Pilger in St-Jean-Pied-de-Port mit Regenponchos
Geschichten,  Pyrenäen

Die Nacht – ein dauernder Schrei

Es ist bitterkalt. Der Wind pfeift durch die Nebelwand, die dünnen Tröpchen verdichten sich zu einer klatschenden Dusche, die mich von der Seite trifft. Und doch atme ich für kurz auf. Das Geschrei bleibt hinter dem Holzgatter zum Hüttenraum zurück. Es ist wie eine kurze Gnade, die mir der Teufel einräumt. Ein kurzer Gang zur Toilette. Man muss heraus aus dem kargen Schlafraum ohne Betten und zur nächsten Tür hinein. Für die unbewirtete Schutzhütte ist der Sanitärraum recht nobel und sauber. Die Dusche recht modern. Es liegt sogar ein 50-Cent-Stück da für den Wanderer, der eine warme Dusche nehmen möchte. Es wundert, dass der Säufer die Münze nicht entwendet hat. Vielleicht hat er in seinem Rausch sie auch nicht bemerkt.

Ich überlege kurz, ob ich vielleicht meinen Schlafsack herübernehmen solle, mich auf den Klinkerboden zwischen Waschbecken und Toilette zu legen. Der Boden ist nicht ganz trocken, doch das könnte ich abdecken mit der Zeltunterlage. Nein, ich kann aus dem anderen Raum nicht raus, das Fahrrad muss ich mit meinem Gepäck im Auge halten und das Zelt außen aufbauen wäre zu mörderisch. Die Stangen würde mir der Wind aus den Händen reißen. Nichts würde beim Aufbau trocken bleiben. Ich bin ein Gefangener meines vermeintlichen Glücks. Dem Glück, im unbarmherzigen Pyrenäenwetter ein Dach und ein Essen gefunden zu haben. Die giftige Wolkensuppe sollte mich nicht mehr belasten. Und eigentlich bin ich an einem priviligierten Ort der schweigenden Einsamkeit. Ein Ort, an dem poetische Gedanken im Kopf fließen könnten. Doch davon bin ich weit entfernt. Die Posie ist ausgeschaltet. Es reicht, ein Mensch am falschen Ort. Es braucht nur wenige, den Frieden zu brechen, aber ungleich mmehr ihn wieder zu kitten. Das ist im Kleinen so wie im Großen.

Das Kribbelnkratzt immer mehr im Rachenraum, der Husten droht mich zu erfassen. Schon in Galicien hatte die atlantische Wetterküche immer wieder dichte Feuchtschleier über das Land geweht, oft musste ich mir die Küstenstreifen in meiner ahnungsvollen Fantasie ausmalen, wie es aussehen könnte. Da war es noch angenehmes Ozeanklima. Doch in Asturien und Kantabrien setzten sich auch kalte Luftmassen fest. Spanien lag bis über die sonst gefürchtet heiße Meseta hinaus nach Süden unter einem Wolkenband, das selten so den spanischen Norden so ausgreifend bis zur Landesmitte um Madrid überzieht.

Ich hatte nicht genügend auf meine Abwehrkräfte geachtet. Einige Nächte gingen mir verloren, weil ich unter freiem Himmel zu schlafen gedachte, aber durch Gewitter und Regen zu überstürzten Schlafabbrüchen führte. Einmal landete ich unter einem Vordach am Eingangsportal einer Schule. Spätestens auf der Abfahrt vom Puerto de Palombera nach Reinosa waren meine wehrhaften Oxidantien aufgebraucht. So hatte ich im strömenden Regen zur Nordseite des Passes noch spontan den Kaskaden applaudiert, die wie von einem Wasserspielearchitekten zu einem Ensemble von bestechender Schönheit angeordnet sind. Doch die Freude verzitterte ich mir im Schüttelfrost meiner durchnässten Klamotten. Allein die Finger froren bei einstelligen Temperaturwerten. Es fiel mir schwer, den Lenker noch gerade zu halten. Der Nässeschleier machte jeden Windzug um mehr als fünf Grad kälter.

Regenstraße Richtung Lac d''Iraty

So drängten sich mich noch weitere Tage in rheumatische Klimazonen. Im baskischen Leitza flog der Käse von meinem Brot, keine Ecke war zu finden, die windgeschützt genug gewesen wäre. Die aufkeimende Erkältung versuchte ich mit Apothekenmittel aus Elizondo zu besänftigen. Doch blieb der Erfolg aus, aber nicht die garstige Wetterfront. Nach der letzten Nacht sah ich in St-Jean-Pied-de-Port die Pilger in Regenponchos flüchtig um die Ecken huschen. Die Pflastergassen blieben klitschig und seltsam leer. Nur Regenschirme und Ponchos blieben verkäuflich. Immerhin hatte ich mich bis zum Lac d’Iraty durchgekämpft. Die Gicht tropfte immer wieder über meine Augenbrauen. Die Zunge schmeckt noch das Salz der Biskaya.

