Ausflug in die Stille des Schwäbisch-Fränkischen Waldes
Ein In-between im Gedankenspiegel des schwäbischen Dichters Justinus Kerner
- 18.-20.9.2020 | 3 Tage
- 305 km | 102 km/d
- 4170 Hm | 1390 Hm/d | 1367 Hm/100 km (barometrisch gemessen)
Der Digitrack auf AllTrails ist am PC nachgebaut, ohne Navi
Nicht nur das Corona-Jahr drängt mich immer wieder in nahe Ecken der Hausregion – die Auszeiten in-between. Schwäbischer-Fränkischer Wald, hier mehr schwäbisch als fränkisch interpretiert, ist selbst für mich aber ein eher seltenes Nahziel. Schwarzwald, Alb oder Kraichgau bekommen meist den Vorzug. Also ist ein Radurlaub im Schwäbisch-Fränkischen Wald vielleicht schon wieder exotisch? – Alpencross, Tourmalet, Seidenstraße oder El Camino – das kennt ja jeder, das hat Mythos. Gewiss, viele Radler kennen auch die Flussradwege an Kocher und Jagst. Doch in-between? Was gibt es da? – Vor allem viel Stille, entschleunigte Stimmungen. Geografisch bewegte ich mich vor allem durch Welzheimer Wald, Mainhardter Wald, Waldenburger Berge, Haller Ebene und Limpurger Berge als Teile des Schwäbisch-Fränkischen Waldes – vor- und nachgeschaltet die Filderebene und Schurwaldhöhe.
Entlegene Dörfer, einsame Wälder, nachts rasende Feierjugend, zur Hohenlohe auch immer wieder ein abstrakt, ja fremd wirkender Gewerbereichtum. Mancherorten winken Mitfahrbänkle in einer Region mit schwacher Infrastruktur, Außenanschluss zur Welt scheinbar nur mit dem Auto möglich. Und doch waren schon die Römer dort. Wer möchte, kann hier auch dem Limes-Radweg folgen. Dazu wählt man den Einstieg aber östlicher in Lorch in Richtung Welzheim und hält sich dann westlicher. Auf dieser Tour wird er aber nur in Welzheim gekreuzt, wo es bedeutende Funde, eine Museum und ein nachgebautes Kastell gibt. Der Obergermanisch-Rätische Limes diente den Römern als Befestigungswall für militärische und wirtschafltiche Zwecke. Auf den 550 km zwischen Bad Hönningen am unteren Mittelrhein bis nach Passau an der Donau zur österreichischen Grenze hin überwindet er mehrere deutsche Mittelgebirge. Der heutige Radweg verteilt sich dabei auf insgesamt über 800 km.
Historische Schätze stehen indes nicht auf dem Tourplan. Das haben ja schon andere gefunden. Und Radler als Archäologen scheitern doch schon mal am Zuladungsgewicht eines historischen Hinkelsteins. Es sind eher Stimmungen, Gedanken, kleine Freuden, sicher aber auch Zweifel. Die Zweifel am Richtigen, an Zukunft, an sich selbst. Der Fahrtwind bläst sie weg, die Sonne löst die Fesseln und doch verschwinden sie niemals ganz. Justinus Kerner, romantischer Dichter und vor ca. 200 Jahren zeitweise in Welzheim und Gaildorf praktizierender Arzt, wusste es in passende Waldworte zu fassen:
Wenn der Wald im Winde rauscht,
Blatt mit Blatt die Rede tauscht,
möcht ich gern die Blätter fragen:
Tönt ihr Wonnen? Tönt ihr Klagen?
Springt der Waldbach talentlang,
Justinus Kerner
mit melodischem Gesang,
frag ich still in meinem Herzen:
Singt er Wonne? Singt er Schmerzen?
