ALP-2020-RA-3
Bunte Bergblumen, archaische Arvenwälder, harter Schotter: Von den Livigno-Alpen im Veltlin mit dem Nationalpark Stilfserjoch via Val Müstair zum Costainaspass
Der Bergnatur verpflichtet: Die Biosfera Val Müstair
Auch nach dem Verlassen der Pistenstraße am Passo di Fraéle bleibt der Weg eher flach bis zum Passo Val Mora, wo der Arvenwald dichter wird. Hier verläuft von der Natur unbemerkt die italienisch-schweizerische Grenze. Die Orografie ist nun recht komplex, denn ein geröllartiger Trail führt alsbald gefährlich und schmal nach unten, obwohl man dem Fluss nach oben folgt. Hier können nur Trailfahrer im Sattel bleiben, weite Teile muss ich über oszillierende Wellen schieben. Ist der brüchige Teil mit leuchtenden Alpenrosen geschafft, folge ich zunächst entspannter dem nur leicht ansteigendem Val Mora als Bergweideland. Zur Passhöhe Döss Radond bildet sich ein Hochtal mit unscheinbarer Wasserscheide. Durch die kleinen Auf und Abs mit wechselnd gutem und schlechterem Untergrund bleibt die Piste aber anspruchsvoll zu fahren, wenn auch steile Passagen fehlen. Die Bergwelt rückt bald dramatischer heran und sorgt für funkelnde Momente über dem Glitzerbach.
Mit dem unauffälligen Passübergang ins Val Vau, das wie schon das Val Mora auch zur Biosfera Val Müstair zählt, treibt wieder stärkeres Gefälle hinunter durch Bergwiesen, Felsblöcke, Alpenrosen, gelbe Staudenblumen und an einer Wasserfallfront vorbei. Das zunehmende Gefälle wirkt eher bremsend, weil der Schotter lockerer und rutschiger wird bis zum Waldeintritt. An einer Picknickstelle verzweigen sich zwei Richtungsvarianten ins Val Müstair. Nördlich bleibe ich oberhalb Santa Maria und verlasse nur wenig später bereits wieder die gerade aufgefahrene Ofenpassstraße.
Die Straße nach Lü zeigt offiziell ein Radfahrverbotsschild, warum auch immer. Ich könnte es als Warnung verstanden wissen, sorgt die Straße nach Lü für ein paar extreme Steigungsmomente, angeheizt am Sonnenberg bei enormer Tageshitze. Die eigentliche und dritte Härteprüfung des Tages stand noch bevor – der Pass da Costainas. Mit dem Straßenende beim kleinen Örtchen Lü, immerhin mit Postbusanschluss, obwohl schon wie am Ende der Welt, überblickt man ein letztes Mal das Val Müstair und die Ofenpassstraße schon weit unterhalb.
Pass da Costainas – entrückte Stille mit Quälfaktor
Eigentlich hätte ich es gerne zum nächsten Ort auf der Nordseite des Costainaspasses geschafft. Dazu stehen die Zeichen zunächst gar nicht so schlecht. Der Schotterpass lässt sich gut an. Ein Lärchenwald dämpft die Abendsonne in milde Farbspiele. Dann tritt schmiegt sich die Piste um eine massive Felswand und setzt neue Akzente. Schnell wechselt markanter Fels mit einem idyllischen Bergsee, der eigentlich zur Rast einlädt.
Schließlich öffnet sich Hochweideland, Murmeltiere huschen durch Bergblumenwiesen. Beim Abzweig zur Alp Champatsch ändert sich das Steigungsniveau und die Pistenbeschaffenheit. Es wird gröber und steiler… und steiler und steiler. Noch offen sehe ich die Felsskulpturen fern an der Bergfront, die zaghaft an den Izoardpass erinnern. Bald spielt die tiefstehende Sonne hinter einem Arvenmischwald ihre letzten Lichttöne. Die Piste stemmt sich empor dem Himmel, ein Pedalieren nicht mehr möglich. Selbst das Schieben wird eine Tortur aus Heben, Schieben und Drücken, die Schuhe rutschen immer wieder ab.
Die Quälerei ist in Distanz gemessen wohl nicht lange, in Zeit gefühlt die berühmte Ewigkeit. Bei einer abgeriegelten Hütte erreiche ich ein kleines Hochplateau, wo nur noch ein Trail weiterführt. Die Spur ist ganz gut fahrbar, auch über die Passhöhe hinaus. Wellig wogt das Velo durch die offene Bergwiese. Das Gefälle ist eher mäßig. Bald tauche ich in den Bergwald ein – der höchst gelegene, zusammenhängende Arvenwald Europas. Es ist eine archaische Atmosphäre, verschwiegen entrückt, der Stille zu lauschen.
