ALP-2020-RA-1
Seeschönheiten, Wasserfallgiganten, Felsenbad, verschobene Berge und Almen über Vater Rhein: Im Glarner Alpenblick
Inhalt
- Walensee & Chapfensee – immer frisch geduscht mit unglücklichen Nebenwirkungen
- Taminatal mit Tektonikarena Sardona
- Almen über Vater Rhein – poetische Heimat-Verbindungen
Walensee & Chapfensee – immer frisch geduscht mit unglücklichen Nebenwirkungen
Do 16.7. Stuttgart 13:16 h || per Bahn || 17:25 h Ziegelbrücke (424 m) – Weesen – Betlis (~530 m, Exkursion Ringquelle, Seerenbachfälle) – Weesen (425 m) – Gäsi – via Walensee-Radweg – Radwegüberhöhung über Standenhorntunnel (~595 m) – Kerenzen-Mühlehorn – Murg – Unterterzen – Mols – Walenstadt (424 m)
45 km | 385 Hm
Wilde Wasserromantik, auch unterirdisch
Der Startpunkt der Reise ist mir nicht neu. Doch reißt mich das Band des Linthkanals in die intensivste Unterwelt seiner Seespeisung, ein wenig schicksalsergeben – mindestens so düster über dem Seespiegel wie ein Taucher vom Grunde berichten würde. So kämpfe ich auch um die Gnade des Himmels, den es eigentlich an solchen Tagen gar nicht gibt. Gerade mal ein Jahr zuvor erlebte ich den Walensee in morgendlicher, frühsommerlicher Sonnenpracht. Ich berichtete davon natürlich auch, vgl. ALP-2019-1 Panoramatour zwischen Säntis, Glarner Alpen und Tössbergland.
Die Wolken wissen sich in Szene zu setzen. Es sind dauerhafte Tränen, die mich in Ziegelbrücke empfangen. Und sie weinen die ganze Nacht. Mit dem Regen und tiefhängenden Wolken erhält die Uferstraße zwischen Weesen und Betlis eine noch wildere Romantik als ohnehin schon. Die Straße ist hart dem Fels abgerungen, der sich manchmal über den Kopf biegt oder in den man ganz hineintaucht mit mehreren kleinen Tunnels. Rau kraulen die Wellen die Seeoberfläche, während die klitschigen Felswände fast zu Spiegelflächen werden, über die zusätzliches Bergwasser sprießt. Nicht einmal Möwen wagen mich zu grüßen. Die Dunkelheit hat sich weit vor der Nacht verfangen.
Die Uferstraße endet noch vor dem letzten Anlegesteg für das Schiff. Dann ist Ende auch für Velo. Hier wie zuvor finden sich einige schöne Badebuchten. Aber baden ist jetzt einfacher auf dem Sattel. Zu dem verstreuten Weiler Betlis, der sich samt Kapelle auf einem gewölbten Hügel über dem See erhebt, führt ein Abzweig aufwärts. Leicht unterhalb der Straße winkt die unscheinbare Burgruine Strahlegg um Beachtung. Im nahegelegenen Gasthof rechnet wohl niemand mehr mit Gästen, alles scheint geschlossen. Umso mehr überrascht mich, dass bei den Wasserfällen ein Zeltlager aufgebaut ist, deren Teilnehmer gerade wohl Hüttenmahlzeit nehmen.
Betrachtet man die Seerenbachfälle, so scheint das ein einziger Wasserfall zu sein, näher betrachtet ein dreistufiger. Doch täuscht die ferne Perspektive, denn es sind zwei getrennte Schüttungen. Die Seerenbachfälle bilden die langen Strahle, während zuunterst von der Seite ein breiterer Strahl die Wassermenge deutlich erhöht. Auch seine Höhe ist beachtlich. Die Luft besteht aus einem Sprühnebel, der feiner ist als die untergemischten Regenfäden. Ein Donnern schluckt alle Geräusche und fast sogar die Gedanken. Das Besondere ist jedoch, dass der untere Seitenwasserfall eine mächtige Karstquelle ist – die Ringquelle. Hinter ihr verbirgt sich sogar eine Wasserhöhle. Forschungstaucher ermittelten erst spät in den 1970er Jahren eine Länge von 930 Metern.
Nachtradler oder Nachtschwimmer?
