ALP-2021-TdS-08
Der Lago Maggiore mit dem Hinterland der Varese-Region
Varese solo per carta geografica
Der Ausblick auf den doch sehr flach eingebundenen Lago di Varese bestärkte mich darin, den See nicht zu umrunden. Ein Missgeschick brachte mich dann aber doch noch immerhin in die Innenstadt von Varese. Ich verlor meine ohnehin nicht so präzise Karte zur Region und beschloss daher einen entsprechenden Buchladen aufzusuchen. Von Fogliaro ist man zwar schnell in Varese, die Cityausschilderung aber nicht ganz übersichtlich. Mit etwas Glück finde ich aber doch zielstrebig hinein und ein Polizist weiß mir gleich einen Buchladen zu zeigen. Den Landkartenausflug bezahlte ich mal wieder mit einer neuen Portion Regen, der gleich in Varese begann. Das schmälerte mein Interesse gänzlich, mich mit Bauwerken oder Stadtleben in Varese zu beschäftigen.
Geheimnisvolles und Grausames aus dem Valganna
Nur einen Vorort unterhalb von Fogliaro, also fast wieder zurück vom Ausgangspunkt zum Campo dei Fiori, zweigt in Robarello eine wellige Strecke zum Valganna (Gemeinde- und Talname) ab. Dem wechselnden Regeneintrag fügt sich bestens die Cascata della Valganna ein, dessen Wasserschleier eine breiten Strähnenhaube bildet, unter der man trocken bleibend herlaufen kann. Durch den ausfallenden porösen Kalkstein aus dem karstigen Campo dei Fiori kommt es zu Travertinablagerungen und ist zugleich Erklärung für die direkt anliegende, mehrstöckige Höhlenbildung. Der Wasserfall als solcher wurde allerdings im frühen 20. Jahrhundert von Menschenhand geschaffen um Quellwasser besser entnehmen zu können.
Das Valganna bildet die Ostgrenze des Naturparks Campo dei Fiori, wo sich mehrere Feuchtgebiete aneinanderreihen. Bei der kleinen Kapelle San Gemolo finde ich eine überdachte Beobachtungsplattform zu einem Teichbiotop. Der Unterstand ist bei der immer noch wechselhaft regnerischen Witterung ein guter Platz ohne Zelt zu lagern, soweit ich mich mit meinen Vorräten bescheiden möchte. Der erwartbare Camping am Lago di Ghirla ist noch eine Ecke weit weg. Zwar kommt ein Polizist zur Kontrolle, lässt mich aber für die Nacht gewähren. Gefährlich könnte es ja hier sein, denn die Legende vom San Gemolo erzählt, dass dieser als junger Diakon auf einer Pilgerreise nach Rom von Banditen enthauptet wurde und dessen Kopf von einem jungen Reiter ins Valganna gebracht wurde – genau dort in Ganna, wo Ende des 11. Jahrhunderts das Kloster Badia di San Gemolo gegründet wurde.
(Mi, 23.6.) Capella di San Gemolo (Ganna) – Ganna – via Radroute Lago di Ghirla (Westufer) – Ghirla – Cugliate-Fabiasco (Supermercato Carrefour) – Ghirla – Forcorella di Marzio (767 m) – Madonna degli Alpini (~865 m) – Forcorella di Marzio – Colonia – Boarezzo – (Campubella) – Passo dell’Alpe Tedesco (785 m) – Alpe Tedesco – Cavagnano – Cuasso al Monte – Borgnana – Cuasso al Piano – Besano – Bisuschio – Viggiù – Saltrio (564 m) – Clivio – Gaggiolo – Rodero – Uggiate – Trevano
65 km | 1290 Hm
Die Heiligengeschichten setzen sich noch weiter fort. Neben dem Klosterbau mit einem pentagonisch angelegtem Kreuzgang erstaunt eine zwar majestätische, aber doch zu klein geratene Kirche auf einem übermannshohem Mauersockel. Die exponierte Zwergkathedrale erweist sich als ein Nachbau der Mariä-Empfängnis-Basilika in Lourdes, und einer gleichwohl zur Gartenseite angelegten Nachbildung der Lourdesgrotte. Eine Marienerscheinung ist es dann aber nicht, dass die farblosen gotischen Fenster in Doppeletage in changierenden Farben schillern – je nach Standort und Sonnenlichteinfall ein ganz eigenes Mysterium der Lichtbrechungen.
Ungeachtet dem Plagiatsgebäude entfalten weitere Biotope ihren Reiz. Der Lago di Ganna bleibt naturverbunden südlich des Ortes zurück. Länglich zieht sich hingegen der Lago di Ghirla nach Norden als verbindende Seefläche zwischen Ganna und Ghirla. Führt die Straße am Ostufer lang, gefällt dem Pedaleur ein Rad- und Wanderweg am urwüchsigen Westufer. Zum nördlichen Drittel hin ist dann das Seeufer als Strandanlage kultiviert, deren Einrichtungen gerade renoviert werden. Am nunmehr wieder breiteren Fahrweg ist zudem der Camping Trelago angeschlossen. Der alte Bahnhof Ghirla, heute nur noch Busstation, zeugt von besseren Zeiten des Schienenverkehrs. Auch sonst stehen manche der Häuser des Ortes leer. Für Proviant muss ich eine Extraschleife zum gewerblich geschäftigen Cugliate-Fabiasco drehen.