Im gemütlichen Bistro nur zweihundert Meter entfernt hatte ich den Regen schon beim Kaffee ausgesessen. Doch ausgessen ist falsch formuliert. Der Tag endete noch bevor der Abend angefangen hatte. Zwei Segway-Reisende, einer davon behindert, hatten ihre Akkus im Bistro aufgeladen und sind in die Regenwand noch hinaufgefahren, weil sie zur anderen Seite in Larrau ein Hotel gebucht hatten. Wenn man nur vom Motor getrieben auf einem Brett steht, lässt sich solche Witterung noch eher ertragen. Aber stundenlang die Pedalen in einer Gicht zu treten würde an einen Schaufelraddampfer erinnern, der in hohe See gerät.

Segway-Fahrer in den regnerischen Pyrenäen, Iraty

Und so begann die Tragik eher unscheinbar, als das Bistro geschlossen hatte: Ein breiter, großer Mann strebt vom See her auf mich und das Bistro zu. Dünn bekleidet, offene Sandalen, ziemlich lumpig, mit Zigarette, wandelt er ruhigen Schrittes durch die kalte und stark windige Luft, durch den peitschenden Regen. Geradezu gemütlich. Hat der Mann keine Nerven? – Er frägt mich, ob das Bistro offen ist, sieht ja eigentlich, dass zu ist. „Nein, es ist geschlossen, war aber auf bis vor einer Stunde“, bemerke ich in meinem dürftigen Französisch. Er wiederholt das noch zweimal, nuschelt etwas in den Bart, geht wieder zurück, ebenso unbenommen und ruhig wie zuvor. Es schien nicht von Bedeutung zu sein. Ich irrte.

„Ich gehe jetzt wieder daraus“, ermutigte ich mich, um nicht auf der Klobrille einzudösen. Er wird ja nicht die ganze Nacht schreien können. Das denke ich, obwohl ich schon im Ansatz des Gedankens daran zweifle. Ich komme zum Schuppengatter, das von außen mit einem Stein beschwert werden muss, damit der Wind es nicht plötzlich aufreißt. Wird der Besoffene mich wieder reinlassen? Hat er vielleicht die verbarrikadiert? Ich zittere – was wäre wenn nicht. Würde mir der Ire helfen?

Ich rüttle an der Tür. Mürrisch hat der verwahrloste Franzose wohl den Schlicßbalken beiseite geräumt. Oder gar nicht erst vor die Tür geschoben. Dann droht er mir mit dem Gemisch aus Französich und ein paar Brocken Englisch oder sogar Deutsch, mich nicht mehr reinzulassen. Aber ich stehe bereits wieder auf der dem Schotterboden des Hüttenraumes. Das Teelicht brennt weiter, erneut schüttet er aus einem 5-Liter-Weinkanister einen Schluck hinunter. Er hätte schon genügend Alkohol im Blutspiegel um den ganzen nächsten Tag noch im Rausch zu verbleiben.

Zurück in meiner Schlafecke auf den Holzpaneelen, fühlt sich der Obachlose erneut herausgefordert, mir Angst einzujagen. Er schimpft das bereits bekannte Programm herunter, die Stimme mal laut erhebend, dann bis ins Flüstern hinein zurückfallend. Ich verstehe immer so etwas wie, „da kommt der Deutsche hierher, mit dem Rad, und nimmt mir mein Quartier weg“. Er droht ständig, mich rauszuscheißen. Doch ist er wohl zu wirr, dass ernst zu meinen. Auf dem Tisch sitzend schweifen sein vor Wut glühenden Augen über den mit Flaschen und Tütenresten überhäuften Tisch. Dann wendet er sich auch mal wieder dem Iren zu. Schließlich fällt er wieder in ausgedehnte Monologe eines Selbstgesprächs, jäh unterbrochen von einem Crescendo von Brüllen mit Zornesröte.

„Shut up!“ ruft erneut der Ire aus seiner Schlafecke energisch, ein Wanderer, den ich bereits zuvor im familiären Restaurant zwischen Bistro und dieser Hütte getroffen hatte. Ich hatte mit einer gewissen Freude von ihm vernommen, dass er auch in der Hütte sein wird. Doch wusste ich ja noch nichts von dem unfreudigen Zustand im Refugio. Nur fühlte ich mich sicher, dass die Hütte auch offiziell für Wanderer und andere Vagabunden der Berge gedacht war. Aber eben nicht als Wohnort für einen Obdachlose.

Ich zerbrach mir immer wieder den Kopf, wie der stämmige Wuschelkopf den Weg überhaupt in die Berge hat finden könne. Er war ja auf das Pyrenäenbergwetter mit seiner Kleidung in keiner Weise vorbereitet. Das musste er wohl auch nicht, wenn er Flasche um Flasche leerte. Dann schreit er wieder laut, lässt meinen Gedanken keinen Raum. Ich spüre nur ein Zittern am Leib – und es ist nicht die Kälte. Es ist, weil ich verzweifle, weil ich merke, das meine Kräfte weiter erliegen, der Husten sich ohne Gegenwehr weiter ausbreiten kann. Es ist, weil ich Angst verspüre, Angst, die ich nicht beschreiben kann – nur das Beben der Stimme des Franzosen grollt in meinen Ohren.

