ALP-2021-TdS-06
Doppeltal mit Badewanne und Mühlendorf: das Valle Onsernone
(So, 13.6.) Berzone – Tenero – Contra Bassa – Costa – Brione sopra Minusio – Orselina – Locarno – Ponte Brolla – Tegna – Verscio – Cavigliano – Intragna – Golino – Ponte die Cavalli – Melezza-Ufer – Verscio – Cavigliano – via Valle Onsernone – Auressio – Loco – Mosogno
49 km | 1030 Hm
Luxusterrassen für lebloses Motorenblech
Den neuen Tag starte ich noch nahe des Verzascastaudamms. Das Tal hat sich hier so eingeschnitten, dass es keine Querverbindungen zum Gegenhang mit Mergoscia und anderen Ansiedlungen oberhalb Locarnos gibt. Nur kurz zurück fast auf der Höhe des Langensees, windet sich dann die Straße von Tenero wieder hinauf durch Weinbergparzellen, Villen und Gärten mit Oleanderbüschen und Palmenfächern, auch mal dekoriert durch ein Kirchlein in sonnigen Pastelltönen. Trotz der Steillagen bleibt kaum ein Flecken ungenutzt. Doch die Natur nimmt sich ihren unbezwingbaren Anteil, bricht eine Schluchtschneise in den Siedlungshang mit einem Hauch Urwald und einem Wasserfalljuwel.
Die Terrassenblicke fallen auf das tiefendunkle Seeblau, nach Süden in der diesigen Sommerluft in eine Unendlichkeit schwindend. In Brione sopra Minusio lockt ein kleiner alter Dorfkern zum Rundgang, wohlige Gerüche verbreitet die Bäckerei, die strategisch günstig für hungrige Sonntagskirchgänger liegt. Dem alten Dorfkern folgen bald wieder terrassierte Villenstaffeln mit privilegiertem Panorama. Mich überfällt ein Neid gegenüber den Autokarossen der Bewohner. Welche Verschwendung, leblosem Motorenblech solche Aussichtsplätze zu spendieren! Was würden da noch Zeltplätze oder Tinyhäuser traumhaftem Lebensraum spenden können! Stattdessen werden die Logen von Asphaltplätzen und Garagenbunkern geraubt. Selbst Müllabstellplätze gleichen manchmal Wohnhütten aus edlen Hölzern. Warum müssen die Menschen um teure Wohnungen kämpfen, während tote Luxusgüter allen Platz von wertvollem Grund bepflastern?
Die Ortsgrenze nach Locarno überfahre ich auf der äußerst obersten durchfahrbaren Straße, die zeitweise in einen noch kaum berührten Wald eintaucht. Wie lange wird diese noch unversiegelte Oase bleiben? Auf dieser Passage bleibe ich oberhalb der Wallfahrtskirche Madonna del Sasso, die man nicht mal sehen kann. Im wiederum panoramareichen Serpentinenabfall verdichten sich die Villenstaffeln zu einer urbanen Zone. Schließlich stößt die Route in Locarno auf die Ausfallstraße Richtung Valle Maggia, ohne dass man das Zentrum Locarnos queren muss.
Das Valle Onsernone ist recht streng abgeriegelt durch eine Schlucht, deren alte Straßenpassage längst zerfallen ist. Heute umfährt man diese daher weit darüber und bleibt für auch nahezu gänzlich im Haupttal oberhalb der Talsohle. Eine Siesta mit Flussbad verdöse ich daher zuvor an der Melezza vor den Toren Intragnas. Der Flusssand ist indes so aufgeheizt, dass meine Füße fast verglühen. Prickelnd kalt dagegen immer noch der Bergfluss. Ein Fest für die nackte Haut.
Adlerdörfer auf der Sonnenseite des Valle Onsernone
Als ich in das Valle Onsernone einfahre, hat der Abendschatten schon die weite Taleingangskurve erfasst. Die Topografie ist wechselhaft, mal steiler an, dann abgeflacht insbesondere durch die Dörfer. Noch weit vor der Verzweigung des Tals halte ich für eine Pizza im La Pergola in Auressio, dem ersten Dorf des Valle Onsernone und mit schöner Terrassenaussicht. Erst hier beginnt die Ost-West-Längung des Tals mit den Dörfern, die ausschließlich die sonnenreiche Südhanglage bestücken. Für ein Zelt gibt es kaum Raum, nur Zentimeter trennen mich von der Fahrbahn – immerhin Tisch, Bank und fließend Wasser. Im Genügsamen liegt auch immer ein Stück Luxus.
