ALP-2020-RA-0
Die Rätischen Alpen mit Glarner Bergblick zwischen Bodensee und Valtellina feat. Bündner Bahnviadukte
16.-29.7.2020 | 14 Tage (davon 1. Tag nur Abend)
815 km | 58 km/d
18290 Hm | 1306 Hm/d | 2244 Hm/100 km (barometrisch gemessen)
Digitrack auf AllTrails (am PC nachgebaut, keine Navi-Aufzeichnung!)
Grenzerfahrung und Grenzblicke, ein paar Tränen wert: Die Rätischen Alpen
Die wohl schon lang angedachte Tour verlängerte ich peu à peu um ein paar Tage mehr als geplant für letztlich zwei berauschende Wochen. Im Gegensatz dazu wähne ich mich schon am Anfang am Abbruch der Reise, denn ich tappe in ein paar Missgeschicke, die etwas mysteriös und rätselhaft bleiben. Ein Wink des Schicksals? Doch da ist auch noch der andere Teil des Ichs, der Kämpfer gegen schier unüberwindliche Hürden, in körperlicher Grenzerfahrung nicht ohne Triumpfe. Und die Belohnungen saugen sich in mein Gedächtnis: Augenglücke der Bergwelten, Farben und Horizonte, Spielwiesen aus Natur und Kulturlandschaften, ein Echo der archaischen Gesteine und Gletscher. Rauschende Stille, Geläut der Almwelten, Streicheln der kalten Bergbäche. Liebe Menschen, die mir Kraft geben, mein Lebensgefühl wecken. Bestaunt ob der Torturen, herzlich gegrüßt ob des Velos der Sympathie. Beschenkt in all meiner Schüchternheit. Ein Erleben der Sinneswelten unter Sonne und Wolkenbrüchen, ein Kaleidoskop für die Empfindungen der nackten Haut. Arm wie reich in einem reichen Land. Ich lade euch ein in erneut faszinierende Bergwelten!
Orografisches Alpenlatein zur konfusen Orientierung
Gewiss, die Alpensystematik ist ein Tummelplatz von pedantischen Geowissenschaftlern und eitlen Regionalpatrioten. Genau deswegen sagt es aber auch etwas über kulturelle Identität aus. In der international häufigsten Zweiteilung der Alpen in West und Ost bewege ich mich auf dieser Tour unglücklich in beiden Teilen. Unglücklich deswegen, da der eigentliche Schwerpunkt der Rätischen Alpen (auch: Rhätische Alpen, Alps Reticas) komplett zu den Ostalpen zählt, nicht aber der gewichtige Auftakt im Kanton St. Gallen, der in das Gebiet der Glarner Alpen reicht, obwohl der kleine Kanton Glarus erst weithin westlicher die Regentschaft übernimmt. (Die West-/Ostalpengrenze, wird durch Alpen-/Hinterrhein mit Splügenpass und Comersee definiert.)
In der alternativen Dreiteilung der Alpen in West-, Zentral- und Ostalpen bleibt diese Tour hingegen ein Einzelkind der Zentralalpen. Insbesondere die Schweizer mögen die Zuordnung Ostalpen für „ihre“ Bündner Alpen, wie die Rätischen Alpen dort auch heißen, nicht so gerne. Der Eidgenosse betrachtet sich lieber geeint in den Westalpen – vielleicht auch eine Folge von ehemals verhasster Habsburger Fremdherrschaft, die ja aus dem Osten kam. Dabei wird gern vergessen, welche Zwietracht manche Kantonsgrenze die Schweizer selbst spaltet, so wie ich über den Streit um den Standort des nationalen Morgarten-Denkmals notierte (vgl. ALP-2019-2 Sieben-Seen-Tour in der erweiterten Züri-Region). Die Geografen mit dem Siegel der internationalen Alpenkonvention haben sich indes von den historischen, soziogeografischen Einteilungen der Alpen verabschiedet, so auch von den Rätischen Alpen. Vielmehr spricht man dort von den rein orografisch definierten „Zentralen Ostalpen“.
