ALP-2021-TdS-07
Weit verzweigtes Valle Maggia: Wasserfallkulisse, Felsenwohnungen, Steinmetze, Ggurijnartitsch und Seekrone mit Eistopping
Zweimal Endstation San Carlo mit dem Val Lavizzara
Fels über Kopf im Val Bavona
Zurück im Valle Maggia versäume ich zunächst in Cevio einzukaufen. Im Doppeldorf Bignasco/Cavergno erfahre ich, dass es außer der gerade geschlossenen Metzgerei keine Einkaufsquelle gibt, auch nicht im ganzen anschließenden Val Bavona. So mache in nochmal eine Extratour hin und zurück nach Cevio. Fährt man gegenüber der Straße den Radweg, erfreut nur wenig südlich von Bignasco die mächtige und dekorativ verschleierte Cascata Grande, der sich ein kleiner Erholungspark anschließt.
Das Val Bavona ist gleich recht eng und wild zugeschnitten, die Straße lange Zeit annähernd auf der Höhe des Bergflusses. Mehrere Dorfweiler mit typischen rustici begleiten das Tal, jedoch ohne noch intakte Dorfstrukturen. Heute sind es nur noch Sommersitze, deren Bewohner sich für ein stromloses Erholungsleben entschlossen haben, obwohl auch dieses Tal über einen weit oben liegenden Stausee mit Kraftwerk verfügt. Um eine gestufte Viehzucht bis in die höheren Randlagen zu gewährleisten (Transhumanz), bauten die frühen Siedler des Tals Steintreppenwege zu den Felsflanken hin und richteten Ställe oder Behausungen unter großen Blocksteinen ein, die an archaische Felswohnungen erinnern, wie sie vor allem in Sabbione zu sehen sind.
Die Besucher finden wenige Grottos und versteckte Übernachtungsmöglichkeiten. Da ist man dann erfinderisch mit Stromgeneratoren, der puristischen Dunkelheit doch ein Schnippchen zu schlagen. Selbst in der entschleunigten Bergromantik ist noch Platz für modernen Etikettenschwindel. In Sonlerto lockt hinter einer kleinen Römerbrücke eine Picknickbar mit kleinem Laden, wo man die Speisen des Hauses, aber auch selbst mitgebrachte Speisen verzehren darf. Auch ein Zelt darf man hier auf Nachfrage aufstellen, obwohl kein offizieller Campingplatz. Zwei andere Reiseradler haben sich schon eingerichtet.
Ich möchte aber noch den Endort des Tals erreichen. Die bisher eher stufenweise gemäßigt steigende Talstraße verschärft nun die Prozente, um das Bergbachgefälle zu überwinden. San Carlo selbst zieht sich steil den Hang hinauf. Oberhalb der Kirche trudelt ein Teil des Dorfes aus, weitere Häuser verteilen sich etwas nördlicher zur Seilbahnstation hin, über die man mehrere kleine Seen im Quellgebiet der Bavona erreichen kann. Die einzige Bar bei der Brücke am unteren Ortseingang schließt gerade ihre Tür. Den Versuch, meinen Proviant aussichtreich unter freie Himmel zu verspeisen, bricht eine aufziehende Regenfront mit Gewitterpotenzial ab. Bevor ich noch komplett zurück nach Sonlerto abrollen kann, setzt der Wolkenbruch ein und ich bescheide mich für die Nacht unter einem heiligen Kapellenbaldachin.
