ALP-2020-RA-3
Bunte Bergblumen, archaische Arvenwälder, harter Schotter: Von den Livigno-Alpen im Veltlin mit dem Nationalpark Stilfserjoch via Val Müstair zum Costainaspass
Inhalt
- Rundum das Valle di Fraéle – viele Naturschätze mit Wirtschaftssonderzone
- Der Bergnatur verpflichtet: Die Biosfera Val Müstair
- Pass da Costainas – entrückte Stille mit Quälfaktor
Rundum das Valle di Fraéle – viele Naturschätze mit Wirtschaftssonderzone
Eintritt in einen Bergblumengarten
Nach den ersten Kurven um grüne, steile Hänge parlieren gegenüber den aparten Sandfelsen mit dahingetupften Büscheln großartige Bergblumenwiesen, Steinnelken, Glockenblumen, Gräser, immer wieder neue Vielfalt aus Farben und Formen. Dem Irisgedicht steht eine heftige Steigung entgegen, der ich nur sehr mühsam trotze – so sehr, dass eine besorgte Italienerin mit dem Auto wendet und mir die Mitfahrt zur Passhöhe anbietet. Ihr Herzmann sei auch so ein Typ, der mit Rad manchmal später nach Hause findet als zu denken sei. Ich gräme mich doch sehr, dem Angebot der so hübschen und freundlichen Dame meinen uncharmanten Ehrgeiz entgegen zu halten, es möglichst aus eigener Kraft zu schaffen.
Das Tal nach Livigno zieht sich dann etwas trist unter dem düsteren Himmel hinunter. Die rosablühenden Gräser fehlen etwas. Livigno erschreckt mich ob seiner Ausmaße, ein noch harmonisches Meer von Holzhäusern, die meisten Hotels oder Shoppingläden mit steuergünstigen Waren, schließlich ist Livigno Wirtschaftssonderzone mit eigener Zollgrenze. Trotz oder gerade wegen Corona sind beide Campings in Seenähe überfüllt, keine Zeltnische mehr frei – die Campingwärter bleiben hart. Ohnehin sind die Gelände auf Wohnmobile und Wohnwagen ausgerichtet. Eine Zeltwiese gibt es weder da noch dort. Zur oberen Ortseinfahrt hätten drei weitere Campings gewartet, so weit will ich aber nicht mehr zurück – ohne Garantie dort freien Platz zu finden.
Vor dem Nachlager am Picknickplatz ortsauswärts nehme ich aber noch Picknick innen ein. In der Pizzeria Pemont wird eingangs Fieber gemessen und Tische sind per Plexiglasscheiben getrennt. Trotzdem ist die Atmosphäre gemütlich. Mit meiner Auswahl für Buchweizenkugel mit Käsefüllung, Buchweizennudeln mit Kartoffeln und Pesto sowie warmen Schokokuchen und dem lokalen Rotwein Pemont sind zudem außerordentliche gelungene Genussmomente verbunden.
Mi 22.7. Livigno (Santa Maria) – Ristoro Val Alpisella – via Trailpiste – Passo di Alpisella (2290 m) – via Piste – Lago di San Giacomo di Fraéle (1952 m) – via Piste – Malga Trela – via Trail – Passo (di Val) Trela (2294 m) – via Trail – Abzweig Cortivo (1994 m) – Via di Pila – Trepalle, Abzweig Via Presot (1957 m) – Campaccio – Passo di Foscagno (2300 m) – Valdidentro: Semogo – Isolaccia (1345 m) – Pedenosso (1450 m)
50 km | 1475 Hm
Überfahrt in die Alpenkaribik
Noch schattig schleicht morgens der Uferweg flach zum Ristoro Val Alpisella, gegenüber der Straße gelegen, die sich weitgehend in Galerien halboffen am See entlang zieht. Der See zeigt Kulisse – ein großartige. Den Almgasthof am Fuße der Passauffahrt hätte ich vielleicht noch abends zuvor erreichen können – die Angebote zeugen von einer beliebten Ausflugsstätte, Radwerkzeug und Ladestation für E-Biker frei verfügbar. Mitten im See befinden sich eine Liegestuhlinsel, der Gasthof preist Baden im Zuber an, allerdings keine Übernachtungsmöglichkeit. Wirtin und Wirt bereiten gerade das Tagesgeschäft vor.
The times they are a- changin‘
Nach einer ersten Rampe auf gutem Pistengrund glaube ich mich auf angenehmer Route über tief eingegrabenen Talgrund, noch mit Blick auf den Livignostausee und seinen Zuckerhutbergen umher. Das moderate Intermezzo ist aber nur von kurzer Dauer und die Steigung nimmt nach einer Furt im Waldteil unwirkliche Werte an, zumal ich mit Gepäckrad die optimale Fahrspur nicht halten kann. Hilft nichts, die Schieberei ist dann kein Zuckerschlecken. Auch mancher Radler ist hier schon gescheitert, so lassen Totenbilder mit Kreuz auf der Passhöhe und zuvor nach Waldaustritt vermuten. Ausgerechnet dort bin ich aber erleichtert, kann ich doch wieder pedalieren.