Bei heiterem Sommerwetter laden Strandnischen auch zur Nordostuferseite ein, wo auch der Camping Gäsi liegt – weniger steinig, mehr Sand. Nachdem ich mich in der Brasserie du Lac in Weesen etwas getrocknet und gestärkt habe, fühle ich mich genügend wach und mutig, dem Regen noch etwas zu trotzen und die Nacht zu fahren. Das Essen war ein bisschen freudlos wie das Wetter, für Schweizer Verhältnisse günstig, jedoch fehlten dem Coq au vin ebenso wie den Rahmkartoffeln Geschmack und Würze. Und: Warum wird zu schwimmenden Saucen kein Stück Brot zum Tunken gereicht?
Weiter östlich lehnt sich der Radweg teils kühn über den See oder verschwindet gar ganz in einem separaten Tunnel nebst der Straßenröhre. Noch ein Radler hat der Regen zugesetzt, der wohl übermüdet in einem Galeriebogen vor der Nässe kapituliert hat. Bei einem verfallenen Restaurant steigt der Radweg weit über die Straße, die am See verbleibt, und sich schon fast in den Berg hineinbohrt. Man macht dabei um die 150 Höhenmeter, bevor eine große Kehre den Abschwung nach Mühlehorn zum See einleitet. Campieren ist nun nahezu nicht mehr möglich, dicht reichen Besiedlung oder Verkehrswege ans Ufer. So erreiche ich nass wie müde Walenstadt, ignoriere den Camping, dessen Tor geschlossen sein dürfte.
Langsam ermatten meine Abwehrkräfte. Ich will nur noch zusammensinken und schlafen. Doch wo soll das sein? Eigentlich finde ich eine Uferwiese mit unbewohntem Militärschuppen dahinter. Immer wieder suche ich die Dachvorsprünge. Doch sie halten nur eine Stehfläche trocken. Ich hätte ein wenig weiter Richtung Strandbad fahren sollen. Aber ich werde mutlos und gedankenfaul, die Augen flimmern. Schließlich stelle ich mein Zelt im Regen auf der übernassen Wiesen- und Kiesfläche auf. Der Zeltboden hält trotz Footprint nicht dicht, wie ich am Morgen feststellen muss. Doch das scheint nebensächlich ob des nächsten Missgeschicks.
Der Walensee bildete einst eine Sprach- und Kulturgrenze zwischen den Welschen (Rätoromanen) und Alemannen, die nur über den See überwunden werden konnte. Die Alemannen in Weesen verstanden die Welschen (die Unverständlichen, Andersartigen) in „Ripa/Riva“ nicht und nannten den Ort daher Vualahastade. Daraus wurde Vualastad, Wallastatt, Wallenstadt und erst Mitte des 20. Jahrunderts Walenstadt.
Fr 17.7. Walenstadt – Flums – Portels – via Geisswiesenstraße/Mädens Vorsäss – Chapfensee (1044 m, Parkplatz Alpe/Parmort) – Mels – Sargans/Sarganser Sattel (497 m) – via Rationenstraße (teils Piste) – Saarfall – via Piste – Buelfall – Bad Ragaz – Taminaschlucht (Badtobelweg) – Altes Bad Pfäfers (698 m) – Bad Ragaz, Brücke Taminaschlucht (525 m) – Pfäfers (820 m)
54 km | 1250 Hm
Ein Fingerschnipp ins Unglück?
Vielleicht lag es an der kurzen Nacht, dem geschwächten, noch trägen Körper. Vielleicht lag es an den schrumpeligen Regenhänden oder aber auch an den etwas arg engen Radhandschuhen. Ich schnippe eine Schnecke von der Zeltplane und sofort schnappt in der Hand eine Fingersehne, ein Muskel aus seiner Bahn. Ausgekugelt? – mir wird kurz schlecht. Die Stelle entzündet sich, wird rot. Ich suche am Tage immer wieder kaltes Brunnenwasser zur Kühlung. Die Krux ist, dass einfachste Fingerbewegungen ein Springen, ein Verkrampfen auslösen.
Ich mache mir Gedanken, die Reise abzubrechen. Doch aufgeben gehört nicht zu meinen Eigenschaften. So geht zwar die Entzündung an den nächsten Tagen zurück, jedoch blieb das System labil. Letztlich bekam ich selbst vom Orthopäden zwei Wochen später keine rechte Diagnose und wurde mit Antibiotika abgefertigt. Wenn auch abgemildert, ist das Übel immer noch nicht beseitigt. Ein anderer Orthopäde machte wenigstens mal ein Röntgenbild, aber er diagnostizierte auch nur Distorsion des Mittelfingers und verordnete ebenso nur Ausheilzeit. Was ein Fingerschnippen auslösen kann!