(Do, 17.6.) San Carlo/Sonlerto – Foroglia – Cavergno – Broglio – Prato – Sornico – Peccia – via Valle di Peccia – Veia – San Carlo – Piano di Peccia – San Antonio – Ghéiba (Schranke zum Bergwerk, 1197 m) – Peccia – via Val Lavizzara – Mogno – Fusio
41 km | 1195 Hm
Aus Stein zu Kunst – im Val Lavizzara und Val Peccia
Zurück im Valle Maggia, beginnt in Cavergno der Talabschnitt des Val Lavizzara. Der namensgebende Lavezstein (Speckstein) hat zwar an Bedeutung eingebüßt, dennoch konnte sich ein modernes künstlerisches Zentrum mit der Scuola di Scultura di Peccia und einem Museum etablieren, da das angrenzende Pecciatal wertvollen Marmor liefert. Peccia erreicht man über eine markante Höhenstufe mit einer ausgereiften Serpentine und einer weiteren kleineren Höhenstufe unmittelbar vor Peccia.
Die Dörfer des Tals verwundern mit einigen Schätzen. In Broglio kam Giuseppe Zoppi zur Welt, der als Philologe sich um die Aufbereitung der volkstümlichen Tessiner Erzählkultur verdient machte. Prato verzückt mit seinen pittoresken stillen Winkeln. In Sornico stöbert man gerne im Dorflädeli mit lokalen und regionalen Produkten, zu denen auch die besonders erwähnenswerten Käse des Pecciatals gehören (sonst auch im Eigenverkauf einiger Bauern erhältlich). Wie ein avantgardistischer Kriegsbunker hebt sich dann das Kunstzentrum in Peccia ab, während der Ort selbst mit einer farbenfrohen Bergdorfkulisse einen geradezu versöhnlichen Kontrast dazu bildet.
Die Legende vom Sasso del Diavolo
Einer Legende nach erzürnte einst den Teufel die Frömmigkeit eines Dorfes im Lavizzaratal und schickte einen seiner furchbarsten Abgesandten names Barbariccia um das Dorf zu vernichten. Barbariccia brach einen mächtigen Felsbrocken von einem der Berggipfel ab, lud ihn auf seine Schulter und stürmte wütend dem Dorf entgegen um es zu zerstören. Eine schöne und liebliche Frau stand dann unten im Tal unter einem blühenden Kirschbaum und lud ihn ein, seinen ermatteten und verschwitzten Körper bei ihr auszuruhen und den Felsbrocken abzusetzen. Als er den Weg fortsetzen wollte, war die Frau – sie war letztlich die Mutter Gottes – verschwunden. So sehr er sich mühte, schaffte Barbariccia es nicht, den Stein wieder auf seine Schulter zu wuchten. Er speite aus Wut Feuer über den Fels, dessen schwarze Aschespuren noch heute zu sehen sind. Verzweifelt im Elend musste der Teufel fluchend zur Hölle zu fahren, um sich dort erbärmlich in der letzten Ecke zu verkriechen. Das Gute hatte über das Böse gesiegt. Giuseppe Zoppi sammelte diese Geschichte unter anderen in seiner Edition „Leggende del Ticino“, die 1928 veröffenlicht wurde. Um die Geschichte fortzuschreiben, wollte ich dem Teufel eine Hilfe geben und mühte mich ebenso, mich gegen den Blockstein zu stemmen. Er bewegte sich tatsächlich keinen Zentimeter und ich fuhr weiter zur Eis- und Gipfelhölle des Vallemaggia, was sich allerdings als teuflisches Paradies erwies.
Der Peccia zu folgen fällt eher leicht, mit San Carlo (wiederum dieser Name, vom San Carlo im Bavonatal zu unterscheiden!) breitet sich eine kleine Hochebene mit bunten Bergwiesen an der leicht plätschernden Peccia aus. Erst wenn man die Siedlungsgebiete hinter sich gelassen hat, erwarten den Radler ein paar kräftige Steigungen zum Marmorsteinbruch hin, dessen fahrbarer Teil auf zuletzt steiniger Piste an einer Schranke des Betriebsgeländes des Steinbruchs per Verbot endet. Nahezu versteckt lauern noch ein paar Wohnhütten des Weilers Ghiéiba oberhalb der Piste und gegenüber des Abraumbergs gelegen.