ALP-2021-TdS-10
Wechselhafte Ansichten um den Lago di Lugano
Intermezzo zwischen Verkehrshölle und Ziegeleiofen
Zurück auf Seehöhe, erschlägt mich die Sommerhitze zwischen hektischen Verkehrsadern, die in Agno fast im unschweizerischen Chaos kollabieren. Stau, Staub und Lärm verdrängt schnell die gedankliche Romantik des Poeten und Malers. Da lockt gerade recht ein See. Der Lago di Muzzano bildet jedoch nur ein flüchtiges Biotop mit morastigem Seegrund und eignet sich nicht als Badegewässer. So drängend ich Proviant im lauten Agno erwerben und an einer Straßenecke verschlingen muss, so schnell kehrt die Ruhe des Seeufers zurück. Von der sumpfigen Magliasina-Mündung gibt es allerdings keine durchgehende Uferdurchfahrt nach Caslano.
Um den Monte Caslano endet die Seestrecke gleich zweimal, da ein verbindender Weg nach Torrazza nur zu Fuß begehbar ist, der über Treppen führt und zudem für Velos verboten ist. Liegt das östliche Caslano-Ufer schon im Schatten, kann man am von Caslano-Torrazza noch länger die Abendsonne genießen. Die Straße endet hier weit ab vom Trubel an einer Badestelle mit Parkplatz, unweit verfällt der Brandofen einer ehemaligen Ziegelei. Nirgendwo kommen sich am See beide Uferzonen so nahe wie hier gegenüber zum italienischen Ponte Tresa, der See nur noch schmal wie ein Fluss.
Zwischenspiel ohne See zum Monte Ceneri
Elfmeterschießen unterm Wolkenbruch, nicht ohne Malerei
Die Auffahrt nach Croglio beeindruckt in den ersten Kurven mit Ausblick auf den See und das weite Siedlungsgeflecht der immerhin größten Stadt des Tessins. Schnell aber ebbt das Hektische ab, eine gestufte, insgesamt doch eher leichte Auffahrt windet sich durch ein verschwiegenes Hinterland, dessen feuchte Talgründe von der Straße meist ungesehen bleiben. Offene Passagen wechseln mit Mischwald, die Dörfer gefallen mit jeweils eigenen Akzenten bunter Aufmerker. Bereits Curio überrascht mit ein paar bemalten Winkeln und engsten Gassen.
Den Höhepunkt von Murales setzt Novaggio auf seine Fassaden, die einen abwechslungsreichen Galerierundgang erlauben. Novaggio bildet das schweizerische Gegenstück zum italienischen Arcumeggia. Die Malereien unterscheiden sich doch stark in Ausdruck und Motivgebung. Während die Fresken von Novaggio naturgegenständlich mit Anleihen naiver Malerei geprägt sind, streuen die Bilder in Arcumeggia ein größeres Spektrum an sozialkritischen, emotionalen und religiösen Motiven, die bis in eine expressionistische Bildsprache führen.
Da ich die folgende Topografie nicht recht einzuschätzen weiß, tue ich mich mit der Entscheidung zum Etappenende etwas schwer. In Miglieglia sorgt dann schnell ein einsetzendes Gewitter für den erzwungenen Halt. Die Wasserschüttdichte erreicht fast biblische Ausmaße. Alle Besucher des Ristorante Negresco sind völlig unvorbereitet ohne Regenjacken oder sonstigen Schutz zum Fußballabend gekommen. Zumindest die Balltreter der Schweiz können einen ihrer größten Erfolge verbuchen. Sie schlagen Frankreich bei der EM im Elfmeterschießen. Der Jubel ist groß, und doch zittern die ersten Gäste ob des abkühlenden Regens. Kaum einer traut sich die schützenden Dächer zu verlassen, der Wirt muss die Öffnungszeit verlängern. Lange muss ich warten, bis die Sintflut abebbt. Ich fahre in die Nacht, nicht wissend, ob das Gewitter zurückkehrt. Schutz finde ich nicht, aber immerhin eine Kurve mit Wasserfall. Zu Wasser gehört eben noch mehr Wasser.
