ALP-2021-TdS-14
Das Unterwallis im Schatten des Mont-Blanc
(Fr, 23.7.) Route d’Emosson/Balayer – Lac d’Emosson/Col de la Gueulaz (1965 m) – Lac du Vieux Emosson (2225 m, letzte Meter zu Fuß, unfahrbarer Trail) – Col de la Gueulaz – Finhaut – Route de la Cha – Le Tretien/exc. Gorges du Triège – Salvan – via Route des Diligences (auch „Route du Mont“) – Vernayaz – Cascade de Pissevache – Evionnaz – St-Maurice [– Bex – Aigle]
63 km | 805 Hm
Für den Restanstieg verschwindet der Mont-Blanc zunächst hinter einer eindrücklichen Berglandschaft. Der Lac d’Emosson kündigt sich bereits über einen großen Parkplatz an, der noch unterhalb des Terrassenplateaus liegt, um das sich ein Restaurant und ein Bistro mit Infostand gruppieren und von dem aus man erste Blicke auf den Stausee gewinnt. Die besten Stauseeblicke erhält man aber später, wenn man über die Dammkrone eine kurz abfallende Straße weiterfährt. Der Lac d’Emosson gilt zu Recht als eine der schönsten Schweizer Stauseen, zieren seine Ufer doch rötliches Gestein, welches sonderbare Farbmuster mit der Seefläche und Gipfelkulisse bespielt. Die Vegetation mit vielen Alpenrosenbüschen hat sich bis fast an die Uferzonen ausgebreitet und schmückt das aparte Bild aus Stein, Wasser und Schnee mit lieblichem Charme.
Am Vormittag haben sich bereits viele Wanderer eingefunden, die zur fortsetzenden Straße auch einen alternativen Trail laufen können. Die Straße indes ist für den regulären Verkehr gesperrt, kann jedoch weiter von der Staumauer des großen Sees bis fast zum Lac du Vieux Emosson mit Rad befahren werden. Für diesen Anstieg sind allerdings außerordentlich potent gewachsene Waden nötig, Passagen der Route erinnern an steilste Fahrrampen in den Alpen wie etwa des Zoncolan. Ich kann diese Strecke immerhin im Intervallmodus bewältigen, zumal die Steilrampe auch nicht so lang ist. Selbst die meisten Rennradler kehren am Col de la Gueulaz, auch bereits mal Bergankunft einer Tour-de-France-Etappe in Jahre 2016, wieder um und verkneifen sich den zusätzlichen Wadenbeißer. Die Straße endet wenig oberhalb eines allerdings aktuell geschlossenen Almgasthofes und auf mittlerer Höhe der Staumauer des oberen Sees. Zur Staumauerkrone muss man schließlich noch einen Schottertrail laufen, der nicht radelbar ist.
Die Schnee-Felsschattierungen erzeugen ein archaische Hochgebirgslandschaft, in der man sich kaum eine blühende Landschaft mit Pflanzen und Tieren vorstellen kann. Nicht zufällig wandern aber viele Besucher weiter, denn hier hinterließen ein paar Gesellen aus der frühen Erdgeschichte ihre Spuren. Die versteinerten Abdrücke, derer bis heute ca. 800 gezählt wurden, entdeckte man erstmals 1976 nach dem Rückzug des permanenten Firnschnees. Sie sollen von einem krokodilähnlichen Dinosaurier aus dem Trias vor ca. 240 Mio. Jahren stammen, dessen Skelett aus Funden im Tessin bekannt ist. Für die versteinerten Spuren muss man allerdings noch ein gutes Stück über die Dammkrone und gewölbte Steinblöcke wandern, was ich mir mit meinen doch eher ungeeigneten Radschuhen verkneife. Der Dinosaurier am Col de la Gueulaz bleibt entsprechend meine einzige Begegnung mit den archaischen Wesen – immerhin durch seinen Helm ein offensichtlicher Vertreter der radelnden Dinosaurierfraktion.
37 Kehren auf einem alten Postkutschenweg
Wegen des eher ausgefallenen Essens am Vorabend genehmige ich mir eher ungewohnt zur Mittagszeit im mittlerweile stark frequentierten Emosson-Restaurant einen Teller Spaghetti Bolognese. Wohl auch für einen dinosaurischen Körnerverbrauch angemessen. Ungeachtet dessen rutsche ich die Route de la Cha mehr runter als dass ich die Kurven dort fahren kann. Ein mutiger Rennradler überholt mich noch auf der Strecke, muss dann aber auch an anderen Stellen so stark einbremsen, dass wir bald parallel fahren oder rutschen.
Nach dem Zwischenspiel über Salvan schlage ich schließlich den zweiten, eigentlich eindrucksvolleren Teil der ehemaligen Postkutschenrouten ein, die zwischen Salvan und Vernayaz unter dem Namen Route des Diligences beschrieben ist. 37 Kehren drehen sich hier auf einer schmalen Schotterpiste in den anliegenden Berg der Gorges du Trient, durch den sich auch atemberaubend die Mont-Blanc-Bahn bohrt – unverzichtbar hier mit Zahnradantrieb. Der Weg ist zumindest abwärts erstaunlich gut passierbar, wenngleich mir für einen Aufstieg mit Reiserad zu schwierig, mit Mountainbike und leichtem Gepäck hingegen schon gut machbar. Die Postkutschen vergangener Zeit können nicht sehr breit gewesen sein, ist der Weg doch deutlich schmaler als heute übliche Feld- oder Forstpisten für Traktoren & Co. Gebaut wurde die Trasse zwischen 1855 und 1867. Die ursprünglich 50 Kehren wurden im Zuge von Ausbesserungen verringert, um sie besser befahren zu können. Bereits 1908 löste die neue Mont-Blanc-Bahn zwischen Martigny und Chamonix allerdings den doch mühseligen Postkutschenverkehr weitgehend ab.
Nach dem Kurveneldorado besuche ich nochmal gerne den mir schon bekannten Pissevache-Wasserfall, dessen Schleier eine breite und dekorativ fragmentierte Fallstufe wie einen Theatervorhang vor die Felswand wirft. Etwas verirrt, da zeitweise nicht beide Rhoneufer befahrbar sind, erreiche ich wortwörtlich mit Pauken und Trompeten St-Maurice. Die Straßenband Look See Go mischt den Ort mit fetzigen Klängen zwischen Rockadaptionen, Guggenmusik und New-Orleans-Straßenjazz auf. Mit dem verschmitzten Augenzwinkern der Tenorsaxophonistin und im Turmschatten einer Pinocchio-Ausstellung verlasse ich doch sehr wehmütig das mittlerweile so ans Herz gewachsene Wallis zur anderen Rhoneseite in den Kanton Waadt.