(Mo, 14.6.) Mosogno – Russo – Ponte Oscuro – Crana – Vocaglia – Comologno – Spruga (1113 m) – Bagni di Craveggia – Spruga – Ponte Oscuro – via Valle di Vergeletto – Vergeletto – Zott – Piano delle Cascine/Fondo Valle (~1115 m) – Vergeletto – Ponte Oscuro – Russo – Loco – Cavigliano – [Ponte Brolla – via Valle Maggia – Gordévio – Avegno (via Rad-Weinbergroute) – Maggia – Coglio – Someo]
76 km | 1295 Hm
Nach dem Hauptort Russo des ersten, ungeteilten Abschnitts des Valle Onsernone fällt die Straße zur Ponte Oscuro etwas ab. Hier verzweigt sich das Haupttal Valle Onsernone und das Valle di Vergeletto als Nebental. Beide Täler werden indes auch übergreifend als Valle Onsernone bezeichnet und alle anliegenden Dörfer bilden mittlerweile die gemeinsame Gemeinde Onsernone. Die alte Brücke liegt ziemlich versteckt unweit der neuen. An der Kreuzung steht etwas mysteriös eine Steinskulptur mit einem Abbild der Brücke und zwei düsteren Gestalten.
Die Legende der Ponte Oscuro
Es trug sich zu, dass die alte Frau Miseria einem Fremden Kost und Logis gewährte. Von dem wenigen, was sie besaß, teilte sie noch großzügig Brot und Wein. Der Gast gab sich schließlich als San Rimigio, der Schutzbefohlene des Tals zu erkennen und beteuerte der Frau einen Wunsch zu erfüllen. Diese beklagte sich sodann über Lausbuben, die ihr das Stroh klauten. San Rimigio versprach, dass sie bei Strafe ins Wasser fallen und nicht mehr aus diesem rauskommen würden. Tatsächlich stürzten die Lausbuben nun immerzu ins Wasser und ließen vom Stroh ab.
Es kam ein Abend, als der Tod bei der alten Frau anklopfte, um sie zu holen. Miseria bat nun diesen, ein wenig Stroh zu holen, da sie noch einen Hut für eine treue Kundin zu flechten habe. Der nahm die Sense und fiel ins Wasser, als er das Stroh aufnehmen wollte. Der Tod blieb fortan gefangen. Die Alten lebten immer länger ohne zu sterben, Totengräber arbeiteten nicht mehr und Notare konnten keine Testamente mehr vermitteln, die den jungen Generationen Erbschaften übermittelten. Es war Karl der Große, der sich über das bestehende Chaos den Kopf zerbrach, ein wirksames Gift forderte, wenn der Tod nicht mehr seine Arbeit machte.
Alle Versuche brachten keinen Erfolg, dem Chaos ein Ende zu bereiten. Es war dann ein Wunder, dass der Ritter von Como in ein fernes Alpental ziehen wollte um Eremit zu werden. Dabei stieß er auf die verteufelte Brücke mit dem Tod, der ebendort im Wasser hing. Der Ritter machte dem Tod Vorwürfe, dass er seiner Aufgabe nicht mehr nachkomme. Dieser verwies wiederum auf die alte Frau, die ihn gefangen hielt. So ging Ritter zu Miseria und erzählte von den misslichen Folgen, die dieser Bann über den Tod in aller Welt ausgelöst habe. Die Frau zeigte Reue und erlöste den Tod, nicht aber ohne ihm das Versprechen abzuringen, dass er sie erst holen möge, wenn sie ihn rufe. Der Tod so wieder befreit, setzte alsbald seine Arbeit fort, bemühte gar die Hilfe von Ärzten für sein Totenwerk. Indes sah Miseria keinen Grund, je den Tod zu rufen. Und so blieb dann auf der ganzen Welt bis heute das bestehen, was der Name der Frau verkörpert – das Elend.
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