Aufgesattelt zur Römersiedlung
(1) Stuttgart – Sillenbuch – Kemnat – Scharnhausen – Nellingen – Denkendorf – Plochingen – Weißer Stein – Baltmannsweiler – Winterbach – Schorndorf – Urbach – Bärenhof – via Bahnhöfle/Waldpiste – Walkersbach – Breitenfürst – Welzheim – Aichstrutsee
87 km | 1235 Hm
Mindestens die bereits lange Querung der Filderebene im Auf-und-Ab zum Körschtal, Neckar und der Rems hin sind mir zu bekannte Tageskorridore, als dass ich Urlaubsfeeling empfinden könnte. In den Winterbacher Streuobstwiesen versteckt sich ein kleiner Wasserspeichersee, der frisches Quellwasser von der Schurwaldhöhe sammelt. Meine Grenze zwischen Tages- und Ferntour ist meist gegeben, wenn die Rems überschritten und der Rand des Schwäbischen Waldes erreicht ist. Mit der Strecke über Bärenhof und einer Waldpiste ins Walkersbachtal schnuppere ich erstmals etwas neue Wege.
Für die Gasthofeinkehr ist nach der immer wieder schönen Auffahrt nach Welzheim dann schon spät. Die Corona-Last hält viele Wirte vom Vollbetrieb ab. Um 20 Uhr fallen die ersten Läden, zumindest der deutschen Gastronomen. Der Grieche „Waldhorn“ hält natürlich länger offen. Ich wusste nicht mehr, ob ich beim letzten Mal vom Essen begeistert war. Diesmal war es grottenschlecht. Okay, der Garpunkt von der Leber war gut getroffen. Andere Fleischteile aber schon trocken- oder schwarzgebraten. Und außer den Pommes kein Tupfen Sauce, kein Zaziki, kein Gemüse. Liebloser dekoriert man den Teller nicht mal zuhause in schlampiger Einsiedelei.
Ich wollte erst oberhalb vom Aichstrutsee bleiben. Zwei Jahre zuvor war an dem See viel Partyvolk, das den Camping weit in die Nacht hinein zur lauten Meile machte. Ich fuhr dann doch hinunter und fand zig Wohnmobile auf den Parkplätzen. Am Seecamping hingegen nichts, die Sanitäranlagen geschlossen. Erst am nächsten Morgen lese ich einen Aushang, dass Campen nach Anmeldung möglich sei. Wo, stand da aber nicht. An einzelne Zeltnomaden ist wohl nicht gedacht. Das Bistro hält nur tagsüber an Samstag und Sonntag offen. Vielleicht gibts die Einschränkungen aber auch nur wegen Corona. Lediglich ein weiteres Zelt schimmert noch durch die dunkle Nacht. Aber kein Partylärm, sondern Stille – fast, für ein paar Abstriche sorgen die Autovölker auf den anliegenden Parkplatznischen.
(2) Aichstrutsee – Gmeinweiler – Gehren – Ebersberg – Mönchhof – Kirchenkirnberg – via Glattenzainbachtal – Fichtenberg – Erlenhof – Frankenberg – Sittenhardt – Wielandsweiler – Bubenorbis – Maibachsee – Bubenorbis – Witzmannsweiler – Gnadental – Winterrain – via Waldpiste – vor Gailenkirchen – Wittighausen – Untermünkheim – Enslingen – Felder vor Gaisdorf
73 km | 1005 Hm
Lichter der stillen Wälder, Charme der Streuobstwiesen, nur die Walnuss klackt
Morgens entsteigt dem See der Nebel. Der Aichstrutsee liegt in einer Talaue und hält doch die Temperaturen in der Nacht recht mild. Die folgenden Weiler und Dörfer sind bäuerliche Flecken in abgeschiedener Idylle, mal ein Traktor auf dem Weg zu den Feldern, mal ein Klacken einer herabfallenden Walnuss. Kein Bäcker, kein Dorfladen – auch im recht gut besiedelten Kirchenkirnberg nicht. Schattige Wälder wechseln mit steillagigen Streuobstwiesen, Pilze melden sich aus dem Wiesentau am Straßenrand, Gegenlichtstrahle fallen durch die Baumzweige auf kleine Lichtungen und manche Steigung ist recht knackig.
Das Glattenzainbachtal ist prickelnd frisch wie ein Morgengedicht, eine gute Piste durch schattigen Wald mit Trinkbrunnen und eine renovierte Mühle am oberen Einfallstor, aber ohne Einkehr. In Fichtenberg öffnet sich das weite Wiesental der Rot. Auch hier viele Bewohner, Gewerbe am Rande, aber wenig Geschäfte. Ein kleiner Dorfladen hat das Nötigste.