Dieser Einteilung zufolge würde aber wiederum das Rätikon zum Opfer fallen, die nördlichste Gruppe der Rätischen Alpen östlich vom Alpenrhein u. a. um Liechtenstein und Heidiland, was das letzte Kernelement meiner Tour umschreibt. So finde ich meine Tour mit „Rätische Alpen“ immer noch am besten charakterisiert. Den Abschluss in Vorarlberg darf ich als Rückreise-Zugabe vernachlässigen. Nur damit es nicht missverstanden wird, die Rätischen Alpen reichen nicht bis zum Bodensee, im Süden aber sehr wohl ins Valtellina. Schließlich ragt zu Anfang nach den Glarner Alpen noch eine Ecke der Westalpen als Lepontinische Alpen herein, obwohl schon Kanton Graubünden und daher im Zweifel auch „Bündner Alpen“. Dieser Teil, von mir mit „Almen über Vater Rhein“ betitelt, ist gleichwohl auch ein Aussichtsbalkon auf die Glarner Alpen, soweit man sich auf dem Kamm oder nördlich davon bewegt und damit nach Norden über das Vorderrheintal schaut. Soweit das kleine Verwirrspiel der Alpensystematiker.
Besondere Welten – auch eine Themenreise
Mit dem Velo radelt es sich schön und gedankenfrei durch große Natur. In Dörfern und Städten begegnet man mancher Kultur, ohne jedoch daraus eine Kulturreise zu machen. Der Radalltag führt immer wieder zu Unverträglichkeiten, sich allen interessanten Kultur- und Naturphänomenen an der Strecke zu widmen. Wie auf jeder Reise stoße ich jedoch auf zufällige Kulturmomente, obwohl nur flüchtig beachtet, durchaus Eindruck hinterlassen. Zu solch spontanen Diskursen gehörten die Kunstwege/Vias d’Art Pontresina 2020, aber auch Friedrich Hölderlins Schweizreise, die über Scardanal (Bonaduz) verlaufen sein könnte und ich gar einen Hölderlin-Chronisten auf einer einsamen Alm traf.
Immer auch setze ich gerne Themen, die mich auf der Reise leiten. Was daraus wird, ist indes offen und birgt manch weitere Überraschung. Geplant hatte ich zwar, ein paar schöne Bilder von Engadinerhäusern zu machen, konnte jedoch nicht ahnen, dass es mir schließlich sogar ein eigenes Sonderthema wert wurde (Das Engadinerhaus – mehr als eine kunstvolle Heimstatt). Das Kernthema der Reise, die Bündner Bahnviadukte, bildeten etwa den erwarteten Rahmen ab, ohne dass ich tiefer in die Bahnhistorie eindringen möchte. Positiv überraschte mich der Radweg der Zügenschlucht, der anders als der Name sagt, eine ehemalige Handelsstraße beschreibt, aber sehr wohl eine gewichtige Bahntrasse im Landwassertal quert.
Die glazialen Urwelten, weitgehend mit Fokus auf den Morteratsch-Gletscher, entglitten mir etwas durch die Wetterumstände, sodass ich mich damit mehr nach als auf der Reise beschäftigt habe. Kürzen musste ich auch die Verweildauer vor der Kulisse der Tektonikarena Sardona, weil ich das Sardonatal nicht wie geplant ausfahren konnte. Dass der Radler oft zur falschen Zeit am richtigen Ort steht, bestätigte sich bei der Fahrt in die Taminaschlucht, da ich das Eintrittstor am Alten Bad Pfäfers mit der Kernschlucht zu spät erreichte, nachdem ich sowohl einen körperlichen wie einen radmechanischen Schaden am selben und bereits ersten Tag erlitten hatte.