Das Malerdorf Boarezzo der Tradition gewidmet
Deutlich bergiger ist hingegen die Überfahrt von Ghirla über Marzio zum Luganer See. Die Passhöhe am oberen Ortseingang erreiche ich durch Misch- und Buchenwald in großer Stille. Eine Straße und Piste, immer noch ansteigend, führt zu einem Aussichtspunkt bei der Madonna degli Alpini, doch ist das Panorama eingeschränkt auf die Täler jenseits der Seen. Nur wenige hundert Meter die Passauffahrt wieder zurück hinunter, zweigt ein unscheinbares Sträßchen in Richtung Boarezzo ab. Fast möchte man an dem Örtchen inmitten des Kastanien- und Buchenwaldes vom Monte Pioambello vorbeirauschen, doch wäre das eine Schande.
Das beschauliche Boarezzo empfängt den Besucher mit Freskenmalereien auf den Fassaden, die ebenso Blumen und Tiere wie alte Beruf vom Lande darstellen. Wir begegnen hier wieder Mario Alioli, dem 2011 verstorbenen Künstler, der auch für das Radsportfresko in Brinzio verantwortlich zeichnet. Für das Dorf Boarezzo versammelte er 16 Künstler, die Malereien zur Tradition des Ortes zu gestalten. Gewidmet sind die farbenfrohen Werke zwei bedeutenden Bildhauern des 19. Jahrhunderts aus Valganna – Giuseppe Grandi und Odoardo Tabacchi.
Gleich zu Beginn unterstreicht ein Gedicht von Paolo Rattazzi im regionalen Dialekt die besondere Poesie des Dorfes. Der anbei gemalte umgekippte Tragekorb mit einem Rechen steht für eine bäuerlichen Gesellschaft, die vom Aussterben bedroht ist. Der Name Boarezzo soll auf Ochsenkarren anspielen, mit den die aus Arezzo stammenden Erstansiedler im 12. Jahrhundert Holzkohle nach Mailand transportiert haben sollen. So sei aus dem Ausdruck „I buoi di quelli di Arezzo“ (Die Ochsen der Bewohner von Arezzo) das Wort „Boarezzo“ entstanden.
Durch das Paese dei Fossili
Umkurvten die Straßen bisher noch den Parco delle Cinque Vette, führt die Passstraße Alpe Tedesco sodann mittendurch. Die Straße fällt zunächst fast bis nach Valganna wieder ab, ein Abzweig liegt aber noch über der Talsohle mitten im Wald aus Kastanien und Buchen. Eindrückliche Serpentinen schneiden sich in Wald und Felsen, ohne jedoch übermäßig steil zu sein. Hat man unten noch Aussichtsfenster zum Lago di Ganna, schwindet nach oben jegliche Aussicht zur unauffälligen Passhöhe hin. Nur wenig unterhalb öffnet sich das Bergland mit dem Dorf Alpe Tedesco, dessen vielversprechende Trattoria allerdings gerade geschlossen hat.
Im Gefüge der Bergflanke mit teils erodierter roter Erde verwindet sich die Straße wie ein Knoten, sodass ich eine denkbare Abkürzung ganz übersehe. Die Orte fließen schon wegen der Höhenstufen auf nicht erkennbare Weise ineinander, die Ortskerne nur schwer zu erkennen. Aus den Gärten wedeln immer wieder Palmenfächer hervor, die noch nicht immer zur Landschaft passen wollen. Dort fast überbesiedelt für die Steillagen, hier wuchernde Buschhänge, woanders dorniges Ödland oder versteckte Gewässerbiotope. Ich vermeide ablenkende Ausflüge zum Seeufer und setze gleich in der Talebene die Fahrt nach Besano fort, dessen Fossilienmuseum sichtbar in Szene gesetzt über die paläontologischen Funde der Region informiert. Zur Schweizer Seite unweit von Mendrisio wartet ebenfalls ein Fossilienmuseum auf Besucher.
Der Anstieg nach Viggiù täuscht zunächst flach an, um dann doch noch die Waden kräftig zu fordern. Ein Italiener beim Aperitif in einer Gartenterrasse frägt mich, warum ich den Ort besuchen würde. Es ist wohl exotisch hier Touristen zu sehen, zudem noch auf dem Fahrradsattel. Immerhin sind die historischen Bauten im Ort vielfältig, wenn auch manchmal schon etwas verwittert. Dem bedeutenden Bildhauer und Maler Enrico Butti ist ein Museum gewidmet. Man leistet sich ein offenbar ansehnliches Musikfestival mit Opernvorstellungen und Kammermusik. Meine eigentliche Idee war aber, zum Panoramaberg Monte Orsa aufzufahren. Das passt aber zum ganzen Zeithorizont nicht richtig, zumal ich mir nicht sicher über die Wegequalität des Fahrweges bin. So entscheide ich mich über eine schlichte Schleife via Saltrio noch heute die Provinz Varese in Richtung Como zu verlassen. Das endet für mich dann so lala bei einem Spargelrisotto in einer etwas abgehalterten Bar in Uggiate und einem Buschgestrüpp bei Trevano.