In offener Wiesenlandschaft und mit einer ansprechend gewundenen Passauffahrt steige ich nach Erlenhof auf, weiter wechseln immer wieder Wälder und Streuobstwiesen, kleine Landstraßen und Waldpisten. In Bubenorbis, dem Namen nach wohl einem Urwald entsprungen, reißt mich die hektische Bundesstraße aus den vielen kleinen Träumen. Schon bald aber kehrt aber zur Hohenloher Ebene die entschleunigte Land- und Dorfidylle zurück. Zur spätsommerlichen Seerast am Maibachsee lockt ein verstecktes Biotop, dass man nur über Waldwurzelwege erreichen kann.
Ich hatte nun die Zeit recht lange vertrödelt, mit einer Krankenpflegerin in ein Gespräch verwickelt und keinen rechten Plan von der Fortsetzung der Tour. Die Landschaft ebnet sich ein wenig ein, verliert Konturen. Erst Richtung Waldenburg schmeichelt wieder eine liebliches Auental. Den weiter nördlichen Neumühlsee mit Campingplatz ließ ich aus, um wieder den Bogen zurückzufinden für Tag Drei, an dem ich wieder Stuttgart erreichen wollte. Ich gelangte so auf eine eher ruppige Piste bei Gnadental, die in die Kocherebene bei Gailenkirchen führt. Dort verwirrte mich etwas das Feldweg-Zickzack und die kreuzenden Verkehrsadern. Es ist zu flach um Orientierung zu gewinnen, die Ausschilderung verbesserungsfähig.
Nacht unterm Birnbaum
Immerhin hatte ich Schwäbisch Hall erfolgreich umfahren. Zweimal habe ich die alte Salzstadt bereits besucht, die heute nicht zuletzt im Zeichen der manchmal zweifelhaften Kunstförderung des einstigen Schraubenkönigs Würth steht, dessen prosperierender Weltkonzern auf die gesamte Hohenloher Ebene abstrahlt. Am Kocher breitete sich nun eine doch merkliche Abendkühle aus. Ich lief bei einfallender Dunkelheit im Enslinger Gasthof „Krone“ ein und trotzte dem Koch noch eine Arbeitszeitverlängerung ab. Auch hier wollte man schon vor 20 Uhr die Stühle hochklappen. Die heimischen Gäste auf der Terrasse meinten, hervorragende Wahl, hier könne man sehr gut essen. Ich will nicht sagen, dass die Sauren Nieren schlecht waren, aber ein kulinarisches Feuerwerk zündeten sie sicherlich nicht, schwammen doch zu sehr in einer überwürzten dunklen Bratensauce.
Die Hänge ziehen sich hier am Kocher schon im Ort steil hoch und die Auen unten wirkten auf mich nicht sehr einladend für eine Zeltnacht. So musste ich doch noch ganz zur Höhe hinauffahren, bevor ich eine geeignete Stelle unter einem alten Birnbaum fand. Bekam nicht Isaac Newton eine seiner Erleuchtungen über die Gravitationskraft unter einem Birnbaum? – Und was sagt der Dichter:
In stillen Nächten weinet
Justinus Kerner (letzter Vers aus „Stille Tränen“)
Oft mancher aus dem Schmerz,
Und morgens dann ihr meinet,
Stets fröhlich sei sein Herz.
(3) Felder vor Gaisdorf – Geislingen/Kocher – via Bühlertal-Radweg – Cröffelbach – Oberscheffach – Sulzdorf – Herlebach – Rappoltshofen – Rothof – Gaildorf – Michelbächle – Mittelrot – via Rauhenzainbachtal – Wildgarten – Horlachen – Altersberg – Kaisersbach – via Waldpiste – Aichstrutsee – Welzheim (Ostkastell) – Haghof – Walkersbach – via Waldpiste – Bärenhof – Urbach – Schorndorf – Winterbach – Baltmannsweiler – Plochingen – Denkendorf – Nellingen – Scharnhausen – Plieningen – Birkach – Stuttgart
145 km | 1930 Hm
Der Morgen war hier schon recht kalt, aber trocken gegenüber dem nebligen Kochertal. Wirklich schön ist die Hochebene bei Gaisdorf nicht. Die Attraktion anbei verdanken wir wieder einmal der Autowelt, die sonst die Landschaften planiert. Die Autobahn führt bei Geislingen über die Kochertalbrücke, die mit maximal 185 m Höhe über dem Kocher das Prädikat der höchsten Talbrücke in Deutschland trägt. Zeitweise waren die Brückenpfeiler sogar Weltrekordler, mussten sich aber mittlerweile hinter der Konkurrenz von Millau in den französischen Cevennen und gar einer Brücke in Mexiko einordnen.