Unter den Offroad-Herausforderungen, die ich mir gestellt hatte, gab es Licht und Schatten. Alle Erwartungen an Bergblumenwelten und archaische Arvenwälder wurden dabei erfüllt. Das Naturerlebnis in der Nordwestecke im Nationalpark Stilfserjoch war ebenso nachhaltig wie im Schweizer Anschluss am Rande des dortigen Nationalparks und der Biosfera Val Müstair. Indes erreichte ich die Grenze meiner körperlichen Fähigkeiten auf allen Routen in den Livigno-Alpen rundum das Valle di Fraéle und am Costainaspass. Ebenso bestätigt sich, dass auch die angeblich besser ausgebauten Montainbikerouten letztlich nicht reiseradtauglich sind und daher von mir nur unter erheblichen Qualen zu bewältigen waren, wobei ich das Velo immer wieder über schwierigste Passagen schieben musste. Mit Respekt vor den Wegen habe ich auch einigen geplanten Routen in Vorarlberg abgeschworen, sodass der Aufstieg Ebnit von Hohenems über Gsohlalpe ebenso gescheitert ist wie eine Abfahrt ins Gamperdonatal (Nenzinger Himmel) vom liechtensteinischen Bettlerjoch (Pfälzerhütte). Damit blieb ich im Rätikon eher am Rande, sodass die südöstliche Ecke der Rätischen Alpen mit dem Montafon auf dieser Tour gänzlich entfallen musste.
Weint der Himmel wegen Corona?
Die Wolkendecke senkt sich mit jedem Bahnkilometer mehr nach Süden tiefer und dunkler. Lange waren die Tage hochsommerlich, jetzt der Einbruch. Als der Zug am Zürichsee aus dem Tunnel auftaucht, sehe ich die Wirkung der Berge: Sie sammeln die Wolken ein, stauen sich auf und spenden reichlich Lebenswasser. Es sollte für den ganzen Sommer gelten, dass die Berge recht viel davon abbekamen, während die flacheren Landmassen im Norden vor Trockenheit jammerten. Natürlich projiziert man dieses Gut Wasser gerne negativ auf sich selbst: Warum muss es ausgerechnet jetzt sein, wo ich mir ein paar Austage gönne? Warum ausgerechnet schon wieder ich, der schon so viele unerfreuliche Zeiten erlebt? Oder soll hier die Coronazeit vom Himmel beweint werden?
Corona beschäftigt die Schweizer weniger als die Deutschen. Die meisten Schutzmaßnahmen werden empfohlen. Vorgeschrieben ist Maskenpflicht nur in Zügen und Bussen. Läuft man durch den Zürcher Hauptbahnhof, merkt man davon nichts. Viele ziehen die Maske erst irgendwann im Zug an, im Zweifel auch nur halb. Ausgerechnet die disziplinierten Schweizer. Aber: Eben, genau die Schweizer, ein Volk der besonderen, gelebten Freiheit, ein Volk mit dem Mythos Wilhelm Tell, das sich nur wenig vorschreiben lässt. Das Volk ist hier der Souverän. Schlecht für Oberlehrer, schlecht auch für angeordnete Vernunft. Doch was ist Vernunft? Die Corona-Verläufe lassen keine Rückschlüsse zu, dass drastische Einschränkungen besser wirken als weniger strenge. Auch die Maskenwirkung bleibt umstritten, obwohl schon vielerorten als allheilendes Dogma gepredigt. Aber es ist die fast einzige sichtbare Beruhigungsformel für ein recht unberechenbares Virus, das die Menschen zu schwierigen Entscheidungen zwingt, für die es keine einseitige Moral oder Rechtfertigung gibt.
Für meine Reise bleibt Corona bedeutungslos im Hintergrund. In der Schweiz und in Liechtenstein brauche ich mein Maskentuch nicht mehr nach dem Ausstieg in Ziegelbrücke. Bei den Grenzübertritten nach Italien und Österreich werde ich wieder dran erinnert, aber tatsächlich zeigt sich, dass das Verhalten ausschlaggebend ist und nicht die Vorschrift. Disziplin wirkt produktiv als Charaktereigenschaft, als Vorschrift gängelt sie, lähmt und setzt Widerstand frei.
Die Tourkapitel
Sonderthema zur Tour
Das Engadinerhaus – mehr als eine kunstvolle Heimstatt