(Di, 29.6.) Miglieglia – Breno – Vezio – Passo di Arosio/La Penudria (859 m) – Gravesano – Bedano – Taverne – Mezzovico – Rivera – Monte Ceneri (556 m, Piazza Ticino) [– Cadenazzo – Camorino – Bellinzona – Carasso – Gorduno – Preonzo/Moleno – Lodrino – Iragna – Biasca -via Radroute/Valle Leventina – Pollegio – Personico]
78 km | 900 Hm
Eine Piazza für die brüderliche Tessiner Einheit
Auch folgend bleiben die Steigungsspitzen moderat. Mehr und mehr wächst die Straße aus dem Waldschatten heraus, der Blick weitet sich über das Hügelland. Die Passhöhe Arosio gleicht einem kleinen Plateau. So beschaulich die Südanfahrt dahinwandelt, so brachial bricht die Straße nach Gravesano ab. Sogar ein Rennradler zeigt Respekt gegenüber den Gefällkurven ins gewerbeträchtige Tal hinunter. Das Siedlungsband der Lugano-Agglomeration entspannt sich zwar zunehmend Richtung Monte Ceneri, Gewerbeanlagen und Verkehrstrassen von Bahn und Straße prägen aber das Bild bis zum Fuß des kurzen stärkeren Anstiegs. Ein Radweg verläuft mal am Bergbach, windet sich dann aber unpraktisch und nicht immer asphaltiert durch Fabrikgelände und von der Straße weg. So kehre ich zur Straße zurück, die etwas öde und stark aufgeheizt auf gerader, breiter Spur die Passhöhe ansteuert, während er Verkehr weniger prominent ist, als ich ihn erwartet hätte.
Den Monte Ceneri selbst dominieren noch heute militärische Anlagen der Schweizer Armee, die vor allem in Zeiten des Kalten Krieges ausgebaut wurden. Schon für die Römer hatte der Pass eine strategische Bedeutung. Noch heute kann man alternativ zur Straße eine rumpelige Römerstraße zur Magadinoebene mit Mountainbike befahren oder besser bewandern. Zahlreiche Postkutschen wurden in der Geschichte des Passes überfallen, der Schmuggler und Banditen anlockte. Die Rivalitäten zwischen den drei Städten Bellinzona, Lugano und Locarno einer längst nicht immer so friedlichen Schweiz wurden hier einst beigelegt. Stefano Franscini wollte im 19. Jahrhundert sogar eine Concordia erbauen, den neuen Hauptort des Kantons Tessin, der die Spaltung zwischen den drei Städten endgültig überwinden sollte.
Heute steht als Symbol für diese politische Vision der Concordia die Piazza Ticino. Mit ihrer elliptischen Form soll sie die verbrüderte Einheit des Kantons Tessin symbolisieren. Als moderne Monumente dieser Einheit zählen heute die Alpentunnels von Gotthard und Ceneri, die die wichtigsten Städte des Kantons mit dem Norden über die Alpen und ins Ausland verbinden. Das avantgardistische Totem auf der Piazza mit ausgebaggerten Gesteinen des 2020 in Betrieb gestellten Ceneri-Basistunnels repräsentiert dabei die Transitachsen, die seit Jahrhunderten den Monte Ceneri queren. Weitere Bildtafeln berichten von der lebhaften Geschichte des Passes, über den auch historische Auto- und Fahrradrennen führten.
Mit diesem symbolträchtigen Ort beende ich mein Tourenbuch durch den Tessin und die Zweiländerregion der Luganer (Vor)Alpen. Wer die Lesefolge eingehalten hat, ist bereits über die chronologische Fortsetzung im Tessin über ALP-2021-TdS-04 Das Valle Leventina mit Tremolafieber am San Gottardo und den Urner Teilanschluss zum Sustenpass über ALP-2021-TdS-02 Das Wegekreuz Reuss-Rhein im Gotthardmassiv Nord informiert. Gleichwohl erweitere ich den Zeitsprung noch über den ersten Teil des Berner Oberlandes zwischen Susten- und Grimselpass hinaus, um die zweite Region der Südschweiz zu behandeln: das südwestliche Wallis und die dortigen Quelltäler der Rhone – auch eine Zäsur vom italienischen in den deutsch-französischen Sprachraum.