Höhepunkt zur Frühe: Flussidylle im unteren Bühlertal
Der eigentliche Höhepunkt erwartete mich aber eingedenk des Bühlertals, dass im Morgenlicht herrliche Stimmungen entfaltete. Im untersten Teil zwischen Geislingen und Cröffelbach führt ein geschotterter Radweg durch ein abwechlsungsreiches, lichtgeflutetes Flussbiotop und bleibt dabei meist hügelig oberhalb der Bühler. Die Straße folgt ihresgleichen einer deutlichen Überhöhung zur anderen Talseite.
Nach ein paar weiteren Taldörfern, alles Ortsteile von Wolpertshausen, das fern zur östlichen Höhe liegt, schwenkt zur anderen Talseite eine Serpentinenstraße hinauf in die Limpurger Berge. Trotz der recht ausgedehnten Siedlungsflächen und Gewerbebetriebe fehlt es Sulzdorf an einem einladenden Dorfkern. Die ehemalig eigenständigen Dörfer sind längst zu Pendlerschlaforten abgestiegen, Schwäbisch Hall saugt die Kultur und Treffpunkmeilen an sich. Auf den Höhen verbleiben verlassen wirkende Siedlungen, deren Bewohner doch stark von ihren rollenden Blechkabinen abhängig sind.
Zwischen Oberfischach und Rappoltshofen finde ich nochmal eine schöne Nischenroute durch Streuobstwiesen der Limpurger Berge und an Höfen vorbei, bevor ich dann der weniger reizvollen und recht betriebigen Landstraße nach Gaildorf folgen muss. Selbst in dem historisch bedeutsamen und hübschen Kocherstädtchen mit Fachwerkschloss schließt die einzig geöffnete Konditorei am Sonntag rechtzeitig vor meiner Mittagsankunft. Erstaunlich wenig Gasthöfe oder Cafés bieten noch eine Einkehr an. Die beschauliche Atmosphäre brechen immer wieder röhrende Sportwagenmotoren und knatternde Feuerstühle – auch ein Zeichen, das Sonntag ist. Die Stille ist eben auch nur ein begrenztes Gut.
Unter den nun stark aufheizende Sommertemperaturen folgen einige markante Anstiege, besonders die abkürzende Rampe nach Michelbächle hat es in sich, wenn auch nur kurz. Statt der Piste im Glattenzainbachtal wähle ich diesmal die Straße außen rum entlang dem Rauhenzainbachtal Richtung Kirchenkirnberg. Die Fahrt über Horlachen und Altersberg gewährt nochmal eine gehobene wadenkräftigende Mittelgebirgscharakteristik. Eher bescheiden zieht sich dann die offene Hochebene nach Kaisersbach, gefolgt von einer dunklen Waldpiste abwärts zum Aichstrutsee.
Nach einer Badepause wähle ich eine Variante mit tiefer Talmulde und Gegenanstieg über die Hagmühle, wo Musik im Biergarten für großen Andrang sorgt. Unweit vom Golfplatz Haghof führt eine extrem steile, aber asphaltierte Gefällstrecke ins Walkersbachtal, die ich noch nicht kannte. Fortan ist die Rückroute fast identisch zur Anreiseroute. Noch das Ende komplett ausgefahren, bin ich auch ein wenig platt, die Etappe doch etwas weit und spät geworden. Ein stimmungsvoller Ritt durch viel Stille im ländlichen Charme des Schwäbisch-Fränkischen Waldes ist zu Ende. Das letzte Wort über die Zweifel hat noch einmal der schwäbische Dichter:
Aus den Schmerzen quellen Freuden,
aus der Freude quillt der Schmerz.
Wär‘ kein Wechsel von den beiden,
folgten nicht auf Freuden Leiden,
würd‘ nicht warm ein Menschenherz.
Nach den Tränen stellt im Leben
Justinus Kerner
sich auch oft das Lachen ein;
Tränen haben auch die Reben,
aber trotz der Tränen geben
sie den lust’gen, goldnen Wein.