So gelitten, befreien sich die Wolken langsam vom Regen, bleiben aber tief hängen, stimmen den See geheimnisvoll und schweigend. In den komfortablen Sanitäranlagen am Strandbad kann ich ein paar Sachen trocknen. Richtung Stadt gesellt sich ein Radler an meine Seite und berichtet jüngst von München nach Berlin geradelt zu sein. Er möchte mich dazu bewegen, in den Pflegedienst zu treten. Doch sein Einstiegsmodell wird man mir in Deutschland nicht anbieten.
Was ist Flumserei?
Ich wundere mich über die hoch auf einem Felsen gelegene St.-Georgs-Kapelle von Berschis, als hätte ich diese Talkluse nie gesehen. Das Gedächtnis ist doch ein schwacher Hort für Erinnerungen. Hier verlasse ich die verkehrsreiche Sattelebene nach Sargans zum Rand hin nach Flums. Dort gibts ein großes Industriegebäude mit dem lustigen Namen: „Flumserei“. Nun, logisch vom Ortsnamen abgeleitet, aber was verbirgt sich dahinter? Die Recherche ergibt, dass die ehemalige Spinnerei zu einem Multifunktionsgebäude umgestaltet wird mit Wohnungen, Büro- und Gewerbebetrieben, Freizeiteinrichtungen, Gastronomie, Kulturstätten, Spielgelegenheiten oder auch Denkräumen, wie die Website das Projekt bewirbt.
Ganz unbedacht stürzt hingegen braunes Wasser zu Tal – die Regenfälle des Vortags haben die Bergbäche anschwellen lassen. Die Fahrt zum Chapfensee verläuft auf der weniger dicht besiedelten östlichen Seite des Flumserbergs. Die Hänge sind immer wieder quer von verschiedenen Fahrwegen durchzogen, Häuser streuen sich recht ungeordnet am Berg, nach oben mehr als weiter unten. Mit dem Abzweig der Geisswiesenstraße dünnt die Besiedlung aus und Haine wechseln mit Felsblöcken und Blumenwiesen, bis dichter Wald die Sicht beschneidet, die sich erst wieder mit einem Weiler beim Parkplatz zum Chapfensee öffnet – wären die Wolken nicht da. Der kurze Weg zum Chapfensee führt ein wenig runter, teils über verschlammte Piste. Am Stausee trägt nur noch ein Fußpfad weiter.
Mühsam lugt nun auch die Sonne mal aus den Wolkenschwaden vor, sodass es mal windig kühl und dann gleich wieder schwülwarm wird. Dem See selbst fehlt gerade die Kulisse, nur ein paar Ziegen zeugen von romantischer Bergwelt. Ich philosophiere mit einem Angler aus Zürich über die Zerwürfnisse der ungleichen Wohlstandsverhältnisse der Zeit. Die Schweiz ist da nicht verschieden von Deutschland und anderen Ländern der Welt. Indessen drängt mich unphilosophische Eile, hat mich doch ein neues Malheur erwischt.
Ein Pech kommt selten allein
Die Schaltung an den vorderen Zahnkränzen streikt und es lässt sich nur noch das kleinste Blatt fahren. Das ist zunächst nicht aufgefallen, weil ich ja fast ausschließlich recht steil bergauf unterwegs war. Da Korrekturen über die Zugspannungsschraube keinen Erfolg bringen, bin ich auf Hilfe eines Radmechanikers angewiesen. Ich sehe ein weiteres Himmelszeichen, das mir droht, die Reise abzubrechen. Ausgerechnet in der teuren Schweiz auch noch eine Fahrradreparatur. Doch bald zeigte sich, dass weniger das Geld (er bekam 15 SFR) als die Qualität der Radmechaniker ein Problem ist.
Die Abfahrtsseite im Osten zeigt sich ähnlich wie die Westseite, wenngleich weniger besiedelt. Ein weites Panorama öffnet sich dann mit der Siedlungsachse um Sargans, am Bergrand versammeln sich die lieblichen Rebenhänge von Mels – Weinland Schweiz, nicht immer bekannt. Gleich dort kann ich eine Radwerkstatt aufspüren. Von den zwei Betreibern scheint einer Techniklaie zu sein. Der andere macht sich an die Arbeit, kann aber keine Diagnose liefern. Zunächst funktioniert die Schaltung wieder, sorgt aber bald für arge Schleifgeräusche in vielen Gänge. Als ich nächsten Tags frühstücken möchte, ist wieder alles verstellt. Nach vielen Versuchen mit Einstellschraube und Zugspannungsschraube kann ich zwar wieder schalten, doch schleift die Kette weiterhin. Das System bleibt instabil. Fast immer muss ich nachjustieren und am übernächsten Tag bleibt der Umwerfer unwirsch trotzig. Die Sache sollte sich aber noch mysteriöser weiterentwickeln.