Es ist weniger der Alkohol als das ständige Rauchen, dass mir zur Last wird. Zug um Zug raucht er seine Stengel herunter. Kaum ist die alte Fluppe zur Kippe geschrumpft, dreht er den Tabak zur nächsten Rolle. Pausierr er mal, flackert er mit dem Feuerzeug herum. Es wundert mich, dass er seine Hände noch beherrschen kann. Dann schreit er weiter, der Ire hat seinen Widerstand aufgegeben. Er scheint gelassener zu sein, offensichtlich Schlaf gefunden zu haben. Ich kann nicht schlafen. Ich höre in den Schreien immer wieder die Vorwürfe, den Zorn, die drei Sprachen vermischt, rieche den Rauch, sehe den Kerzenschimmer zwischen den Flaschen lodern. Traum oder Wirklichkei?. Ich sehe nur, der Film hat kein Ende.

Lac d'Iraty im Regen

Es ist nun Morgengrauen geworden, um den Schlaf geraubt. Der Franzose spult sein aufbrandendes und wieder abebbendes Geräuspere weiter ab, ein wenig schwächer scheint seine Stimme geworden. Ich drehte hinaus in den feuchtnassen Morgenschleier, ein paar Wohnmobile stehen in der Nähe des Sees. Sie haben von dieser Nacht wohl nichts mitbekommen. In den Pyrneäen verenden die Schreie schnell, wenn die Berge in die atlantischen Wolkenschleier einteilen. Die Wolken beginnen hier schon an der Küste und schlucken die Geräusche auf als wäre Himmel und Erde ein einziger ein Schwamm. Es ist eine magische Stille, nur wenige Meter von der Hütte entfernt. Es ist ein Morgen ohne ein Nacht zuvor.

Ich müsste jetzt zusammenfallen vor Müdigkeit, aber ich strahle vor Freude. Es ist vorbei. Die Nacht der Schreie. Die Nacht von Rauch und Alkoholdunst. Die Nacht des Franzosen, der hier sein Revier zu verteidigen suchte, als gehöre ihm allein das schützenden Dach. Es war nicht das Iraty, dass glaube ich zu empfinden, wenn ich an den Buchenwäldern vorbeigleite, wenn ich die anderen Menschen treffe. Ich bin wütend über die Nacht, den Penner, aber ich spüre eine selstsame Verbundeheit mit dem Ort. Noch ahne ich nicht, dass ich an selbigen Ort zurckkehren werde, um Jahre später. Nicht ahne ich, dass mich Iraty oder auch das spanische Irati mit Glückshormonen überfüllen wird, geistige Heimat für meinen Pedalgeist werden sollte.

Die Tour endet später am Mittelmeer an der sonnigen Côte Vermeille in Cerbère und ich verdrückte ein paar Tränen, als sich eine Möwe neben mich setzte, bevor in ich in den Zug Richtung Heimat einstieg. Ich kam an die Grenzen des Machbaren, war wohl nahe einer Lungenentzündung, überfuhr den Tourmalet mit bestialischen Hustenfällen. Der Pamplonaer Baske Xibi, auch ein Reiseradler, der mich hinaufbegleitete, wollte nicht glauben, dass ich auf dem Rad sitzen blieb und die Tour weiterfahren wollte. Es war vielleicht nicht vernüftig. Ich schrie am Col de Pailhères ob der Kälte, dass ich die Kinder im Talort nach der Abfahrt erschrak. Und doch wandelte sich mein Kampf in ein Lächeln, als ich die Kraft der Sonne wieder spürte. Die salzige Meerluft ölte meine Bronchien und ich begann die Rückreise zu fürchten. Gerade hatte ich angefangen, Wurzeln zu schlagen.

Ich sprach es wohl nicht aus, aber handelte wohl mit der Möwe von Cerbère ein Versprechen aus. Das Versprechen wiederzukehren. Noch begann jede Wiederkehr an den Pyrenäenrändern mit einem schreienden Gruß einer Möwe. Es ist, als wollte ich weinen – aus Freude, aus Freundschaft. Die Schreie der Nacht haben sich eingefräst, aber sie haben ihr Gesicht verändert. Iraty ist ein bisschen zu meiner Heimat geworden. Davon erzählen mal ein paar fallende Buchenblätter oder aus Luft heruntersegelnde Vogelfedern. Nichts fällt zufällig vom Himmel. Allen Dingen wohnt ein Geist inne.

Logo Schreibfeder, Pedal mitAugen, Rad, weißer Hintergrund

Gedicht „Iraty – Irati“

Gedicht „Botschaft einer Möwe“

Die Tour zur Geschichte: „Vuelta Verde“

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