Nur kurz überlagert Geröll die Bergflora, bald setzen wieder Blumen die Akzente. Auf der Ostseite des Alpisellapasses sind es mehr Gelbteppiche, die die Hänge schmücken. Die Piste ist manchmal gröber geschottert, besonders weich in den absteigenden Kehren zum Stausee San Giacomo. Am See ist es dann erstaunlich anders, eine bestens gewalzte Piste bildet eine Straße um beide Stauseen, die sich im Valle di Fraéle aneinanderreihen. Das Blau der Seen verändert sich mit dem Lichteinfall, meist aber leuchten sie bei Sonne im hellen Blau, fast karibisch, nur stumpfer wie Pinselfarbe durch die Sedimente.
Den Ausgangspunkt für manche Radgruppe kann ich erst einen Tag später erklären, denn nicht nur anfahrende Autos bringen Velos in das Hochtal, sondern auch ein größerer Bikeverleiher am Ostende des Cancano-Sees, der sich bei den beiden Gastbetrieben mit Übernachtungsmöglichkeit und großem Parkplatz niedergelassen hat. Die Gasthöfe werden gar von Reisebussen angesteuert, über den kurvenreichen Asphalt des Torri di Fráele. Einen Touristenhotspot muss man hier aber noch nicht befürchten.
Mit falschem Material unterwegs?
Zum Val Trela finde ich bei der Recherche noch weniger Hinweise als zum Val Alpisella und Val Mora, die unter Mountainbikern schon Kultstatus genießen. Trotzdem ist zunächst die Piste bis zur Alm Trela grundsätzlich von besserem Geläuf als die Alpisella-Passage. Die Bergfahrt bleibt offen, Föhrenwald drängt sich nur zaghaft zwischen die Felsen, von Alpenrosen durchschmückt. Die Qualität der Piste nutzt dennoch wenig, denn die Passagen sind zu steil – noch steiler als am Alpisella. So muss ich auch hier Teile mühsam schieben. Manchmal schaffe ich nur wenige Meter, um neuen Atem zu schöpfen. Erst ab der kühnen Felsbruchkante mit schmalerem Weg durch eine Kluse und später Bergweiden kann ich wieder durchgehend bis zur Alm radeln.
Die herben Kraftverluste verlangen nach einer nahrhaften Mittagsrast, wobei ich auf Polenta mit Käse setze. Der Tag ist heiß und lässt den Vortag wie Winter erscheinen. Nun da die Alm wie eine Sackgasse wirkt, suche ich den Fortgang der Passroute. Ich hatte von „besser ausgebaut“ im Web gelesen, doch davon war nichts zu sehen. Ein Wiesentrail leitet nach oben. Ich kann nur einige Passage fahren, muss wieder schieben, auch wenn die Steigungen hier nicht so prominent sind, aber dafür die geeignete Spur für einen Lastesel fehlt. Der Trail zur Auffahrtsseite von der Alm her ist noch recht glatt, im Abschwung zur anderen Seite des Trela-Passes bröckelt hingegen eine ziemlich riskante, ruppige Gesteinsspur mit wechselnden Untergründen herunter. Sehnsüchtig erwarte ich den Abzweig zu Ort und Asphalt, während Mountainbiker nach Livigno im Rundkurs durchrütteln. Ein paar bayerische Radkollegen bemerken mit fragenden Gesichtern auf mich dann auch treffend „wohl mit dem falschen Material unterwegs.“
Bergdorf-Polonaise mit Pfiff
Es gilt aber immer noch: Geschafft ist geschafft. Wie, verbleicht ohnehin in der Erinnerung. Zunächst taucht das arg verstreute Trepalle mit Talmulde und ungenauen Grenzen zu Campaccio auf, seinerseits auch bisweilen als höchster ständig bewohnter Ort in Europa geführt. Den Titel machen aber auch Orte im Kaukasus und der Schweiz streitig, zumal die schwierig zu definierende Ortsmitte niedriger angesiedelt ist als letzte Häuser weiter oben. Für die den Radler bleibt es unerheblich, die Pässe liegen eh meist über den Orten selbst. Den Foscagno-Pass als Wiederholung zu reklamieren, bedarf schon einer gewissen Frechheit meinerseits. Ich habe von diesem Pass 2007 nahezu nichts gesehen, denn die Regenwolken verhüllten alle Ansichten, insbesondere zur Südseite. So panoramareich ahnte ich denn auch den Pass nicht mit den eindrucksvollen Blicken auf den Cima dei Piazzi.
Etwas unentschlossen ziere ich mich in Isolaccia nach dem Einkauf von gut gereiftem Käse und leckeren Joghurts aus regionaler Valtellina-Produktion. Es ziehen doch wieder bedrohliche Wolken auf, die Zeit dürfte für eine komplette Auffahrt des Passo Torri di Fraéle nicht reichen. Gaststuben gibts an der Strecke nicht, erst wieder zuoberst. So suche ich quasi die letzte Gastronomieinstanz, die ich mit einem unscheinbaren Caffe/Osteria bei der Kirche von Pedonosso finde. Die schon etwas ältere Herzdame des Hauses schmeißt den Laden alleine mit Feuer und verschmitzter Laune. Kräuter-Käse-Ravioli, Wurst-, Schinken- & Käseplatte, Bohnen und Bratkartoffeln ergeben zwar ein ziemlich unorthodox zusammengewürfeltes Menü, sorgen aber für viel Geschmack im Gaumen.
