picknickareale ausweisen. Schon im Nachbartal kann es aber sein, dass sich nichts dergleichen an der Straße befindet. Die vielleicht meisten und schönsten Rastplätze präsentierte das Trentino, aber auch Lombardei, Venetien und Friaul haben viel für eine Ruhepause am Straßenrand investiert. Auffällig ist auch die stete Verfügbarkeit von Abfallbehältern in den italienischen Regionen (und nahezu immer auch geleert). In Tirol und Bayern werden Papierkörbe dann ziemlich selten, dafür mehr Schilder, den Müll selbst mitzunehmen. Das dürften einige Zeitgenossen andersrum erwartet haben.
Am längst etablierten Drau-Radweg platzierten sich schon vor 20 Jahren radfreundliche Betriebe z.B. als Radlertankstelle oder Übernachtungsbetrieb. Heute finden wir auf der beliebten Strecke neue Angebote, so etwa Bikeverleihbetriebe wie in Lienz unmittelbar an der Strecke beim Eisenbahnmuseum. An der Strecke sind auch neue Rastplätze entstanden, z.B. ein überdachter Picknickplatz in Unterpirkach mit Lademöglichkeiten, Luftpumpe und einem ungewöhnlich großem Snackautomaten, wo es sogar Kaffee mit Orangengeschmack oder Cognac gibt. Im Bereich des Pustertals war der Radweg in den Morgenstunden teils so befahren, dass man schon mal an den Bodensee-Radweg denken musste. In unübersichtlichen Kurven kann das schon gefährliche Situationen hervorrufen.
Vom Pustertal- bzw. Drau-Radweg zweigen mehrere Seitentäler ab, in die sich teils noch recht junge Radwege ergeben. So setzt eine Radpiste im Sextental bewusst auf rücksichtsvolle Nutzung von Radlern und Wanderern. Vom Ortsende Innichen kann man so autobefreit nach Sexten gelangen. Der Weg verändert aber sein Gesicht und ist im zweiten Abschnitt schon mit arg tiefem Schotter verlegt, sodass ich die Straße vorzog.
Eine logische Fortsetzung gibt es dann nicht weiter zum Kreuzbergsattel, sondern wenig südöstlich von Sexten in ein beliebtes Seitental, dem Fischleintal. Die Radwegfunktion als Alternative zur Straße endet im touristischen Bergweiler Fischleintalboden, wo sich die Autos der Wanderer auf großen Parkplätzen sammeln. Die Weiterfahrt mit dem Radl ist gleichwohl weiterhin zur Talschlusshütte auf ähnlichem Untergrund möglich und landschaftlich dringend empfohlen, wenn auch als klassische Almpiste für Betrieber, Förster und Ranger. Das ist dann nicht mehr exklusiver Teil einer spezifischen Radinfrastruktur, auch wenn sich die Tourismusbüros gerne ein paar zusätzliche Kilometer Radstreckennetz eintragen wollen. Auf diesem Schlussstück muss man sogar mit mehr Radlern als zuvor rechnen, da einige MTBer oder Familien ihre Räder hierin mit Auto transportieren, um die Radfahrt erst dort zu beginnen. Ebenso wie im Sextental gilt für die Fischleintalroute das Gebot der besonderen Rücksichtnahme gegenüber Fußgehern wie auch die Rennradtauglichkeit nicht wirklich gegeben ist.
Südtirol greift eher auf schon länger bestehende Areale zurück und neue Entwicklungen sind mager. Tirol und Südtirol bieten wiederum die beste Brunnen- und Trinkwasserversorgung, während im Trentino viele Rastplätze durch fehlende Brunnen auffielen. Noch deutlicher ausgeprägt sind öffentliche Toiletten in Tirol und Südtirol verfügbar, im Trentino kaum noch wie auch in den anderen Italien-Regionen. Viele Bereiche der Südalpen sind erstaunlich stark verkarstet. In diesen verkarsteten Regionen sind Wasserstellen fast nur in Dörfern zu finden, höchst selten zwischendrin mal am Wegesrand.
Die Radwegstruktur in den italienischen Alpen besteht längst nicht mehr nur aus den bekannten Fernradwegen. Ich möchte daher auf einige doch recht erfreuliche Entwicklungen hinweisen. Zu den größeren und jüngeren Radrouten zählt die Pista ciclabile Sentiero Valtellina, der man vom Comer See nach Tirano durchs Adda-Tal folgen kann. Hier gibt es aber landschaftlich interessantere Möglichkeiten, wenn man sich auf die Südhänge mit Weinbergen über der Talsohle begibt.
Gleichwohl zweigt hier eine bedeutende Veloroute in ein Nebental ab, der Sentiero Rusca ins Valmalenco, mit dem man das Tal ausgangs Sondrio bis zur oberen Verzweigung in Chiesa bzw. Lanzada autofrei erkunden kann. Der Radweg bietet eine deutlich andere Perspektive als die Straße und glänzt mit tollen Picknickecken sowie vielen Trinkbrunnen und scheint selbst bei lokalen Rennradlern noch wenig bekannt zu sein.
Eine ähnlich erleichternde Anfahrt für die höheren, dann später straßenbezogenen Bergrouten bietet auch das Tauferertal (auch schlicht Taufers). Die viel befahrene flache, aber langestreckte Fahrt von Bruneck nach Sand in Taufers lässt sich weitgehend über verkehrsfreie oder verkehrsarme Radwegstrecken oder Straßen absolvieren. Aus der flachen Talsohle erwachsen drei Stichtäler, von denen das dicht besiedelte Ahrntal den Radweg zumindest teilweise weiterführt, soweit das Ahrntal noch flach ist. Man springt aber etwas zwischen Straße, ordentlichem, ortsfernem Radweg und rumpeligem Trail hin und her und muss schauen, welche Spur man im Zweifel wählt – nicht unbedingt transparent.
Ein weiterer, langer Alpentalradweg beschreibt die Ciclovia dell’Oglio, der von der Oglio-Mündung in den Po bis zum Tonale-Pass reicht – so die Werbung. Dieser Radweg erhielt mitunter eine Auszeichnung als schönster Radweg Italiens. Die Bezeichnung „Radweg“ ist hier aber mit Vorsicht zu genießen. Während der Radweg eine echte Verbesserung für Radler am tunnelreichen Ostufer des Iseo-Sees bedeutet (dort von mir aber nicht gefahren) und sich manche verkehrsreiche Straßentrasse im Valcamonica nunmehr umfahren lässt, muss man in mehreren Steigungsbereichen noch die Straße benutzen. In Ponte di Legno endet der Radweg faktisch, der Tonale-Pass muss auf bekannt betriebiger Passstraße absolviert werden wie bisher. Ob es hier ernsthafte Radwegpläne gibt, blieb für mich trotz einer neuen Radspur im Passbereich im Unklaren. Hier verwirrt offenbar ein separater Bikepark für MTBer, der aber nicht Teil des Radwegs ist.
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