Die Alp Astras bereits im Auge, verschlechtert sich die Spur, häufiger muss ich mal anhalten um nicht mit den Lowridern anzudocken. Seit Passhöhe hat sich der Himmel verfinstert und Gewitter droht. Durch die Schiebetortur zur Gegenseite hatte ich alle Zeit verloren, um noch S-charl zu erreichen. Auf Alp Astras ist man nur auf Tagesgäste eingestellt, ich erhalte aber noch ein Käse-Wurst-Brett mit Bier für satte 28 Franken. Da mögen die Käsestücke dick sein, die lieblose, plumpe Präsentation mit zwei Gürkchen rechtfertigen den Preis sicherlich nicht, auch nicht in der Schweiz. Dennoch muss ich dankbar sein, dass ich noch unter dem etwas entfernten, leerstehenden Stallungsgebäude mein Zelt mit Gewitterschutz aufstellen darf.
Fr 24.7. Alp Astras – via Piste – S-charl – Scuol (Innbrücke Manaröl, 1164 m) – Ftan (1644 m) – Ardez (1465 m) – Bos-cha (1664 m) – Guarda – via Radpiste (Resgia) – Lavin (Innbrücke Suot Röven, 1387 m) – via Radpiste – Susch (1420 m)
53 km | 920 Hm
Ein Baum für den sanften Herzschlag
So dunkel ist ein Morgen selten, tief hängen die Wolkenschwaden. Allerdings regnet es nur wenig zur Weltuntergangsstimmung. Die Fahrpiste schlängelt sich durch den niedrigwüchsigen Arvenwald. Dem auch Zirbe genannten Föhrenbaum dient das Waldreservat God da Tanamgur als unberührter Lebensraum, der sich selbst überlassen bleibt. So liegen hier Bäume kreuz und quer, verknoten sich, verfallen, wuchern über Alpenrosenbüsche. Die ältesten Zirben leben bis zu über 700 Jahre lang und wagen sich in luftige Höhen von bis zu 2400 m, also weit über die übliche alpine Baumgrenze. Sie erdulden extrem Hitze wie Kälte und begnügen sich mit sauren Böden. Der Duft ihrer Altersweisheit vermag den Herzschlag des Menschen in tiefen Schlaf zu versetzen. Gleichwohl enthalten ihre Zapfen süßlichen Samen, die auch als Arvennüsschen genascht werden, nicht nur von Menschen, sondern auch vom Tannenhäher, der sich dafür symbiotisch beim Baum bedankt, indem er seinen Samen verbreitet.
Downhill im Wolkenbruch
Dass ich mit der der Beiz auf Alp Astras nicht glücklich sein konnte, beweist mein Blick auf die Speisekarte im Gasthof Mayor in S-charl, abgelegener Bergort mit Ende-der-Welt-Faktor. Die auch bei Velofahrern beliebte Herberge bietet leckere Gerichte mit lokaler Note zu noch recht bezahlbaren Preisen und in heimeliger Zirbelstube. Nicht zufällig sammeln sich entsprechend mehrere Mountainbiker mit Ziel Costainaspass vor dem Hotel. Heikle Mission, denn jederzeit droht neuer Schütt von oben. Runter oder rauf scheint dafür aber unerheblich – die Aussichten sind gleich schlecht.
Obwohl auch der Postbus verkehrt, so sind doch Teile der Zufahrt nicht asphaltiert, sehr wohl aber kaum weniger komfortabel gut gewalzt. Indes treffe ich ein Allgäuer Paar mit VW-Bus-Camper am schottrigen Bachbett mit Flusssteinmännchen. Auch die Pflegeheimschwester aus Isny möchte mich vom Pflegeberuf überzeugen. Ich hätte ja ein Interesse ins Allgäu umzusiedeln, aber ein Beruf, der mir doch irgendwie fremd erscheint? Kann das gut gehen?
Die obere Passage unter S-charl verläuft eigenartig flach und wie von einem Geröll an Betongemisch überzogen. Kaum zeigen sich mehr Kiefern und steile Felsen, die die Clemgia-Schlucht tief einschneiden, entlädt sich die Wolkengicht, sodass die Straße selbst zum Bachlauf wird. Den steilen Fall hautnah an schroffen Felsen vorbei, eng geschnitten in verwegenen Kehren, erlebe ich nunmehr nur mit verdünnter Spucke und Wasserbeutelfüßen. Die ganze wilde Schönheit verschwimmt im riskanten Steuermanöver ins Inntal hinunter. Ich muss jetzt erstmal die Welt neu sortieren, wenn sie noch da sein sollte.
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