ALP-2021-TdS-06
Doppeltal mit Badewanne und Mühlendorf: das Valle Onsernone
Partisanenfluchtweg mit Thermalquelle
Aus der schattigen Talnische der Ponte Oscuro heraus breitet die weitere Panoramafahrt großen Genuss, verwunschen jedes der Bergdörfer auf eine eigene Art. Comologno wartet mit sakralen und weltlichen Fresken auf, von der Pfarrkirche mit bemalter Baldachinkuppel führt ein Kreuzweg mit Giebelbildstöcken in die Taltiefe. Das scheinbare Ende mit der letzten Bushalte des Tals in Spruga versammelt Wanderer, Biker und andere Berggenießer, die sich hier noch einmal in einem kleinen Dorfladen und in der ansässigen Bar verpflegen können. Doch warum scheinbares Ende?
Spruga liegt als höchster Talort immer noch deutlich oberhalb des Isorno. Das nunmehr schmale Sträßchen, für den Autoverkehr gesperrt, schlängelt sich verwegen nach unten an wasserspeienden Felsen vorbei, durch urwüchsigen Wald mit Lianen und leuchtendem Blattgrün. Das Rauschen des Bergflusses erfüllt die Ohren noch bevor der Blick frei wird für eine Lichtung, wo der Isorno ein steiniges Bett ausgebreitet hat, bewacht von fragil gestapelten Kieselskulpturen. Zur linken Hand rauscht versteckt hinter den Bäumen eine große Kaskade zu Tal. Zur Gegenseite fällt eine Ruine ins Auge, die einem morbiden Zerfall ausgesetzt ist und dessen Funktion nicht zu erahnen ist, wenn man es nicht weiß. Während unten mehrere Steinbögen in ein dunkles Inneres führen, könnte man oben eine ehemalige Terrasse vermuten, hinter denen rechteckig Bunkerlöcher an eine Festung erinnern.
Um zu der seltsamen Ruine zu gelangen, muss ich durch den reißenden Bergfluss waten, der noch vom Schmelzwasser des Winters kalt und hochstehend aufgeschäumt ist. Dabei überschreitet man gleichzeitig die schweizerisch-italienische Grenze. Dann erfährt man von den Bagni di Craveggia, dem ehemaligen Thermalbad, zu dem einst sogar mal ein mehrstöckiges Kurhotel Gäste einlud, das 1819 gebaut wurde. Eine Lawine zerstörte 1951 die seit jeher schwer zugängliche Anlage, weiters ein Unwetter 1978. Die Ruine wurde mit seinen restlichen Becken erhalten und um zwei befüllbare Granitwannen für vorbeiziehende Wanderer erweitert. Das Thermalwasser hat allerdings nur eine Temperatur von 28 °C und ist durch die Schüttung der Quelle beschränkt verfügbar.
Die Bagni di Craveggia wurden trotz und auch wegen ihrer Abgeschiedenheit Zeuge von Partisanenflucht und eines tragischen Grenzzwischenfalls im Zweiten Weltkrieg. Der italienische Widerstand gegen die Faschisten hatte sich in der zeitweiligen Partisanenrepublik Ossola verfestigt. Italienische Verfolgte konnten über die Bagni di Craveggia in die Schweiz flüchten. Den Partisanenkämpfern war hingegen der Übertritt in die Schweiz nur bei Todesgefahr erlaubt, so hatten sich beide Seiten geeinigt. Als die italienischen Faschisten zusammen mit Soldaten der deutschen Wehrmacht das Treiben an dieser Grenze beenden wollten, kam es 1944 zu einem Gefecht mit den Partisanen. Diese flüchteten gemäß Abmachung in das schweizerische Spruga. Dabei reichte der Kugelhagel aber über die Schweizer Grenze und die Brigadiers Federico Marescotti und Renzo Coen mussten das mit ihrem Leben bezahlen. Ihnen ist heute ein Gedenkstein gewidmet. Der Forderung der Faschisten, auch die anderen Partisanen zu übergeben, lehnten die Schweizer ab und stockten ihre Militärkräfte an der Grenze auf, worauf die Faschisten schließlich abzogen.
Vergeletto, das Zentrum der Mühlendörfer
Es geht zurück zur Ponte Oscuro. Schmal ist die Pforte zum Valle di Vergeletto, zunächst auf Flusshöhe, dann in engen Kehren aufsteigend zum einzigen Dorf des Tals. Der Ort klebt steil am Hang, was ihn als Mühlendorf prädestinierte. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden bis zu 27 Mühlen im Onsernone zur Hochzeit, verloren aber im 19. Jahrhundert schnell an Bedeutung. Heute sind noch zwei Mühlen im Betrieb, eine in Loco und eine in Vergeletto. In der heutigen Produktion gilt das farina bóna als Mehlspezialität aus gerösteten Maiskörnern, welches mit dem Slow-Food-Label eine herkunftsgeschützte Auszeichnung trägt. Die historischen Mühlenstationen kann man über einen kühnen Treppenpfad besichtigen.
Man könnte meinen, das Tal sei zu Ende. Doch tatsächlich beginnt hier erst eine breitere wie flachere Aue mit leuchtenden Blumenwiesen und Birkenhainen. Ganz anders als im Valle Onsernone führt die Straße nahezu auf Flussebene und folgt einem geraden Blick zum Talschluss. Nur ein Weiler umgibt zwischenzeitlich eine Seilbahnstation, über die man zum Berggrat zwischen den beiden Onsernonetälern gelangen kann. Die Straße führt allerdings immer noch gering steigend weiter. Mit der auslaufenden Aue beginnt dann ein kurzer finaler Anstieg nach Fondo Valle, einem Bergbauernhof mit Restauration. Hier kann man nur zurück ins Tal schauen, voran nach Westen wölbt sich der Bergwald zur Sichtsperre. Die folgende Piste ist dann so steil, dass mich die Neugierde schnell verlässt, weiteres Terrain zu erkunden.
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