Hier kommen nur Einheimische hin, so auch eine Bergführerin mit amerikanischem Ehemann. Eine Frauengruppe feiert Geburtstag. Gewiss ist Polonaise nicht ganz Corona-konform und die Maske der Wirtin als Hut auf dem Kopf auch nicht so. Die Lautstärkeknöpfe der Musikanlagen steuern lauter und lauter – erdig rockt es, der Blues intoniert kraftvoll. Doch sind wir nicht im Party-Superspreadingkeller, sondern in einer erfrischend fröhlichen Dorfgesellschaft mit Pfiff, die einfach gute Laune transportiert. Es öffnet die Augen, das Leben nicht der political correctness folgen darf und jede Freude auch ein Risiko birgt. Das Lachen hier ist authentisch herzlich und möchte nicht moralisiert werden. Großartiger Abend!
Spezialitäten aus dem Valtellina: Bohnen, Schinken, Salami und Trockenfleisch, Käseplatte, Polenta mit Almkäse, Rotwein aus Livigno, Joghurts, extrem gereifter Bergkäse, Bisciola (Nuss-/Feigenbrötchen)
(v.l.n.r., v.o.n.u.)
Do 23.7. Pedenosso – Passo Torri di Fraéle (1941 m) – Lago delle Scale (Lago di Fraéle) – Cancano – via Piste – Lago di Cancano – Rifugio Val Fraéle – via Piste – Lago di San Giacomo di Fraéle – Passo di Fraéle (1955 m) – via Piste – Passo di Val Mora (1935 m) – via Val Mora (Piste/Trail) – Döss Radond (2236 m) – via Val Vau (Piste) – Abzweig Valchava (1515 m) – Furom – Lüsai – Lü – via Piste – Pass da Costainas (2251 m) – via Trail – Alp Astras (2131 m)
55 km | 1715 Hm
Ein Serpentinentraum am frühen Morgen
Meine Schlafecke der Nacht entsprach nicht ganz dem Stilempfinden einer Etikettengesellschaft. Für das Morgenglück reicht mir aber ein Ausblick in die Bergarena um Valdidentro: Die Sonne hat die Wolken vertrieben und möchte dem Tag ihren ungetrübten Glanz verleihen – fast den ganzen Tag, wie ich einräumen muss. Für den ersten Teil ist Morgensonne nur die zweitbeste Wahl, denn der Serpentinenpass Torri di Fraéle entfaltet seine Extravaganz im Schatten nur bedingt. Es ist ein Abendsonnenpass – wer es besser planen kann, möge es vormerken.
Die Passbezeichnung irritiert ein wenig durch den Plural – tatsächlich aber befinden sich zur Höhe zwei Türme, die bereits 1391 errichtet wurden. Eine Festung sicherte über Jahrhunderte hier einen wichtigen Handelsweg, der heute nicht mehr existiert. Hingegen wurde mit dem Straßenbau in den 1920er Jahren die Energieversorgung mittels der Stauseen für Tirano und das Addatal gesichert. Eine weitere Besonderheit ist hier, dass der Türmepass nur eine Hilfspass zum Passo di Fraéle darstellt, weil der direkte Übergang vom Adda- zum Spöltal (und Inn) über die jeweiligen Täler nur schwer zugänglich ist. Während der Torri di Fraéle das obere Addatal umgeht, dient der Alpisellapass als Alternative zum Tal Acqua dell Gallo, das zum Livigno-See und Spöltal führt. Für den Verkehr ist aber bereits das Valle di Fraéle heute eine Sackgasse, da die alten Handelswege zwischen Livigno, Davos und Rhein sich im 18. Jahrhunderten neu sortierten, ehemals wichtige Pässe auf der Route wie Scaletta und Casanna verfielen.
Es heißt, es wäre wie in Kanada – oder ist es in Kanada schlicht wie hier?
Auf dem unauffälligen Übergang zwischen Torri di Fraéle und Cancano-See liegt noch ein kleinerer Zwischensee (Lago delle Scale) nebst einem Rifugio. Die meisten Besucher finden sich dann aber oberhalb des Cancano-Sees ein mit tags zuvor schon beschrieben zwei Hotels und dem Bikeverleiher. Bald fährt man dann auf guter Straßenpiste und Blick auf den Cancano-See mit tollen Bergpanoramen in alle Richtungen. Gesteinsfalten ragen zum Himmel empor, während Wasserfälle über schiefriges Gestein sprießen. Zur Mitte wechsle ich die Seite, um den Lago di San Giacomo auf der Norduferseite zu passieren und vermeide damit eine Dopplung der Route vom Vortag. Majestätische Kegelberge berauschen zu grandiosen Ausblicken. Eine Kasernenruine zeugt noch von der militärischen Nutzung im Ersten Weltkrieg.
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